19.03.2020

Was macht eigentlich: Nicolas Winding Refn und die Lust am Schauen?

Nicolas Winding Refns Neon Demon
Lang ist es her – Refns The Neon Demon
(Foto: Koch Films)

Eine Retrospektive

Von Jens Balkenborg

Seit The Neon Demon aus dem Jahr 2016, seinem neon­glän­zenden Horror­mär­chen über ein junges Modell in Los Angeles, zumindest nichts mehr für das Kino. Seit 2018 kuratiert das dänische Enfant terrible die kosten­lose Streaming-Plattform byNWR. Darauf versam­melt sind abseitige Werke aus dem B-Movie- und Explo­ita­tion-Bereich. Refn koope­riert mit MUBI, einer Arthaus-Strea­ming­platt­form, die sich bewusst gegen die großen Portale wie Netflix posi­tio­niert. Der Anbieter ist eine Goldgrube mit vielen Autoren­filmen und jenem film­his­to­ri­schen Bewusst­sein, das den Big Playern fehlt.

Seine letzte eigene Produk­tion, die Rache­serie Too Old to Die Young, brachte der Regisseur bei Amazon unter. Ein durch­ge­stylter hori­zon­taler Brecher ist das, den Refn lieber als 13-stündigen Film denn als Serie verstanden haben will. Der Mann ist eine Marke, seit Neon Demon auch buchs­täb­lich: erstmals ist im Vorspann der Schriftzug »NWR« zu lesen. Refns Stil ist unver­kennbar und hat sich über seine fast ein viertel Jahr­hun­dert umfas­sende Karriere im Film­busi­ness regel­recht zuge­spitzt.

Die Anfänge: Milieu­stu­dien, Gewalt und Dogma
Wenn man sich die heutigen, bis ins kleinste Detail durch­kom­po­nierten Werke des Auteurs anschaut, eine jede Szene wie ein schaurig-schönes Gemälde, vergisst man schnell, wo der Däne herkommt. Seine ersten Filme sind raue, authen­ti­sche Milieu­stu­dien, die ästhe­tisch von der Dogma-Bewegung inspi­riert sind. In seinem Debüt Pusher von 1996 folgt Refn den Drogen­dea­lern Frank (Kim Bodnia) und Tonny (Mads Mikkelsen in seiner ersten größeren Rolle) mit wacke­liger Hand­ka­mera durch schmut­zige Straßen und Viertel, hinein in das Leben perspek­tiv­loser Exis­tenzen. In ähnlichem Look und mit dem gleichen Schau­spie­lerduo erzählt Refn in Bleeder (1999) von Sehnsucht nach Nähe, emotio­naler Impotenz und Bindungs­un­fähig­keit. In beiden Filme wird es am Ende blutig. Refn erzählt seit jeher Geschichten über Gewalt.

Eine 180-Grad-Wende bedeutet Fear X aus dem Jahr 2003, Refns erster englisch­spra­chiger Film. Erstmals kreiert der Regisseur mit insze­na­to­ri­scher Finesse eine seiner exzen­tri­schen Welten abseits von Milieu-Authen­ti­zität: die Bilder sind durch­kom­po­niert, auf der Tonspur wabern die Sounds des Elektro-Pioniers Brian Eno. In Fear X sucht ein durch­ge­drehter Super­mark­de­tektiv (John Turturro) den Mörder seiner Frau. Refn unter­mi­niert in dem gegen den Strich gebürs­teten Rache­drama die Erwar­tungen des Zuschauers.

Fear X bildet trotz der beiden darauf folgenden »Pusher«-Fort­set­zungen die Brücke zu einer neuen Phase. Denn nach einem Ausflug ins Fernsehen (Agatha Christie Marple: Nemesis, 2007) bringt der Däne mit Bronson (2008) einen Film in die Kinos, der in die Ambi­va­lenz und die insze­na­to­ri­schen Extro­ver­tiert­heit von Fear X noch überhöht. Was ist das für ein verstö­rendes Biopic! Tom Hardy spielt den bekann­testen briti­schen Häftling Bronson als größen­wahn­sin­nigen Freak, der auf einer Thea­ter­bühne im Knast von seinem Leben erzählt und in grausamen Tiraden alles um sich herum nieder­mäht. Der Soziopath bleibt ein unvor­her­seh­bares Rätsel, Refn gibt keine Erklä­rungen, sondern lässt die Bilder für sich sprechen.
Mit Bronson beginnt ein Prozess: während Refn das »Was« der Erzählung weiter reduziert, wird das »Wie«, die ästhe­ti­sche Ausge­stal­tung, immer wichtiger. Weniger Erzählen und trotzdem mehr sagen, mit Bildern: Das reine Kino. Walhalla Rising von 2009 ist quasi das radikale, filmische Ausru­fe­zei­chen dazu, denn: Die Haupt­figur bleibt schlichtweg stumm! Das hypno­tisch-esote­ri­sche Wikinger-Epos zeigt in sechs Kapiteln den Weg des mit hell­se­he­ri­schen Fähig­keiten ausge­stat­teten Einauge (Mads Mikkelsen). Der Film ist schwer zugäng­lich, ein elegi­sches Schlurfen durch nord­schot­ti­sche Berg­land­schaften auf der Suche nach dem Heiligen Land, gele­gent­lich unter­bro­chen von brutalster Gewalt.

Voyeu­rismus als ästhe­ti­sches Prinzip
Refn ist ein Augen­mensch mit Sinn für leuch­tende Ober­flächen. Und das, obwohl er farben­blind ist, wie er im Interview bei »The Sound of Young America« erklärte. Zur gesamt­kom­po­si­to­ri­schen Meis­ter­schaft bringt Refn seinen Stil in Drive (2011). Der zum Kult avan­cierte Film ist ein audio­vi­su­eller Orgasmus, zur Perfek­tion gestylte Popkultur mit Ohrwurm-Sound­track und Hang zur Subver­sion. Es ist ein Film der verfüh­re­risch glän­zenden Ober­flächen, doch: zu trauen ist ihnen nicht. Denn auf die von den grimm­schen Märchen inspi­rierte Romanze zwischen dem namen­losen Driver (Ryan Gosling) und seiner Nachbarin Irene (Carey Mulligan) in der ersten Film­hälfte folgt ein Cut. Plötzlich entpuppt sich der Driver als Killer­ma­schine und geht auf einen blutigen Rache­feldzug. Die Sicher­heit des Zuschauers tritt Refn mit Füßen, als der Driver nach dem Kuss mit Irene, zugleich die intimste Szene des Films, vor ihren Augen das Gesicht eines Angrei­fers zu Brei tritt.

Refns Kino ist das der (perver­tierten) Schaulust: In Bleeder fliehen die Prot­ago­nisten vor der Realität, indem sie Filme schauen; in Fear X wird das Schauen des immer selben Über­wa­chungs­vi­deos zu Harrys Obsession; Bronson spricht von einer Thea­ter­bühne zu seinen »Zuschauern«. Und in Drive zersticht eine Gabel ein Auge. Spätes­tens mit Drive wird der Voyeu­rismus zum ästhe­ti­schen Prinzip: eine filmische Verfüh­rung mit Tritten.

Dieses Prinzip dekli­niert Refn in seinem in der Megame­tro­pole Bangkok spie­lenden Only God Forgives (2013) auf allen Ebenen durch. Das inhalt­lich voll­kommen trivia­li­sierte, lyncheske Rache­drama mit ödipalen Ausflügen ist ein reiner Bilder­rausch. Tagtraum­se­quenzen in rötlich gefärbten, verwin­kelten Gängen, erotische Szenen, blutige Kämpfe mit abge­schla­genen Glied­maßen und verbrannten Gesich­tern und so weiter und so fort. Und überall das Schauen: lüsterne Blicke auf eine sich befrie­di­gende Edel­pro­sti­tu­ierte, Body­builder bei einer Muskel­show und ein singender Rächer auf seiner Bühne. Schließ­lich die Schlüs­sel­szene in einer voll­be­setzten Bar, in der der Zuschauer direkt als Voyeur enttarnt wird: »Jetzt hört mal zu Mädels, ganz egal was passiert, haltet eure Augen geschlossen. Doch die Männer sollten jetzt gut hinsehen« heißt es, bevor jemandem die Augen zersto­chen werden.

Dass Refn in dem eingangs erwähnten Film The Neon Demon von der Modell­welt, oder genauer: von seiner perver­tierten Version davon erzählt, erscheint nur logisch. Und noch logischer, dass darin ein Auge sogar gegessen wird. Schaurig-schöne Bilder aus der Welt der vermeint­li­chen ästhe­ti­schen Schönheit sind das. An welche Grenzen der Wahr­neh­mung wird der farben­blinde Voyeur uns wohl als nächstes bringen?