Ein freiwilliger Emigrant |
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Thomas Elsaesser (1943-2019), 2017 (Foto: Vera de Kok – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, Link) |
Charmant, aber distanziert, äußerlich von ironischer Zurückhaltung und altmodisch-konservativem, im klassischen Sinn »bürgerlichen« Habitus, sah man Thomas Elsaesser die Lust am Provokativen und die Radikalität seiner wissenschaftlichen Positionen nicht auf den ersten Blick an.
Wenn man ihn besser kennen lernte, entdeckte man bald das grundsätzlich Warmherzige seines Wesens, aber auch Verletzlichkeit. Elsaesser hatte viele Bekannte, aber er konnte auch einsam
sein, darum tat ihm Aufmerksamkeit gut, das Gefühl, dass sein Gegenüber wusste, wen es vor sich hatte; darum war er andererseits fast immer zugänglich und an Gesprächen auch mit unbekannten Studenten interessiert – ein Solitär, der ständig auf Reisen schien, zwischen den Kontinenten, persönlich so ruhelos wie geistig, immer im Kino wie in den Gedankenspielen dem Experimentellen zugeneigt.
Dass Thomas Elsaesser 76-jährig nun ausgerechnet in Peking starb, nur Stunden nach einem Vortrag, den er im Rahmen seiner dortigen Gastprofessur gehalten hatte, und nur wenige Tage, nachdem er in Frankfurt in der Aula der Städelschule eine Tagung zur »Filmtheorie in Frankreich und Europa nach 1968« mit einer Keynote eröffnet hatte, passt zu diesem faszinierend unruhigen Intellektuellen, der nicht zu jenen gehörte, die an einmal Gedachtem für immer festhielten. Elsaesser stellte auch eigene Ideen gern immer wieder infrage.
Deutschland schien wohl schon früh zu klein für ihn, obwohl Elsaesser immer wieder auf das Land seiner Herkunft zurückkam. 1943 in Berlin-Charlottenburg geboren, zog die Familie bald aufs Land nach Oberfranken. Seit 1951 wuchs Elsaesser in Mannheim auf, woher sein Deutsch eine weiche kurpfälzische Färbung hatte. Nach ein paar Semestern in Heidelberg, begann er in England zu studieren, später in Paris und lebte seitdem nie wieder länger in Deutschland. Obwohl er zunächst über die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution promovierte, hatte es ihm schon früh das Kino angetan: Die Anfang der 1960er erstmals als Buch veröffentlichten Film-Aufsätze Siegfried Kracauers seien sein erstes Filmbuch gewesen, erzählte er vor ein paar Jahren – und trotz zwischenzeitlicher Distanz zu dessen geschichtsphilosophischem Idealismus ist Elsaesser Kracauers Grundansatz, das Kino auf die Gesellschaft seiner Entstehungszeit zu beziehen, und als »Spiegel« oder »Seismograph« in Wechselwirkung mit den Verhältnisse zu analysieren, treu geblieben.
Und wie Kracauer belegt auch die Biographie Elsaessers, dass man über das deutsche Kino offenbar am besten aus der Fremde schreiben kann, dass Ferne und Distanz offenbar den Blick auf den Gegenstand schärfen. Auch wenn die Emigration Elsaessers, der im Gegensatz zu Kracauer und den meisten deutschen Film-Emigranten eine freiwillig gewählte war, hatten es ihm vor allem zu Beginn seiner Laufbahn die Emigranten und Außenseiter des deutschen Kinos besonders angetan: Eine wichtige Studie zu Douglas Sirk und dem amerikanischen Melodram der 1950er Jahre legte 1973 den Grundstein für Elsaessers Karriere. Seit 1972 lehrte er an der University of East Anglia in Norwich und entwickelte an diesem weniger traditionsverhafteten, innovativen Ort das damals neue Fach der Filmwissenschaft aus der Literaturwissenschaft – gemeinsam mit einem anderen deutschen Emigranten, dem Schriftsteller W.G.Sebald. Seit 1991 lehrte der Weltbürger Elsaesser in Amsterdam, hinzu kamen jährlich Gastprofessuren in den USA, aber auch in Indien oder der Türkei.
Im Rückblick erscheint Elsaesser als einer der Begründer der akademischen Filmwissenschaft, mindestens im deutschen Sprachraum. In diesen Amsterdamer Jahren zwischen 1990 und 2010 entstanden ein wichtiges Buch über Fassbinder, eine Arbeit zu Hollywood, Studien zu Kluge und Farocki, doch zunehmend richtete Elsaesser seinen Blick auf die frühe deutsche Filmgeschichte: Zwei Bände zur »Archäologie« des Kino vor 1918, einer zu Fritz Langs Metropolis doch vor allem seine große Studie »Das Weimarer Kino: Aufgeklärt und doppelbödig« (1999). Hier argumentiert Elsaesser dialektisch mit und gegen Kracauer, und zeigt exemplarisch, worum es ihm ging: Das Kino aus der Autorentheorie zu lösen, die lineare Geschichtsschreibung aufzubrechen, Vernetzungen herauszuarbeiten, und einen Film aus dem widersprüchlichen Netzwerk von Produktionsbedingungen abzuleiten.
Im letzten Jahrzehnt wandte sich Elsaesser der Geschichte seiner Familie zum, besonders dem Werk des Architekten Martin Elsaesser, seines Großvaters. Gemeinsam mit seinem Cousin und seiner Schwester begründete er die Martin Elsaesser-Stiftung.
In öffentlichen Wortmeldungen analysierte Elsaesser auch die Produktionsbedingungen der Gegenwart: Nach wie vor gültig erscheint etwa das Wort vom »Kaspar Hauser Syndrom« des deutschen Films, mit dem er die Tatsache beschrieb, wie sich die verzwickten, bewusst provinziellen, mittelständischen Produktionsbedingungen des deutschen Films in dessen Ästhetik spiegeln. Dem und den permanenten deutschen Klageliedern über US-Studios hielt Elsaesser damals die »Kulturleistung« Hollywoods entgegen, die »vergleichbar nur mit den Pyramiden« Technik immer wieder zu wahrer Kunst führten.
Eine weitere Provokation war Elsaessers Ernstnehmen der Medienbilder der RAF. Der Frage, wie es komme, dass uns auch nach so vielen Jahrzehnten diese ungebrochen fasziniere, hielt er den erschreckenden Gedanken entgegen, ob sich die RAF-Mitglieder nicht womöglich selbst als Künstler verstanden hätten: »Vielleicht hat die RAF versucht, eine andere Art von Kunst zu erzeugen: nicht spektakulär, sondern konzeptuell, indem sie tiefere, unversöhnliche Widersprüche sichtbar machte, dadurch, dass sie eine Reihe von Sackgassen im Staat, im Gefüge der Demokratie selbst artikuliert hat?«
So hat Thomas Elsaesser noch in den letzten Jahren seine Lust am Aufbrechen der Selbstverständlichkeiten praktiziert: Als 2014 an der Frankfurter Goethe-Universität in einer großen Tagung nach der Bedeutung von »Frankfurt« gefragt wurde, störte sich Elsaesser am Programm: »Alle erwarteten von mir einen Vortrag zu Kracauer.« Den habe er auch zugesagt. Aber im Programm habe es alles Mögliche zu Kracauer gegeben, aber kaum etwas zu Adorno. »Also habe ich die ganze Nacht meine Notizen umgeschrieben, und dann einen Vortrag zu Adornos Beziehung zum Kino gehalten.«
Gerade in den letzten Jahren hat Elsaesser auf diese Weise und in Auseinandersetzung mit neuesten Herausforderungen auch gern die Kritische Theorie gegen manche ihrer halbherzigen Liebhaber verteidigt – und hat so deren Tradition, sich immer wieder neu zu erfinden, bis in die Gegenwart getragen.