Was macht eigentlich: Nicolas Winding Refn und die Lust am Schauen? |
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Lang ist es her – Refns The Neon Demon | ||
(Foto: Koch Films) |
Von Jens Balkenborg
Seit The Neon Demon aus dem Jahr 2016, seinem neonglänzenden Horrormärchen über ein junges Modell in Los Angeles, zumindest nichts mehr für das Kino. Seit 2018 kuratiert das dänische Enfant terrible die kostenlose Streaming-Plattform byNWR. Darauf versammelt sind abseitige Werke aus dem B-Movie- und Exploitation-Bereich. Refn kooperiert mit MUBI, einer Arthaus-Streamingplattform, die sich bewusst gegen die großen Portale wie Netflix positioniert. Der Anbieter ist eine Goldgrube mit vielen Autorenfilmen und jenem filmhistorischen Bewusstsein, das den Big Playern fehlt.
Seine letzte eigene Produktion, die Racheserie Too Old to Die Young, brachte der Regisseur bei Amazon unter. Ein durchgestylter horizontaler Brecher ist das, den Refn lieber als 13-stündigen Film denn als Serie verstanden haben will. Der Mann ist eine Marke, seit Neon Demon auch buchstäblich: erstmals ist im Vorspann der Schriftzug »NWR« zu lesen. Refns Stil ist unverkennbar und hat sich über seine fast ein viertel Jahrhundert umfassende Karriere im Filmbusiness regelrecht zugespitzt.
Die Anfänge: Milieustudien, Gewalt und Dogma
Wenn man sich die heutigen, bis ins kleinste Detail durchkomponierten Werke des Auteurs anschaut, eine jede Szene wie ein schaurig-schönes Gemälde, vergisst man schnell, wo der Däne herkommt. Seine ersten Filme sind raue, authentische Milieustudien, die ästhetisch von der Dogma-Bewegung inspiriert sind. In seinem Debüt Pusher von 1996 folgt Refn den Drogendealern Frank (Kim Bodnia) und Tonny (Mads Mikkelsen in seiner ersten größeren Rolle) mit wackeliger Handkamera durch schmutzige Straßen und Viertel, hinein in das Leben perspektivloser Existenzen. In ähnlichem Look und mit dem gleichen Schauspielerduo erzählt Refn in Bleeder (1999) von Sehnsucht nach Nähe, emotionaler Impotenz und
Bindungsunfähigkeit. In beiden Filme wird es am Ende blutig. Refn erzählt seit jeher Geschichten über Gewalt.
Eine 180-Grad-Wende bedeutet Fear X aus dem Jahr 2003, Refns erster englischsprachiger Film. Erstmals kreiert der Regisseur mit inszenatorischer Finesse eine seiner exzentrischen Welten abseits von Milieu-Authentizität: die Bilder sind durchkomponiert, auf der Tonspur wabern die Sounds des Elektro-Pioniers Brian Eno. In Fear X sucht ein durchgedrehter Supermarkdetektiv (John Turturro) den Mörder seiner Frau. Refn unterminiert in dem gegen den Strich gebürsteten Rachedrama die Erwartungen des Zuschauers.
Fear X bildet trotz der beiden darauf folgenden »Pusher«-Fortsetzungen die Brücke zu einer neuen Phase. Denn nach einem Ausflug ins Fernsehen (Agatha Christie Marple: Nemesis, 2007) bringt der Däne mit Bronson (2008) einen Film in die Kinos, der in die Ambivalenz und die
inszenatorischen Extrovertiertheit von Fear X noch überhöht. Was ist das für ein verstörendes Biopic! Tom Hardy spielt den bekanntesten britischen Häftling Bronson als größenwahnsinnigen Freak, der auf einer Theaterbühne im Knast von seinem Leben erzählt und in grausamen Tiraden alles um sich herum niedermäht. Der Soziopath bleibt ein unvorhersehbares Rätsel, Refn gibt
keine Erklärungen, sondern lässt die Bilder für sich sprechen.
Mit Bronson beginnt ein Prozess: während Refn das »Was« der Erzählung weiter reduziert, wird das »Wie«, die ästhetische Ausgestaltung, immer wichtiger. Weniger Erzählen und trotzdem mehr sagen, mit Bildern: Das reine Kino. Walhalla Rising von
2009 ist quasi das radikale, filmische Ausrufezeichen dazu, denn: Die Hauptfigur bleibt schlichtweg stumm! Das hypnotisch-esoterische Wikinger-Epos zeigt in sechs Kapiteln den Weg des mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestatteten Einauge (Mads Mikkelsen). Der Film ist schwer zugänglich, ein elegisches Schlurfen durch nordschottische Berglandschaften auf der Suche nach dem Heiligen Land, gelegentlich unterbrochen von brutalster Gewalt.
Voyeurismus als
ästhetisches Prinzip
Refn ist ein Augenmensch mit Sinn für leuchtende Oberflächen. Und das, obwohl er farbenblind ist, wie er im Interview bei »The Sound of Young America« erklärte. Zur gesamtkompositorischen Meisterschaft bringt Refn seinen Stil in Drive (2011). Der zum Kult avancierte Film ist ein audiovisueller Orgasmus, zur Perfektion gestylte Popkultur mit
Ohrwurm-Soundtrack und Hang zur Subversion. Es ist ein Film der verführerisch glänzenden Oberflächen, doch: zu trauen ist ihnen nicht. Denn auf die von den grimmschen Märchen inspirierte Romanze zwischen dem namenlosen Driver (Ryan Gosling) und seiner Nachbarin Irene (Carey Mulligan) in der ersten Filmhälfte folgt ein Cut. Plötzlich entpuppt sich der Driver als Killermaschine und geht auf einen blutigen Rachefeldzug. Die Sicherheit des Zuschauers tritt Refn mit Füßen, als der
Driver nach dem Kuss mit Irene, zugleich die intimste Szene des Films, vor ihren Augen das Gesicht eines Angreifers zu Brei tritt.
Refns Kino ist das der (pervertierten) Schaulust: In Bleeder fliehen die Protagonisten vor der Realität, indem sie Filme schauen; in Fear X wird das Schauen des immer selben Überwachungsvideos zu Harrys Obsession; Bronson spricht von einer Theaterbühne zu seinen »Zuschauern«. Und in Drive zersticht eine Gabel ein Auge. Spätestens mit Drive wird der Voyeurismus zum ästhetischen Prinzip: eine filmische Verführung mit Tritten.
Dieses Prinzip dekliniert Refn in seinem in der Megametropole Bangkok spielenden Only God Forgives (2013) auf allen Ebenen durch. Das inhaltlich vollkommen trivialisierte, lyncheske Rachedrama mit ödipalen Ausflügen ist ein reiner Bilderrausch. Tagtraumsequenzen in rötlich gefärbten, verwinkelten Gängen, erotische Szenen, blutige Kämpfe mit abgeschlagenen Gliedmaßen und verbrannten Gesichtern und so weiter und so fort. Und überall das Schauen: lüsterne Blicke auf eine sich befriedigende Edelprostituierte, Bodybuilder bei einer Muskelshow und ein singender Rächer auf seiner Bühne. Schließlich die Schlüsselszene in einer vollbesetzten Bar, in der der Zuschauer direkt als Voyeur enttarnt wird: »Jetzt hört mal zu Mädels, ganz egal was passiert, haltet eure Augen geschlossen. Doch die Männer sollten jetzt gut hinsehen« heißt es, bevor jemandem die Augen zerstochen werden.
Dass Refn in dem eingangs erwähnten Film The Neon Demon von der Modellwelt, oder genauer: von seiner pervertierten Version davon erzählt, erscheint nur logisch. Und noch logischer, dass darin ein Auge sogar gegessen wird. Schaurig-schöne Bilder aus der Welt der vermeintlichen ästhetischen Schönheit sind das. An welche Grenzen der Wahrnehmung wird der farbenblinde Voyeur uns wohl als nächstes bringen?