16.04.2020
Gestrandet auf Corona Island

Die Welt ist im Internet: Praktisch, mix it

Tocotronic, Hoffnung
Das Netz ist ein Archiv. Tocotronic spielen damit in »Hoffnung«
(Foto: Youtube / Tocotronic)

Neuland betreten, Musikvideos finden, Fenster öffnen und schließen sich

Von Nora Moschuering

Ich sitze auf meiner Fens­ter­bank im zweiten Stock. Die alte Dame im Haus gegenüber hat ihren Rollladen wie immer zu zwei Drittel runter­ge­lassen, in der übrigen Öffnung sieht man ihren Kopf, aufge­stützt auf die Ellen­bogen, hin- und hergucken. Das hat sie schon vor Corona so gemacht. Ich weiß nicht, ob sich etwas Grund­le­gendes bei ihr geändert hat. Ich stelle mir vor, wie es wäre, jetzt sie zu sein. Ganz plötzlich, in ihrem Körper, an ihrem Fenster, in ihrer Wohnung, aber mit meinem Ich. Body Switch. Ich stelle mir das manchmal auch bei Filmen vor. Also eigent­lich die totale Immersion. Aber mich bringt die Vorstel­lung oft etwas durch­ein­ander, weil ich nicht genau weiß, ob ich dann die Schau­spie­lerin wäre, die im Film mitspielt oder der von ihr darge­stellte Charakter in der Geschichte. Wie auch immer, ich würde versuchen, so gut wie möglich mitzu­ma­chen, und wenn das nicht ginge, in Ohnmacht zu fallen – das wäre natürlich je nach Film mal passender, mal unpas­sender. Ich frage mich auch, ob das Leben in einem Schwarz­weiß-Film Einfluss auf meine Persön­lich­keit hätte, oder mich die Filmmusik arg nerven würde.

Ich setze mich doch lieber auf meinen Sessel und öffne das Fenster zum Internet. Ich habe es gemocht, dass Frau Merkel es 2013 »Neuland« genannt hat, auch wenn sie sich viel Häme dafür einge­fangen hat. Ich mag es, dass man es als Land beschreibt, als könnte man es erfor­schen, als wären da Expe­di­tionen möglich, wie auf einem neuen Kontinent. Klar speist sich diese Welt aus der unsrigen, aber das ändert sich und auf jeden Fall ist es irgendwie eine Art Lebens­raum, den man erkunden kann. Andrei Tarkowski beschrieb Film mal als »eine emotio­nale Realität, eine zweite Realität, in der man lebt«. Dieser Satz trifft viel­leicht – jetzt gerade um so mehr – auf das Netz zu. Aber kann ein Medium eine Umgebung sein, ein Lebens­raum? Marshall McLuhan schrieb 1967: »Es gibt keine Realität außerhalb der Medien, weil das persön­liche Verhältnis zu und das Handeln in der Welt immer durch Medien mitge­prägt wird.« Aber seit McLuhan – wage ich jetzt zu behaupten – hat sich der Zwischen­raum, also dieses Medium, mit dem wir in der realen Welt handeln, immer mehr zu einer Art sozialen Hauptraum gewandelt, einer Realität, jenseits der Abbil­dungs- oder Nach­rich­ten­funk­tion, die es mal hatte.

Eigent­lich sollte es, bevor ich den Faden verloren habe, um Filmmusik gehen, bzw. ich wollte eine elegante Kurve zu Musik­vi­deos aus Found-Footage schaffen. Gerade tauchen neben Gifs, Memes und leidlich lustigen Home-Videos immer wieder Musik-Videos auf, die sozusagen zu einer Art Sound­track des Zuhau­se­seins werden. Toco­tronic ist dabei. Seit langer Zeit mal wieder (hab sie aus den Augen verloren, obwohl sie vor zwei Jahren ein neues Album heraus­ge­bracht haben) mit »Hoffnung«. Mit Dirk von Lowtzows Stimme über leere Plätze und Straßen überall auf der Welt gucken. Schwarz­weiß. »Ein kleines Stück / Lyrics and Music / Gegen die / Verein­ze­lung.« Für mich hätte man den Text nicht über die Bilder schreiben brauchen und wenn, dann viel­leicht in Englisch, um die gemein­schaft­liche Erfahrung zu betonen. Schön ist das, melan­cho­lisch. Ein Streifen über eine still­ste­hende Welt. Ich weiß nicht, woher sie die Videos haben. Viel­leicht wurden sie ihnen zuge­schickt. Viel­leicht haben sie sie im Netz gefunden. Das Netz ist ein Archiv.

Ich gucke weiter. Auch in den 90ern in Hamburg gegründet und auf eine ganz andere Art mit Lyrics spielend: Deichkind. Mein letztes Konzert vor Corona, unsym­pa­thisch groß, aber zum Schluss zumindest noch mal ein bisschen anar­chisch. Sympto­ma­tisch viel­leicht für diesen Text das Video von »Illegale Fans«. Material von Über­wa­chungs­ka­meras, das »analoge« Dieb­stähle zeigt, während sie über digitale sprechen: Diebstahl, Neukon­tex­tua­li­sie­rung, Urhe­ber­rechts­ver­let­zung, künst­le­ri­sche Nutzung, Zitat ... »wer sagt denn das?« Gehört im Netz überhaupt irgend­je­mand irgendwas? Den großen Firmen? »99 Cent pro Track verpuffen in der Blase.« »Ihr seid das Imperium und wir sind die Rebellen.« We don’t care, wir nutzen. Wider­stand und Anarchie.

Leider geil
Illegale Fans (Foto: Deichkind) (Foto: Deichkind)

Auch auf dem Album von 2012: »Leider Geil«. Das Video hat eine etwas andere Art für ein Gemein­schafts­ge­fühl zu sorgen, als es Toco­tronic gemacht hat. Ein Youtube-Battle an pein­li­chen Slapstick-Momenten, hinein­ge­laden in unser kollek­tives Unbe­wusstes.

Leider geil
Leider geil (Foto: Deichkind) (Foto: Deichkind)

Mit »Like Mich Am Arsch« drei Jahre später, zitieren sie das »Leider Geil«-Video, indem sie einfach mal die Youtube-Videos nach­stellen und die ganze Internet-Daumen hoch-runter-Beur­tei­lung am Arsch vorbei gehen lassen.

Like mich am Arsch
Like mich am Arsch (Foto: Deichkind) (Foto: Deichkind)

Wenn das Netz eine Bilder-Umgebung ist, deren Material man nutzen kann – wenn auch viel­leicht nicht darf, dann sind all diese Videos quasi doku­men­ta­ri­sche Filme. Ein besonders schönes Beispiel einer »legalen« Nutzung ist das Video von Bonobo zu »Cirrus« (2013). Eine Cirrus-Wolke ist eine reine Eiswolke in großer Höhe. Das Video dazu hat der Künstler Cyriak (Freelance Animator) mit mani­pu­liertem Material aus einem Film gemacht. Es besteht aber nicht wie die bishe­rigen Videos aus anein­an­der­ge­schnit­tenen Einzel­szenen, sondern alle Bilder sind Collagen in sich. Damit schafft das Video eine kritische Ausein­an­der­set­zung mit der ameri­ka­ni­schen Kons­um­ge­sell­schaft.

Cirrus von Bonobo
Cirrus (Foto: Bonobo) (Foto: Bonobo)

Das Material stammt aus American Thrift (»Spar­sam­keit & Wirt­schaft­lich­keit«), mit dem 1962 eine US-ameri­ka­ni­sche Auto­mo­bil­firma das Lob der Hausfrau in Fragen des Konsums würdigte. Nur wenn man gut haus­haltet, hat das Indi­vi­duum die Freiheit, das zu kaufen, was es möchte. Der Film ist im Prelinger Archiv zu finden, einem Internet-Archiv, das Cyriak als »a goldmine for us video artists« bezeichnet. Bei diesem Archiv stellt sich die Frage des Copy­rights nicht. »The Archives were founded by Rick Prelinger in 1982 in order to preserve what he calls 'ephemeral' films: films sponsored by corpo­ra­tions and orga­niza­tions, educa­tional films, and amateur and home movies. Typically, ephemeral films were produced to fulfill specific purposes at specific times, and many exist today only by chance or accident. About 65% of the Archive’s holdings are in the public domain because their copy­rights have expired, or because they were U.S. produc­tions that were published without proper copyright notice.« Inspi­riert wurde Cyriak von Zbigniew Rybc­zyński (Polni­scher Expe­ri­men­tal­filmer und Kame­ra­mann, ehema­liger Professor der KHM Köln) und seinem Film »Tango«, mit dem er den zweiten Haupt­preis auf den Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen Ober­hausen und 1983 den Oscar als bester, animierter Kurzfilm gewann.

Tango von Zbigniew Rybczyński
Tango (Foto: Zbigniew Rybc­zyński) (Foto: Zbigniew Rybczyński)

(Auf etwas begrenz­terem Raum findet man diese Art auch bei Captain Comatoses »$100« (2003), Video von Ali M. Demirel.)

(Apropos Ober­hausen: Die Kurz­film­tage sind eines der wenigen Festivals (wenn nicht sogar das einzige?), das einen Wett­be­werb für Musik­vi­deos durch­führt, MuVi genannt. Jedes Jahr kann online über den Publi­kums­preis abge­stimmt werden, seit gestern ist MuVi wieder »on air«. Wer noch mehr Musik­vi­deos sehen will, aktuelle, kann hier für sein Lieb­lings­video voten. Klammer auf, Klammer zu.)

Ich habe die alte Dame am Fenster gegenüber vergessen und mir mehrere neue Fenster auf meinem Laptop aufge­macht. Ich suche nach Videos von Münchner Bands, die viel­leicht gerade zu Hause sitzen und einen neuen Hit nach dem anderen schreiben oder aber zur Mittags­pause im Facebook-Live­stream Platten auflegen, wie G.Rag aus seinem Gutfee­ling-Plat­ten­laden. Ich finde g.rag / zelig implosion »All you want«.

All You Want
All You Want (Foto: g.rag / zelig implosion) (Foto: g.rag / zelig implosion)

Ein schönes, kurzes Uhren-Video über die Unbe­stän­dig­keit der Zeit und die Krücken ihrer Objek­ti­vie­rung. Oder eine Neuin­ter­pre­ta­tion von Palais Schaum­burgs (auch Hamburg) »Morgen wird der Wald gefegt« von g.rag / zelig implosion deluxxe.

Morgen wird der Wald gefegt
Morgen wird der Wald gefegt (Foto: Gutfee­ling Records) (Foto: Gutfee­ling Records)

Zu sehen ist ein bewegtes Schaubild, ein Lehrstück der Abstrak­tion, um möglichst über­sicht­lich und ohne Blut in den mensch­li­chen Körper zu gucken. Ein durch­sich­tiges, bewegtes Pikto­gramm. Ein Biolo­gie­lehrer könnte das sicher erklären, viel­leicht hat er es in den 60ern in der Schule gezeigt. Ich sehe darin: Morgen wird gefegt oder über­morgen, solange beschäf­tigen wir uns mit inneren, »gefegten« Kreis­läufen: Rote und weiße Blut­kör­per­chen, Sauer­stoff-Kreislauf und wer weiß, was noch, in einer Art sich wieder­ho­lender, elegi­scher Runde. Im »Train Song« von g.rag y los Hermanos Patchekos fährt man mit dem Bus, der Trambahn, dem Auto oder dem Zug von der Stadt in die Berge, an den See oder ans Meer. Die Filme sind aus den 10er oder 20er Jahren, hier kann ich mich dann mal in das Leben in schwarz-weiß rein­denken. »Tale of Years« haben die Videos gemacht, ein Duo mit einem Archiv.

Bevor ich alle Fenster schließe, kurz weg von den Musik-Videos zu einem Video-Essay, das allein aus Filmen von Usern aus dem Netz besteht – da gibt es übrigens einige, aber nicht alle sind zu empfehlen. Empfeh­lung: Guckt euch Kevin B. Lees »Trans­for­mers: The Premake (a desktop docu­men­tary)« an.

Kevin B. Lee
Video-Essay von Kevin B. Lee (Foto: Merz Archiv) (Foto: Merz Akademie)

Da hat man alles: Popkultur und Komple­xität, Explo­sionen und die Zusam­men­hänge von globalen Ökonomien. »The Premake« ist ein Desktop-Film über die Entste­hung und Vor-Filmstart-Vermark­tung von Trans­for­mers 4. Lee wollte eigent­lich einen Doku­men­tar­film über die Film­ar­beiten in Chicago drehen, wo er zu dem Zeitpunkt gewohnt hat. Dabei fiel ihm auf, wie viele Menschen um ihn herum filmten und ihre Filme anschließend auf Youtube stellten – viele durften hoch­ge­laden werden, andere wurden geblockt – und er beschloss, auch mit diesem Material zu arbeiten. (Auch Harun Farockis Essay­filme arbeiten so: Man nimmt vorhan­denes Material, setzt es neu zusammen und analy­siert es). Es geht um diese privaten, aber doch öffent­li­chen kleinen Filme, die neben einem Block­buster entstehen. Es geht um die Drehorte, die in den USA, wie z.B. Detroit, das den Firmen Steu­er­erleich­te­rungen gewährt, weil sie auf Jobs hoffen, aber auch um Honkong und China. Es geht um die wirt­schaft­liche Funktion von globalen Koope­ra­tionen und wie sie im kultu­rellen Bereich aussehen können. Es geht in 25 Minuten relativ schnell um relativ viel, aber man kann sich danach zur Entspan­nung ja einen der »Trans­for­mers«-Filme ansehen, da ist das zwar relativ ähnlich – relativ schnell, relativ viel – aber die Autobots gehen es bei weitem weniger klug an. (Ich habe mir übrigens noch nie vorge­stellt, in einem Trans­for­mers-Film zu sein, in welcher Position auch immer). Na ja, meine Trans­for­mers-Bespre­chung folgt mal irgend­wann. Viel­leicht. Wahr­schein­lich aber nicht. Ich setze mir lieber selber etwas zusammen, denn Lee hat – ganz nach dem alten Open-Source-Geist des Internets – sein Material aus dem Netz genommen, es aber auch wieder hinein­ge­stellt.