Lieblingsfilme, wiedergesehen – Die Sonne, die uns täuscht |
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Ein kompliziertes und tragisches Geflecht aus Vergangenheit, Schuld, Rivalität und Liebe | ||
(Foto: Axel Timo Purr– DVD Cover) |
Von Christoph Becker
»Die Schwermut? Verstehe, verstehe …Weißt du was, Kolja? Versuch doch, wie früher, zu singen, zu lachen, wütend zu werden … Bleib da, wir werden lachen, Fruchtlikör trinken und deine Schwermut im Nu vertreiben. Soll ich etwas singen? … Du hast so einen leidenden Blick! Ich werde in deine Augen schauen und weinen, und uns beiden wird leichter zumute.«
(aus: »Iwanow« von Anton Tschechow)
Im Sommer 1936 auf dem Lande in der Sowjetunion. Weit weg von Stalins Terror, der sich auch gegen die Elite des eigenen Militärs richtet, herrscht im Leben des Ex-Generals und Kriegshelden Kotow (gespielt vom Regisseur Nikita Michalkow) ein beschauliches Sommertreiben. Mit seiner jüngeren Frau Marusja (Ingeborga Dapkunaite) und seiner kleinen Tochter Nadya (Nadjeschda Michalkowa) genießt er die Freuden der eigenen Sauna, sein Haus bevölkern ein paar liebenswert verrückte Verwandte, die einer Tschechowkomödie entsprungen sein könnten. In diese Idylle platzt der Geheimdienstoffizier Mitja (Oleg Menschikow), ein ehemaliger Liebhaber von Marija. Es stellt sich heraus, dass er gekommen ist, um General Kotow mitzuteilen, dass dieser am Ende des Tages abgeholt wird, um sich in Moskau zu verantworten. Was zu dieser Zeit einem Todesurteil gleichkommt.
Auf der im Untergrund schwelenden Todesgefahr des Abtransportes entfaltet Regisseur Michalkow nun ein kompliziertes und tragisches Geflecht aus Vergangenheit, Schuld, Rivalität und Liebe. Darüber legt er eine Folie der geschäftigen Sommeraktivitäten: das dörfliche Baden im Fluss, das durch eine Gasmaskenübung slapstickartig unterbrochen wird, Zeit für eine kleine Bootsfahrt mit der Tochter, während der das ehemalige Liebespaar sich aussprechen kann, Klavierspiel und Essen, ein Ständchen der dörflichen Jugend für den ehemaligen Kriegshelden und vieles mehr. Unterlegt von dem russischen Liedthema, welchem der Film seinen (übersetzten) Titel verdankt: Die von der Sonne Ermüdeten.
Fesselnd sind die Dialoge, hervorragend gespielt, von schmerzhafter Dringlichkeit und Intensität. Daneben kleine, ungemein berührende Momente der Leichtigkeit – zum Beispiel die Szene im Ruderboot, getragen von der Chemie der echten Vater-Tochter-Beziehung des Regisseurs und seiner Tochter.
Und was tut man, wenn man weiß, dass man nur noch wenige Stunden mit seinen Liebsten verbringen kann? Einer der vielen Höhepunkte des Films: Kotow trommelt die gesamte Hausgemeinschaft zu einem großen Fußballspiel zusammen, in dem Jung und Alt durcheinander rasen und zwischendurch eine kleine Rechnung beglichen werden kann…
Wie kann solch ein wunderbarer Film, zudem mit dem Oscar für den besten internationalen Film (1995) und dem Großen Preis der Jury in Cannes (1994) ausgezeichnet, so lange vergriffen, nahezu unauffindbar sein? Vielleicht haben die (vom ersten Teil aus betrachtet überflüssigen und im Widerspruch zum ersten stehenden) zwei Nachfolgefilme gleichen Namens (mit den Zusätzen: Der Exodus und Die Zitadelle) oder die diskussionswürdigen politischen Aussagen Michalkows dazu beigetragen.
Jeder folgt in einem Film, je nach Interesse und Vorgeschichte, anderen Spuren. Die Sonne, die uns täuscht bietet auf vielen Ebenen Themen an, sei es die politisch-historische Situation oder die Themen Eifersucht, Verrat, letzte Stunden, Liebes- und Familienbeziehungen. Für mich umfasst dieser Film wie ein Tschechow-Stück in einem kleinen existentiellen Ausschnitt das gesamte Leben.