Gestrandet auf Corona Island
Homo homini virus est |
||
Die analoge Welt in Trümmern: Mein Jahr in der Niemandsbucht | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Von Dunja Bialas
Seit Samstag Nacht, null Uhr, befinden wir uns in Bayern in der Coronakratie. Wäre ich empfänglich für Verschwörungstheorien, auch für meine eigenen, vermutete ich hinter dem ganzen Geschehen einen Angriff des Digitalen auf die analoge Welt. Selbst mein Freund von der »Süddeutschen Zeitung«, der sich letzte Woche noch als Profiteur des Corona-Kriegs wähnte, wurde jetzt in den Heimaturlaub geschickt. Derweil schrumpft die »SZ« auf Notausgabenformat, mit den immer gleichen Corona-News. Besonders absurd war der Vorher-nachher-Vergleich, mit dem der »Münchner Teil« den Erfolg der Ausgangsbeschränkungen – »Keine Ausgangssperre!« (Söder) – vermeldete. Beide Fotos zeigten die Isar-Auen bei schönstem Sonnenschein, einmal voller Menschen und eine Woche später, siehe da: menschenleer. Ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass sich über Nacht ein Temperatursturz von über 15 Grad auf den arktischen Nullpunkt ereignet hatte.
Übrigens auch psychosozial.
Noch vor der Stilllegung des öffentlichen Lebens habe ich bei der Bayerischen Staatsbibliothek eine Reihe von Büchern bestellt, weil ich das Leben in müßiggängerischem otium sinnvoll zu verbringen gedachte. Aber die Leihstelle wurde geschlossen, noch bevor es zur Auslieferung kam, ebenso wie alle Buchläden des Freistaats. Währenddessen rüsten sich die Supermärkte. Schrauben halten verzweifelt-absurde Plexiglasscheiben vor den Kassiererinnen hoch, die eben noch unbehandschuht in der kalten Zugluft ihr Tagwerk verrichten mussten. Vermutlich aus dem Nachtleben entlassene Türsteher bauen sich vor den Läden auf, besonders aggressiv ist der vor dem Drogeriemarkt, dem jetzt angesagtesten Club der Stadt. Hier darf keiner rein, ohne seine Erlaubnis. Drinnen herrscht strenger Rechtsverkehr. Ich verzichte auf meinen Vitamin-D-Beutezug und gehe stattdessen in den benachbarten Supermarkt. Dort doch tatsächlich: Klopapier. Das Medium im Zeitalter der niederen Bedürfnisse.
Auf der Straße meiden sich die Menschen. Alles wirkt unhöflich und ungalant, nicht wie im Pariser Alltag, wo man – wie es Peter Handke 1994 in »Mein Jahr in der Niemandsbucht« beschrieb – instinktiv und fast tänzelnd einander auswich. Jetzt kann jeder dem anderen zum Virus werden. Fast wird die Straßenseite gewechselt, wenn man jemandem entgegenkommt, als wäre man infektiös. Jeder verdächtigt jeden. Und wehe, der Sicherheitsabstand wird nicht eingehalten, dann kommen die abgestellten Security-Typen und sorgen für Ordnung. Statt otium jetzt odium, statt Muße Hass.
Muss das denn bitte sein?
Unterdessen arbeitet die digitale Welt weiter daran, die analoge abzuschaffen. Geschäfte müssen schließen, aber der Online-Versand geht weiter. Amazon meldet verlängerte Lieferzeiten, während meine Buchhändlerin sich in ihrem Laden einschließt und darauf hofft, dass jemand an ihrer Tür stehen bleibt und den Zettel liest, den sie da angebracht hat. Auf ihm steht, dass man auch bei ihr online bestellen kann. Oder könnte.
Die einzige Fortschrittsmeldung kam dieser Tage aus dem Streaming-Bereich: Disney+ verspricht seit Dienstag »unbegrenzte Unterhaltung« und »das Beste« von Disney, Pixar, Marvel, Star Wars – und National Geographic. Never heard. Zunächst sieben Tage kostenlos, kann im Anschluss für den Taschengeld-Gegenwert von 6,99 € gestreamt werden. Zielgruppe sind all jene, die in der virenfreien Zeit noch ab und an in die Multiplexe gegangen sind. »Streame auf 4 Screens gleichzeitig und jeder ist glücklich«, jubeln sie auf der Website. Schaun wir mal, ob wirklich jeder glücklich sein wird.
Es geht um die Rückkehr ins normale Leben, falls es so eins wieder geben wird. Nach all dem zwangsverordneten Zuhausebleiben und Zuhausestreamen werden alle hungrig nach draußen strömen, hoffentlich noch einen Rest an Sommer genießen und an der Isar in legalisierten Gruppen die Resozialisierung feiern. Dann im Herbst sich langsam wieder daran erinnern, dass auch die Kultur etwas zu bieten hatte. Theater, Oper, Lesungen, alles, wo die Menschen zusammenkommen können, wird interessant sein.
Währenddessen bleiben die Kinos dunkel und leer. Wer will nach Corona wohl noch freiwillig auf einen Screen starren, noch dazu mit anderen? Lieber wird man miteinander reden wollen, zusammen lachen, interagieren, nicht mehr schweigend konsumieren. Filmegucken, ob auf dem Sofa oder im Kinosessel, ist Kulturkonsum. Übersättigt werden alle sein von den Bewegtbildern, die sie sich bis zum Überdruss in der Corona-Zeit zugeführt haben.
So wird die Kunst des Bewegtbilds noch eine Zeit lang als Corona-Kunst im Gedächtnis bleiben, als albtraumhafte Erinnerung an eine Zeit der Einschließung und des verordneten Verzichts. Als antisoziale Kunsterinnerung.
Wir sollten besser mit dem Filmegucken zuhause aufhören oder es zumindest rationieren. Damit wir nicht vergessen, wie schön es sein kann, sich fürs Kino zu verabreden, stumm nebeneinander im Dunkeln zu sitzen und gemeinsam auf die Leinwand zu starren, sich immersiv dem Geschehen hinzugeben und die Welt um sich herum wirklich komplett zu vergessen. Kein griffbereites Handy, kein Gang zum Kühlschrank, keine Pausentaste, weil man niedere Bedürfnisse hat. Endlich wieder die Angst, etwas zu verpassen, wenn man kurz mal die Augen schließt.
Bewahren wir uns die Liebe zum Film. Damit es auch später noch Kinos geben kann. Und vergessen wir bitte nicht, dorthin zurückzukehren.
Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Suhrkamp/Insel, 1994 / 2007. 18 €