11.11.2019

Die Konferenz der Filme

Zustand und Gelände
Zustand und Glände geht der zersplitterten deutschen Geschichte nach

Die 43. Duisburger Filmwoche zeigte ein konzentriertes Programm mit Filmen über Identität, Politik und Prozesse

Von Dunja Bialas

Kopf­steine, Platten, Risse im Asphalt, Frauen mit Einkaufs­ta­schen, ein Gitar­ren­bauer erklärt sein Handwerk, bunt ange­zo­gene Kinder, ein skep­ti­scher Blick in die Kamera, die Lehrerin spricht über »Länder und Bräuche«, die Kinder beugen sich über die Hefte, eines hält einen Bleistift in der Hand, auf dem ist das Logo der CDU zu sehen. Wahl­ka­binen, eine Urne mit Stimm­zet­teln wird ausge­schüttet, Namen von Parteien, die man seit dreißig Jahren nicht mehr gehört hat. Peter Braatz alias Harry Rag, ein Künst­ler­name, unter dem er in den 1970er Jahren mit der Punkband S.Y.P.H. bekannt wurde, hat diese Bilder-Symphonie aus Straßen­pflaster, flüch­tigen Begeg­nungen, konzen­trierten Besuchen und demo­gra­fi­schen Bestands­auf­nahmen 1990 auf einem Roadmovie durch die verei­ni­gungs­wil­lige DDR gemacht, es waren die Wochen vor den ersten Wahlen. Heraus­ge­kommen ist die expe­ri­men­tell-impres­sio­nis­ti­sche Bestands­auf­nahme eines damals – aus west­deut­scher Perspek­tive – unbe­kannten Landes, eine vorsich­tige Annähe­rung, die viele Brüche, Leer­stellen und Fragen zulässt. DDR – Ohne Titel nannte Harry Rag seinen Film.

Die Duis­burger Filmwoche beendete am vergan­genen Sonntag ihre 43. Ausgabe mit der Erin­ne­rung an den letztes Jahr verstor­benen Werner Dütsch, der bis 2010 der Duis­burger Film-Auswahl­kom­mis­sion angehörte. Davor war Dütsch Film­re­dak­teur des West­deut­schen Rundfunks gewesen, und er hatte Harry Rag eine Carte Blanche erteilt, die DDR im Umbruch zu filmen. Das Vertrauen des Redak­teurs in den debü­tie­renden Filme­ma­cher ist erstaun­lich, das Ergebnis ist ein ästhe­ti­scher und epis­te­mo­lo­gi­scher Befrei­ungs­schlag gegenüber all den TV-Repor­tagen, die die DDR erklären wollten.

Werner Ružicka, bis letztes Jahr Leiter der Duis­burger Filmwoche, präsen­tiert den Film, und wie zufällig streift er durch seine Wahl das offi­zi­elle Erin­ne­rungs­pro­gramm »30 Jahre Mauerfall«, das an diesem Woche­n­ende überall im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen abge­halten wird. Die Duis­burger Position zu diesem Thema ist fraglos eine andere. Hier begibt man sich über die filmische Form zum Inhalt.

Die DDR als Tripty­chon

DDR – Ohne Titel ist der Center­fold, der sich zwischen zwei im Haupt­pro­gramm gezeigte deutsch-deutsche Erin­ne­rungs­filme schiebt. Thomas Heise spannt in seinem epochalen Heimat ist ein Raum aus Zeit den Bogen über ein Jahr­hun­dert Fami­li­en­ge­schichte, beginnend bei der Wiener Groß­mutter 1912 über das kultu­relle Leben in Ostberlin bis zum Tod der Mutter 2014. Begleitet wird dieses Reise in der Zeit durch den soghaften Wortfluss Heises aus dem Off, der die Chronik erzählt, manchmal ordnet, sortiert, dann wieder loslässt und sich dem freien Gedan­ken­strom hingibt. Dazu Bilder in Schwarz­weiß, über­wie­gend heute aufge­nommen, von Fahrten, Zügen, aufge­las­senen Fabriken, Gestrüpp, ehemals DDR.

Ute Adamc­zewski hat mit Zustand und Gelände das Gegen­s­tück zu Heise geschaffen. Ästhe­tisch sind die Filme verwandt, nicht zuletzt durch die (hier farbigen) Bilder des in beiden Filmen wirkenden Kame­ra­manns Stefan Neuberger. Auch thema­tisch befinden sie sich in einer Echo­kammer. Zustand und Gelände unter­sucht die Über­schrei­bungen der Historie durch die Weiter­nut­zung und Umwidmung von Lager­ge­bäuden, die kurz nach der Macht­er­grei­fung Hitlers 1933 in Sachsen entstanden. In ihnen wurden Kommu­nisten, Sozia­listen und andere, meist dem Arbei­ter­mi­lieu entstam­mende Dissi­denten inhaf­tiert. Anders als die späteren großen Konzen­tra­ti­ons­lager, die heute als Gedenk­s­tätten die Erin­ne­rung wach­halten, wurden diese frühen Lager als Kasernen, Fabrik­hallen, sogar als Gast­stätten nach dem Krieg weiter­ge­nutzt. Eine Geschichts­ver­ges­sen­heit der anti­fa­schis­ti­schen DDR, die die offi­zi­ellen Mahnmale auf den Dorf­plätzen kaum auffangen konnten. Deren Rückbau wurde nach der Wieder­ver­ei­ni­gung massiv betrieben, das (anti­fa­schis­ti­sche) Kind mit dem (sozia­lis­ti­schen) Bade ausge­schüttet. Adamc­zew­skis Spuren­suche bewegt sich entlang amtlicher Dokumente, Regis­ter­ein­tra­gungen und anderer Zeug­nissen, die aus dem Off verlesen werden, während die Bilder die kaum noch sicht­baren Orte suchen. Auch Zustand und Gelände kann nicht erklären, warum die poli­ti­sche Rechte in den ostdeut­schen Bundes­län­dern nach der Wieder­ver­ei­ni­gung so schnell stark wurde, gibt aber eine Ahnung über mögliche Ursachen. Der Film wurde soeben auf dem Doku­men­tar­film­fes­tival Leipzig mit der Goldenen Taube ausge­zeichnet.

Reden über Film

Gudrun Sommer und Christian Koch, die neuen Leiter der Duis­burger Filmwoche, sind auch in ihrem ersten Jahr dem von Werner Ružicka instal­lierten Prinzip treu geblieben, die bemer­kens­werten deutsch­spra­chigen Doku­men­tar­filme des Jahres in einem konzen­trierten Programm zu versam­meln, unab­hängig von einer bereits erfolgten Kino- oder TV-Auswer­tung. Denn mit den Filmen ist erst die Hälfte des Programms bestritten. Merkmal der Duis­burger Filmwoche sind ausge­dehnte Film­ge­spräche, die proto­kol­liert werden und unter protokult.de nach­zu­lesen sind.

Zum Duis­burger Ritual gehört es, sich geschlossen nach der Vorfüh­rung in den Diskus­si­ons­raum zu begeben, und nach den Diskus­sionen geschlossen in den Kinosaal zurück­zu­kehren, eine pendelnde Wander­be­we­gung des Publikums, die mit großer Ernst­haf­tig­keit vollzogen wird. Garan­tiert wird dies durch den Verzicht des Festivals auf Paral­lel­ver­an­stal­tungen und die Tatsache, dass sich das Publikum über­wie­gend aus Fach­leuten zusam­men­setzt. Die Bereit­schaft zur inten­siven Ausein­an­der­set­zung mit den Filmen ist entspre­chend hoch.

Die Diskus­sionen zu den Filmen ist der Nimbus von Duisburg. Wer dieses Jahr auf die Filmwoche kam, fand ein leicht verän­dertes Diskus­si­ons­dis­po­sitiv vor. Anstatt mühelos zwischen dem Filmforum – dem ältesten kommu­nalen Kino Deutsch­lands – und dem Diskus­si­ons­saal in der benach­barten Gast­stätte »Gram­ma­tikoff« hin- und herzu­pen­deln, musste man – zum Verdruss der Festival-Stamm­gäste – über den Platz in den Saal des »Bunds der Deutschen katho­li­schen Jugend« pilgern – einem unge­müt­li­chen, ja, protes­tan­tisch anmu­tenden Ort. Ein Podium mit Konfe­renz­mi­kro­fonen war aufgebaut wie bei staats­tra­genden Pres­se­kon­fe­renzen. Eine auch körper­lich steife Antithese zu einer Gesprächs­runde, unkom­mu­ni­kativ für die Panelisten, die sich im Neun­zig­grad­winkel vom Publikum abwenden mussten, um unter­ein­ander besser sprechen zu können. Das ergab bisweilen ein ener­gie­loses Zwie­ge­spräch, von dem kein Funken auf die Zuhö­renden über­sprang.

Zersplit­terte Wahrheit

Es ging aber auch anders. Die vitalen Gesprächs­prot­ago­nist*innen Pia Hellen­thal, Regis­seurin von Searching Eva, und ihre Cutterin Yana Höhner­bach strahlten eine große Lust am Podium und Publikum aus. So ergab sich eine lebendige, an den Kern des Films heran­rei­chende Diskus­sion, als Moderator Alejandro Bachmann die Frage nach dem Authen­ti­schen der Figur stellte und den doku­men­ta­ri­schen Wahr­heits­an­spruch ins Feld führte, den der Film nicht einge­halten hätte. Cutterin Yana Höhner­bach rollte gequält die Augen – was dem Moderator aufgrund der Sitz­ord­nung leider entging. Zumindest aber war das Meta-Thema des Films gesetzt. Hellenthals Film kreist um die Italie­nierin Eva Collé, eine wahlweise cleane oder drogen­ab­hän­gige Bloggerin und gender­be­freite Sexar­bei­terin, die sich immer wieder neu erfindet. Hellen­thal hat die Zersplit­te­rung der Eva in einem frag­men­ta­risch-kalei­do­sko­pi­schen Film-Feuerwerk umgesetzt, wo jede Szene eine neue Facette der Prot­ago­nistin eröffnet, ohne jemals zum Abschluss zu führen. Weder macht die Figur Fort­schritte, noch tappt der Film in die Falle der thera­peu­ti­schen Sitzung, was bei problem­be­la­denen Figuren im Doku­men­tar­film bisweilen passiert – eine Backstory Wound deutet sich höchstens an. Wir begegnen Eva als starke Persön­lich­keit, so stark, dass die Frage aufkam, ob sie nicht als Co-Regis­seurin gewirkt hätte. Der ordnende Eingriff in der Post­pro­duk­tion, wo der Film seine Gestalt erst annahm, wurde als Gegen­be­weis angeführt. Aus den vielen gedrehten Szenen und stati­schen Tableaux, in denen Eva für die Kamera posiert, als wäre sie die Verlän­ge­rung ihres Instagram-Accounts, ergibt sich so ein offenes, bewusst frag­men­ta­risch gehal­tenes Portrait nicht von Eva, sondern von einer viele Grenzen über­schrei­tenden »Existenz«, wie Hellen­thal betonte. In der Tat: Auf über­mo­derne Weise erfindet sich Eva immer wieder neu. Kate­go­rien spielen hier keine Rolle und schon gar nicht die der »Wahrheit« über ihre Person.

Meine Oma, meine Mama und ich: Filme über sich selbst

Inter­es­santer als die Frage nach der Wahrheit des Doku­men­tar­films, die James Benning einmal mit »all docu­men­ta­ries are lies« beant­wortet hat, ist die Frage nach Nähe oder Distanz im Doku­men­tar­film. Zwei Filme über Produk­ti­ons­ab­läufe machten hier den Unter­schied deutlich. Laura Coppens Taste of Hope ist ein glatt herun­ter­ge­filmtes, alle Regeln der Kino-Doku­men­tar­film­kunst (aufse­hen­er­re­gende Kamera, Inter­views, Darstel­lung von Prozessen und Zusam­men­hängen) beher­zi­gendes und dennoch ober­fläch­lich wirkendes Portrait einer fran­zö­si­schen Tee-Koope­ra­tive. Das nicht immer frei vom Verdacht ist, sich auch als Imagefilm für die Firma zu eignen. Joachim Iseni dringt in Fleisch­wo­chen, in dem er die Tier­schlach­tung und Wurst­pro­duk­tion in einem von Armut bedrohten bäuer­li­chen Fami­li­en­be­trieb durch teil­neh­mende Beob­ach­tung doku­men­tiert, im wahrsten Sinne bis zu den Einge­weiden des Gesche­hens vor. Aller­dings ist er persön­lich in das Sujet invol­viert: die Portrai­tierten sind seine eigene Familie, er ist der Enkel der matri­ar­chalen Groß­mutter, die sich starr­köpfig weigert, den Betrieb an die Tochter weiter­zu­geben.

Der persön­liche Bezug der Filme­ma­cher*innen zum Gegen­stand war ein roter Faden des gesamten Programms. Eine weitere reale Groß­mutter tauchte in Stéphane Riet­hau­sers filmi­schem Coming-Out Madame auf. Die Frau, die in Una Primavera häus­li­cher Gewalt ausge­setzt ist und die Scheidung einreicht, ist die reale Mutter der Filme­ma­cherin Valentina Primavera, die die Balance zwischen emotio­naler Nähe und objek­ti­vie­rendem Film gerade noch halten kann. Proble­ma­ti­scher, wenn die Filme­ma­cherin auch die Prot­ago­nistin ist. Katrin Schlösser hat das Leben mit ihrem Mann – zumindest dem Titel nach – auf Ingmar Bergman'sches Niveau gehoben und erzählt in Szenen meiner Ehe – von ihrem Eheleben. Da ist viel Fake und Fallhöhe vorge­geben, und das Projekt war für das Paar hoffent­lich gewinn­brin­gend – ob es aber auf die Leinwand drängen sollte, ist mindes­tens Geschmacks­sache.

Das Festival der Paratexte

Duisburg verdichtet und ermö­g­licht Vergleiche. Wo woanders die Filme durch einen hindurch­rau­schen, man nach dem Festi­val­be­such mühsam das Gesehene erinnert und nach­trä­g­lich einsor­tiert, ist bereits der Besuch der Filmwoche Teil eines Prozesses, in dem Paratexte zu Filmen entstehen. Aus Filmen werden Worte, die Worte führen zu anderen Worten und zu Meta-Worten, die Diskus­sionen zu Diskus­sionen der Diskus­sionen, und aus den konkreten Themen formieren sich so abstrak­tere Diskurs­ein­heiten und Ideen. Wenn am Ende aus den Filmen Text geworden ist, dann, um diesen weiter­zu­spinnen.