Bücher besser als Bollywood |
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Kiran Nagarkar (1942-2019), im Sommer 2018 in München (Foto: Axel Timo Purr) |
Von Axel Timo Purr
»There is only one God and her name is Life. She is the only one worthy of worship.«
- Kiran Nagarkar, »God‘s Little Soldier«»It was a marvelous sensation to be finally recognized; to be wanted so inistently; to be a celebrity; to be told that Eddie and he could make or break a film.«
- Kiran Nagarkar, »Ravan & Eddie: The Extras«
Dass seine Beziehung zu seinem Heimatland Indien eine höchst ambivalente Beziehung war, eine Beziehung, in der immer auch Distanz eine Rolle spielen sollte, war Kiran Nagarkar wohl schon 1942 in die Wiege gelegt worden. Nicht nur durch einen verarmten, brahmanischen Vater, der die Liebe zur eigenen Kultur – sei es klassische indische Musik und Tanz oder die reiche literarische Tradition Indiens – mit härtesten pädagogischen Methoden weitervermittelte, sondern auch durch eine fast schon ironische Lebensmittelallergie: Nagarkar vertrug keine Linsen. In einem »Linsenland« wie Indien eigentlich völlig undenkbar. Weshalb es wohl auch unzählige Rettungsaktionen seines älteren Bruders brauchte, der den kleinen Kiran wiederholt in die Notaufnahme bringen musste, bis es die erweiterte Familie tatsächlich akzeptierte, dass der Junge sterben kann, wenn er Linsen, in welcher Form auch immer, zu sich nimmt.
Später waren es dann seine Freunde, die er auf der ganzen Welt hatte und regelmäßig besuchte, die ihn immer wieder dem besten Arzt zuführen mussten, um eine der zahlreichen potenziellen gesundheitlichen Gefahren und Allergien in Schach zu halten. Um die kritische Distanz zu seiner Heimat und Kultur kümmerte sich Nagarkar allerdings schon sehr früh selbst.
Wie viele Intellektuelle seiner Generation fing Nagarkar nach seinem Studium an als Lehrer zu arbeiten, verdingte sich kurz danach als Journalist und schuf zusammen mit seinem engen Freund, dem Lyriker Arun Kolatkar, als Drehbuchautor in der Werbeindustrie bahnbrechende Kampagnen. Zeitgleich experimentierten Kolatkar und Nagarkar mit ihren bi-lingualen literarischen Traditionen, um damit wichtige Beiträge im postkolonialen Literaturdiskurs Indiens zu schaffen. Während Kolatkar Marathi-Kultur in englische Gedichte überführte, schrieb Nagarkar in seiner Muttersprache Marathi 1974 mit »Saat Sakkam Trechalis« (dt. »Sieben mal sechs ist 43«) leidenschaftlich und innovativ gegen den literarischen, in englischer Sprache verfassten bildungsbürgerlichen indischen Mainstream an. Sein Theaterstück »Bedtime Story« (1978), zu dem er vor wenigen Jahren ein Drehbuch nachlieferte (»Black Tulip«), war mit Episoden aus dem Mahabharata gespickt und hinterfragte damit so subversiv die politische Gegenwart, dass hinduistische Nationalisten 17 Jahre eine Aufführung verhinderten. Nagarkar zog sich wohl auch wegen dieser aggressiven Anfeindungen, die er auch durch seinen unkonventionellen ersten Roman erfahren musste, ein wenig aus dem politischen Fokus zurück und begann seiner Leidenschaft für Film mehr Raum zu geben. Sein Freund Anil Dharkar stellte ihn Anfang der 1980er Jahre als Filmkritiker in seinem Magazin »Debonair« an und wurde mit scharfzüngigen, wuchtigen Filmkritiken und Essays dafür belohnt.
Nagarkar schrieb weitere Drehbücher und spielte dann auch vor der Kamera in einem der wegen seiner Kritik an Bombays Umgang mit seinen Wasserressourcen, Pädophilie und sexueller Unterdrückung damals umstrittensten Filme New Bollywoods, in Dev Benegals Split Wide Open (1999) auch vor der Kamera eine Rolle, doch war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass er seine Liebe für Bollywood, aber auch das westbengalische Kino eines Satyajit Ray genausogut oder vielleicht sogar besser in Romane fließen lassen konnte.
Romane, die in ihren epischen Historizität, in ihrer ausdrücklichen Musikalität und mit ihren plastischen, flimmernden Liebesgeschichten allesamt großes Bollywood sind, sich aber gleichzeitig auch davon distanzieren, indem sie das inkorporieren, was heute als New Bollywood bezeichnet wird – die schonungslose Einbindung politischer Inhalte und sozialkritischer Elemente, wie etwa in Anurag Kashyaps »Black Friday« (2007), der einer der Lieblingsfilme Nagarkars in den letzten Jahren war.
In seiner Romantrilogie »Ravan & Eddie« (1994-2015) etwa zeigt Nagarkar nicht nur schonungslos die Wohn- und Lebenssituation der unteren Klassen in einem Bombayer Mietshaus und liefert mit dem zweiten Band »Die Statisten« ein opulentes Bild der Bollywood-Industrie der 1970er, sondern fordert mit dem Porträt einer Freundschaft zwischen einem Hindu und einem Christen fast schon verzweifelt – wenn auch immer humorvoll – dazu auf, doch das Indien anzuerkennen, das im Zuge eines zunehmenden hinduistischen Nationalismus am Verschwinden ist – das der friedlich nebeneinander koexistierenden Religionen.
Dezidierter hatte Nagarkar diese Problematik bereits in seinem mit dem renommiertesten indischen Literaturpreis ausgezeichneten, wunderbaren Roman »Cuckold« (1997, dt. »Krishnas Schatten«) angedeutet, in dem er u.a. auf die reiche islamische Tradition des indischen Kulturraums verwies und ähnlich wie in seinem Stück »Bedtime Story« die Geschichte zum Spiegel der Gegenwart transformierte. Doch das reichte ihm schon bald nicht mehr. In seinem dichten, luziden Terrorismusroman »God’s Little Soldier« (2006, dt. Gottes kleiner Krieger), den er schon in den 1990ern konzipiert hatte, stürzt sich Nagarkar auf die Gegenwart des religiösen Extremismus und ihrer biografischen Essenzen, bindet aber gleichzeitig, unscheinbar und zart, die Beziehung zu seinem älteren Bruder mit ein.
Aber auch die neben den politischen, zunehmenden ökologischen Katastrophen und Diskrepanzen zwischen Stadt und Land, Mann und Frau im indischen Alltag, ließen Nagarkar nicht ruhen. Er setzte sich offiziell für den öffentlichen Verkehr in Mumbai ein (das für ihn stets das noch nicht von Nationalisten vereinnahmte Bombay blieb), prangerte die rücksichtslose Wasserpolitik Bombays an und schuf in seinem vorletzten Roman »Jasoda« (2018) einen Frauencharakter, der nicht nur vom Leid der Frauen in Indien erzählt, sondern auch von einem völlig verwundeten Land.
Gerade auch wegen seines steten literarischen Einsatzes für starke, unabhängige indische Frauen erschütterten ihn die Anschuldigungen von drei indischen Journalistinnen wegen sexuell ungebührlichen Verhalten, die im Furor der indischen #MeToo-Bewegung artikuliert wurden, umso mehr.
Bei seinem letzten Besuch in München 2018 waren ihm seine wunderbare Ironie und sein komplexer Humor, der bei aller harschen Kritik an Indien und seinen Verfehlungen nie ausblieb, nur noch in Ansätzen präsent. Er suchte verzweifelt einen neuen deutschen Verleger, nachdem der A1-Verlag, der seine Bücher bis dahin in grandiosen Übersetzungen dem deutschen Kulturraum vermittelt hatte, den Betrieb eingestellt hatte.
Die Zeiten, da er mit uns lachend, verängstigt und waghalsig zugleich zum ersten Mal nach 50 Jahren wieder auf einem Fahrrad fuhr, statt wie in seinen Studienzeiten in Pune an der Mula entlang, nun als anerkannter Schriftsteller in München die Isar hinabradelte und sich dabei fast den Hals brach; die Zeiten, da er uns wütend zurechtwies, weil wir einen paternalistischen, völlig verfehlten Film wie Slumdog Millionaire genossen hatten, sich aber über einen gemeinsamen Abend mit Michael Ciminos Deer Hunter und Heaven’s Gate genauso leidenschaftlich freuen konnte oder die mit triefender Selbstironie vorgebrachte Bitte, mal wieder ein paar
Gegenstände zurücklassen zu dürfen, einen mit Kleidung gefüllten Koffer etwa; und dann seine Leidenschaft für schöne Kurtas oder für das legendäre Restaurant Brittania and Co. von Boman Kohinoor, und dessen nur zur Mittagszeit angebotenen Berberitzen-Pilaus – all
das schien vorbei und kaum mehr relevant. Nur Kinder konnten ihn noch begeistern, das Lachen abringen, was ihm mehr und mehr im Halse stecken blieb.
Vielleicht auch, weil er ahnte, dass ihm das, was er seinen Helden Ravan und Eddie in ihr fiktives Leben schrieb, nämlich die Anerkennung und der tiefe Wunsch, etwas ändern zu können – in seinem Fall an der beängstigenden sozio-politischen Lage Indiens – am Ende verwehrt bleiben sollte.