Kanada/Großbritannien 2012 · 146 min. · FSK: ab 12 Regie: Deepa Mehta Drehbuch: Salman Rushdie Kamera: Giles Nuttgens Darsteller: Satya Bhabba, Shahana Goswami, Rajat Kapoor, Shabana Azmi, Seema Biswas u.a. |
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Viel Drama, wenig Gefühl |
»Familiengeschichte hat natürlich ihre eigenen rituellen Diätvorschriften. Es wird von einem erwartet, daß man nur die erlaubten Teile, die Halalportionen der Vergangenheit, denen ihre Röte, ihr Blut entzogen ist, herunterschluckt und verdaut. Leider macht das Geschichten weniger saftig, daher bin ich im Begriff, das erste und einzige Mitglied meiner Familie zu werden, das die Gesetze des Halal verhöhnt. Ohne Blut aus dem Körper der Erzählung rinnen zu lassen, komme ich zum unaussprechlichen Teil und dränge vorwärts.«
(Salman Rushdie, Mitternachtskinder)
Salman Rushdis »Mitternachtskinder« galt lange Zeit als unverfilmbar. Nicht nur der von Rushdie extensiv angewandte »magische Realismus«, auch eine Geschichte, die sich, äußerst verschachtelt erzählt, über fast 60 Jahre erstreckt und sowohl Lebenslinien als auch die politische Geschichte eines Landes erzählt, ist trotz Rushdies immer wieder spielerisch eingestreuten Filmregieanweisungen fast zu viel des Guten für eine filmische Umsetzung. »Mitternachtskinder« ist Rushdies große Liebeserklärung an Indien und sein wohl erfolgreichster Roman, der nicht nur nach seinem Erscheinen mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, sondern sowohl 1993 als auch 2008 mit dem Booker der Booker-Preise geehrt wurde und zu den großen Romanen des 20. Jahrhunderts gezählt wird.
Als bekannt wurde, dass der Filmstoff nach fast 30-jähriger Reifung nicht in Hollywood-Händen, sondern zumindest im künstlerischen Bereich in indischen verbleiben würde, atmeten viele auf. Mehr noch, als die Regisseurin Deepa Mehta – bekannt durch ihre Elemente-Trilogie – Fire (1996), Earth (1998), Water (2005) – Salman Rushdie selbst überzeugen konnte, das Drehbuch zu schreiben.
Das Ergebnis ist weniger eindeutig als die damit einhergehenden Erwartungshaltungen, die sich – wie bei den meisten Literaturverfilmungen – keinesfalls an den Roman anlehnen sollten. Einen knapp 500 Seiten langen Roman auf knapp zweieinhalb Filmstunden zu kondensieren ist ein Ding der Unmöglichkeit, mehr noch bei dem Spektrum, das Rushdi in »Mitternachtskinder« abdeckt. Aber Rushdie und Mehta gelingt dafür zumindest etwas anderes: Sie wecken selbst für völlig in der Kolonial- und späteren Geschichte Indiens Unbelesene ein Grundinteresse für das Sujet und zumindest eine Ahnung davon, warum es zu so etwas wie den von Pakistan 2008 orchestrierten Anschlägen auf das Taj Mahal in Mumbai hat kommen können. Ein Attentat, das eben nicht nur ein weiterer Anschlag islamistischer Fundamentalisten war, sondern mit sehr anderen als den gemeinhin westlichen Erklärungsstereotypen und -Geschichten verwoben ist.
Diese »anderen« Geschichten erzählen Mehta und Rushdie anhand »der um Schlag Mitternacht« am 15. August 1947 geborenen Kinder Saleem und Shiva, die mit diesem Datum gleichzeitig in die indische Unabhängigkeit hineingeboren werden. Das der eine von reichen, der andere von armen Eltern abstammt erhält durch die Tatsache einer mutwilligen Vertauschung der Kinder eine dramatische Wendung. Eingebettet in kurze Rückblicke, die bis zu Saleems Großeltern reichen, erzählen Mehta und Rusdie in z.T irrwitzig kurzen Sentenzen 60 Jahren Familien- und Staatsgeschichte, die immer wieder auch die Geschichte von Reich und Arm ist. Aber Mehta scheint den filmischen Schnappschussgemälden ihres in die Stern- und Höllenmomente indischer Geschichte eingebetteten Personals nicht recht zu trauen. Fast jeder Moment wird mit einem bisweilen kaum zu ertragenden folkloristischen Soundtrack unterlegt, der statt zu lindern, das grundsätzliche Dilemma von Mitternachtskinder verstärkt. Das Gefühle erzeugt werden sollen, wo keine sind. Und noch schlimmer.
Doch statt meiner möchte ich an dieser Stelle den indischen Filmkritiker, leidenschaftlichen Bollywood-Fan und Schriftsteller Kiran Nagarkar zu Wort kommen lassen, dem ich nach meinem perplexen Ersteindruck des Films um eine Stellungsnahme gebeten habe:
»I had gone to the film version of Midnight’s Children telling myself over and over again that I must not let my latter-day antipathy to Salman Rushdie play spoil-sport and must be utterly fair to the film.«
Unfortunately it was far more disappointing than I could have imagined. I must of course read the book again but if my vague recollection of it is even remotely reliable, then Rushdie was able to carry the plot and the story by the force of his language and his ability to conjure up a whirlwind of enchanting fantasy and realism. The magic realism worked because the words, pyrotechnics and images have terrific flair and carry you through. In the movie, what you get is the skeleton of the story, what one calls the plot line minus the high-jinx of the style and verve. What that amounts to is so contrived and forced that as a viewer it left me disengaged from what was going on. It just seemed too calculated and you could see through the artifice of the schematics. Every move had been worked through for its symbolic significance or metaphors for the birth-pangs of the subcontinent and the optimism that came in the wake of winning independence and the rapid decline of both Pakistan and India.
What hit me all over again was my main charge against Rushdie. His characters are puppets and they leave you cold. They have no volition. At no point did one feel for them or feel involved in their destinies and fate. Imagine so many characters and one did not feel sympathy for a single one of them. If you have not read the book I suspect the disjunctions and disjointedness will make no sense. Many scenes leave one perplexed as to why they are there.
Add to all this most of the casting was stupefyingly wrong or pallid and without any conviction. Incidentally what was that Indian version of the 'twist' song doing in this film, and that too twice?
»Long years ago, we made a tryst with destiny... at the stroke of the midnight-hour, when the world sleeps, India will awake to life and freedom....« – es war eine Jahrhundertrede, die der frischgebackene indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru (1889-1964) am Vorabend des 15. August 1947 hielt. »Schlag Mitternacht, wenn die Welt schläft«, rief Nehru aus, werde Indien erwachen, nach Jahrhunderten der Knechtschaft zu einem Leben in Freiheit... Die Babys, die in dieser
Nacht geboren wurden, nennt man in Indien die »Mitternachtskinder«.
Sie sind, wie keine andere Generation vorher und nachher beladen mit den Hoffnungen der Unabhängigkeit, den erfüllten wie den unerfüllten, für die größte Demokratie der Welt: »We were the promises of independence. Born at Midnight. Once upon a time.«
Saleem ist so ein Mitternachtskind: »At the precise instant of India’s arrival of independence, at the stroke of midnight, I tumbled forth into the world.« Auch sein Schöpfer, der indisch-britische Romanautor Salman Rushdie wäre fast eines geworden, nur um gut drei Wochen kam der am 19. Juni 1947 Geborene dem Jahrhunderttermin zuvor, doch er teilt die Erfahrungen seiner Hauptfigur in dem vor über 30 Jahren veröffentlichten Roman »Midnight’s Children«/»Mitternachtskinder«, auf die dieser Film zurückgeht, und der als der nach wie vor beste und wichtigste Roman des des »Satanische Verse«-Autors Rushdie gilt als sein eigentliches Großwerk: Es ist ein monumentales Epos, das uns zwei Dutzend Figuren näher vorstellt, zeitlich in Indiens Geschichte bis zum Jahrhundertbeginn zurückschreitet, und die Jugendzeit von Saleems Großeltern mütterlicherseits erzählt, dann von seinen Eltern und schließlich ihm selbst bis in die frühen 80er Jahre. Und räumlich umspannt sie den ganzen indischen Subkontinent, erzählt also auch von Pakistan, der moslemischen Abspaltung des Kolonialgebiets, von dem sich dann wieder, in einem kurzen blutigen Krieg 1971 Bangladesch trennte. Gesellschafts- und Politikgeschichte wird hier also verwoben mit Familienschicksal und persönlicher Biographie des Ich-Erzählers.
Zusammengehalten wird alles von der Kraft des Phantasie, von einer Haltung, die man im Kino wie in der Literatur »magischen Realismus« nennt. Denn Saleem driftet schon bald in Tagträume ab, und kann in dieser Traumwelt dann mit der Kraft seiner Phantasie auch all die anderen, hunderte von Mitternachtskindern treffen – und sich in Buch wie Film mit ihnen unterhalten: »Saleem, Saleem we are like you.« – »How can I hear you all?« – »Saleem has the greatest gift of all. He is the only one, who can bring us all together.«
Der zweite Clou der Geschichte und der zweite Sinn des Titels ist, dass Saleem genetisch gar nicht der Junge aus den wohlhabenden moslemischen Verhältnissen ist, in denen er aufwächst. Er wurde vielmehr in der Stunde seiner Geburt mit dem heute bitterarmen Hindujungen Shiva vertauscht. Von der Krankenschwester Mary, die für einen Augenblick Schicksal spielen wollte. In der Mitternacht der Unabhängigkeitsstunde erlebt sie ihren höchstpersönlichen »Tryst with destiny«. So erzählt es der Icherzähler Saleem: »Mary knew, she was condamning the rich born boy to a life of poverty. Let the rich be poor and the poor be rich!«
Regisseurin Deepa Mehta ist mit durchaus gewagten Werken berühmt geworden, die sich Tabuthemen in der indischen Gesellschaft annehmen. Doch man kann sie nur zum Teil überhaupt als eine indische Filmemacherin ansehen. Seit 40 Jahren lebt sie in Kanada und arbeitet unter anderem auch für das amerikanische Fernsehen. Das merkt man ihrem Film stellenweise an: Alles hat hier etwas von einer auf Kinoformat aufgeblasenen Telenovela, der die historischen Großereignisse eher als kunterbunte Hintergrundkulisse dienen, die Filmemacher aber nicht wirklich interessieren. So wird Nehrus Tochter Indira Ghandi als Premierministerin zu einer hexenähnlichen bösen Schicksalsgöttin der indischen Geschichte – dies ist eine Sicht auf die Vergangenheit, die man auch nicht als produktive Provokation rechtfertigen kann, sondern die einfach nur albern ist.
An dieser Albernheit trägt aber Romanautor Salman Ruschdie gehörige Mitschuld. Denn er ist nicht nur natürlich für die Romanhandlung verantwortlich, er hat diese auch für den Film in Drehbuchform gebracht und dafür in mancher Hinsicht deutlich bearbeitet, gekürzt, und gerade das beseitigt und gestrichen, was an der Vorlage charmantes Chaos war.
Mitternachtskinder ist somit eine kleine Enttäuschung: Ein gefälliger in der Machart sehr verwestlicher Blick auf Indien, ein Film, der nicht stört, nicht weiter anstößig ist, aber auch nicht wirklich fesselt. Man kann sich hier anregen lassen, sich einmal genauer mit indischer Geschichte zu beschäftigen. Aber das wäre dann schon das beste, was sich über Mitternachtskinder sagen lässt.