Gestrandet auf Corona Island
Die Welt ist im Internet: Praktisch, mix it |
||
Das Netz ist ein Archiv. Tocotronic spielen damit in »Hoffnung« | ||
(Foto: Youtube / Tocotronic) |
Von Nora Moschuering
Ich sitze auf meiner Fensterbank im zweiten Stock. Die alte Dame im Haus gegenüber hat ihren Rollladen wie immer zu zwei Drittel runtergelassen, in der übrigen Öffnung sieht man ihren Kopf, aufgestützt auf die Ellenbogen, hin- und hergucken. Das hat sie schon vor Corona so gemacht. Ich weiß nicht, ob sich etwas Grundlegendes bei ihr geändert hat. Ich stelle mir vor, wie es wäre, jetzt sie zu sein. Ganz plötzlich, in ihrem Körper, an ihrem Fenster, in ihrer Wohnung, aber mit meinem Ich. Body Switch. Ich stelle mir das manchmal auch bei Filmen vor. Also eigentlich die totale Immersion. Aber mich bringt die Vorstellung oft etwas durcheinander, weil ich nicht genau weiß, ob ich dann die Schauspielerin wäre, die im Film mitspielt oder der von ihr dargestellte Charakter in der Geschichte. Wie auch immer, ich würde versuchen, so gut wie möglich mitzumachen, und wenn das nicht ginge, in Ohnmacht zu fallen – das wäre natürlich je nach Film mal passender, mal unpassender. Ich frage mich auch, ob das Leben in einem Schwarzweiß-Film Einfluss auf meine Persönlichkeit hätte, oder mich die Filmmusik arg nerven würde.
Ich setze mich doch lieber auf meinen Sessel und öffne das Fenster zum Internet. Ich habe es gemocht, dass Frau Merkel es 2013 »Neuland« genannt hat, auch wenn sie sich viel Häme dafür eingefangen hat. Ich mag es, dass man es als Land beschreibt, als könnte man es erforschen, als wären da Expeditionen möglich, wie auf einem neuen Kontinent. Klar speist sich diese Welt aus der unsrigen, aber das ändert sich und auf jeden Fall ist es irgendwie eine Art Lebensraum, den man erkunden kann. Andrei Tarkowski beschrieb Film mal als »eine emotionale Realität, eine zweite Realität, in der man lebt«. Dieser Satz trifft vielleicht – jetzt gerade um so mehr – auf das Netz zu. Aber kann ein Medium eine Umgebung sein, ein Lebensraum? Marshall McLuhan schrieb 1967: »Es gibt keine Realität außerhalb der Medien, weil das persönliche Verhältnis zu und das Handeln in der Welt immer durch Medien mitgeprägt wird.« Aber seit McLuhan – wage ich jetzt zu behaupten – hat sich der Zwischenraum, also dieses Medium, mit dem wir in der realen Welt handeln, immer mehr zu einer Art sozialen Hauptraum gewandelt, einer Realität, jenseits der Abbildungs- oder Nachrichtenfunktion, die es mal hatte.
Eigentlich sollte es, bevor ich den Faden verloren habe, um Filmmusik gehen, bzw. ich wollte eine elegante Kurve zu Musikvideos aus Found-Footage schaffen. Gerade tauchen neben Gifs, Memes und leidlich lustigen Home-Videos immer wieder Musik-Videos auf, die sozusagen zu einer Art Soundtrack des Zuhauseseins werden. Tocotronic ist dabei. Seit langer Zeit mal wieder (hab sie aus den Augen verloren, obwohl sie vor zwei Jahren ein neues Album herausgebracht haben) mit »Hoffnung«. Mit Dirk von Lowtzows Stimme über leere Plätze und Straßen überall auf der Welt gucken. Schwarzweiß. »Ein kleines Stück / Lyrics and Music / Gegen die / Vereinzelung.« Für mich hätte man den Text nicht über die Bilder schreiben brauchen und wenn, dann vielleicht in Englisch, um die gemeinschaftliche Erfahrung zu betonen. Schön ist das, melancholisch. Ein Streifen über eine stillstehende Welt. Ich weiß nicht, woher sie die Videos haben. Vielleicht wurden sie ihnen zugeschickt. Vielleicht haben sie sie im Netz gefunden. Das Netz ist ein Archiv.
Ich gucke weiter. Auch in den 90ern in Hamburg gegründet und auf eine ganz andere Art mit Lyrics spielend: Deichkind. Mein letztes Konzert vor Corona, unsympathisch groß, aber zum Schluss zumindest noch mal ein bisschen anarchisch. Symptomatisch vielleicht für diesen Text das Video von »Illegale Fans«. Material von Überwachungskameras, das »analoge« Diebstähle zeigt, während sie über digitale sprechen: Diebstahl, Neukontextualisierung, Urheberrechtsverletzung, künstlerische Nutzung, Zitat ... »wer sagt denn das?« Gehört im Netz überhaupt irgendjemand irgendwas? Den großen Firmen? »99 Cent pro Track verpuffen in der Blase.« »Ihr seid das Imperium und wir sind die Rebellen.« We don’t care, wir nutzen. Widerstand und Anarchie.
Auch auf dem Album von 2012: »Leider Geil«. Das Video hat eine etwas andere Art für ein Gemeinschaftsgefühl zu sorgen, als es Tocotronic gemacht hat. Ein Youtube-Battle an peinlichen Slapstick-Momenten, hineingeladen in unser kollektives Unbewusstes.
Mit »Like Mich Am Arsch« drei Jahre später, zitieren sie das »Leider Geil«-Video, indem sie einfach mal die Youtube-Videos nachstellen und die ganze Internet-Daumen hoch-runter-Beurteilung am Arsch vorbei gehen lassen.
Wenn das Netz eine Bilder-Umgebung ist, deren Material man nutzen kann – wenn auch vielleicht nicht darf, dann sind all diese Videos quasi dokumentarische Filme. Ein besonders schönes Beispiel einer »legalen« Nutzung ist das Video von Bonobo zu »Cirrus« (2013). Eine Cirrus-Wolke ist eine reine Eiswolke in großer Höhe. Das Video dazu hat der Künstler Cyriak (Freelance Animator) mit manipuliertem Material aus einem Film gemacht. Es besteht aber nicht wie die bisherigen Videos aus aneinandergeschnittenen Einzelszenen, sondern alle Bilder sind Collagen in sich. Damit schafft das Video eine kritische Auseinandersetzung mit der amerikanischen Konsumgesellschaft.
Das Material stammt aus American Thrift (»Sparsamkeit & Wirtschaftlichkeit«), mit dem 1962 eine US-amerikanische Automobilfirma das Lob der Hausfrau in Fragen des Konsums würdigte. Nur wenn man gut haushaltet, hat das Individuum die Freiheit, das zu kaufen, was es möchte. Der Film ist im Prelinger Archiv zu finden, einem Internet-Archiv, das Cyriak als »a goldmine for us video artists« bezeichnet. Bei diesem Archiv stellt sich die Frage des Copyrights nicht. »The Archives were founded by Rick Prelinger in 1982 in order to preserve what he calls 'ephemeral' films: films sponsored by corporations and organizations, educational films, and amateur and home movies. Typically, ephemeral films were produced to fulfill specific purposes at specific times, and many exist today only by chance or accident. About 65% of the Archive’s holdings are in the public domain because their copyrights have expired, or because they were U.S. productions that were published without proper copyright notice.« Inspiriert wurde Cyriak von Zbigniew Rybczyński (Polnischer Experimentalfilmer und Kameramann, ehemaliger Professor der KHM Köln) und seinem Film »Tango«, mit dem er den zweiten Hauptpreis auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen und 1983 den Oscar als bester, animierter Kurzfilm gewann.
(Auf etwas begrenzterem Raum findet man diese Art auch bei Captain Comatoses »$100« (2003), Video von Ali M. Demirel.)
(Apropos Oberhausen: Die Kurzfilmtage sind eines der wenigen Festivals (wenn nicht sogar das einzige?), das einen Wettbewerb für Musikvideos durchführt, MuVi genannt. Jedes Jahr kann online über den Publikumspreis abgestimmt werden, seit gestern ist MuVi wieder »on air«. Wer noch mehr Musikvideos sehen will, aktuelle, kann hier für sein Lieblingsvideo voten. Klammer auf, Klammer zu.)
Ich habe die alte Dame am Fenster gegenüber vergessen und mir mehrere neue Fenster auf meinem Laptop aufgemacht. Ich suche nach Videos von Münchner Bands, die vielleicht gerade zu Hause sitzen und einen neuen Hit nach dem anderen schreiben oder aber zur Mittagspause im Facebook-Livestream Platten auflegen, wie G.Rag aus seinem Gutfeeling-Plattenladen. Ich finde g.rag / zelig implosion »All you want«.
Ein schönes, kurzes Uhren-Video über die Unbeständigkeit der Zeit und die Krücken ihrer Objektivierung. Oder eine Neuinterpretation von Palais Schaumburgs (auch Hamburg) »Morgen wird der Wald gefegt« von g.rag / zelig implosion deluxxe.
Zu sehen ist ein bewegtes Schaubild, ein Lehrstück der Abstraktion, um möglichst übersichtlich und ohne Blut in den menschlichen Körper zu gucken. Ein durchsichtiges, bewegtes Piktogramm. Ein Biologielehrer könnte das sicher erklären, vielleicht hat er es in den 60ern in der Schule gezeigt. Ich sehe darin: Morgen wird gefegt oder übermorgen, solange beschäftigen wir uns mit inneren, »gefegten« Kreisläufen: Rote und weiße Blutkörperchen, Sauerstoff-Kreislauf und wer weiß, was noch, in einer Art sich wiederholender, elegischer Runde. Im »Train Song« von g.rag y los Hermanos Patchekos fährt man mit dem Bus, der Trambahn, dem Auto oder dem Zug von der Stadt in die Berge, an den See oder ans Meer. Die Filme sind aus den 10er oder 20er Jahren, hier kann ich mich dann mal in das Leben in schwarz-weiß reindenken. »Tale of Years« haben die Videos gemacht, ein Duo mit einem Archiv.
Bevor ich alle Fenster schließe, kurz weg von den Musik-Videos zu einem Video-Essay, das allein aus Filmen von Usern aus dem Netz besteht – da gibt es übrigens einige, aber nicht alle sind zu empfehlen. Empfehlung: Guckt euch Kevin B. Lees »Transformers: The Premake (a desktop documentary)« an.
Da hat man alles: Popkultur und Komplexität, Explosionen und die Zusammenhänge von globalen Ökonomien. »The Premake« ist ein Desktop-Film über die Entstehung und Vor-Filmstart-Vermarktung von Transformers 4. Lee wollte eigentlich einen Dokumentarfilm über die Filmarbeiten in Chicago drehen, wo er zu dem Zeitpunkt gewohnt hat. Dabei fiel ihm auf, wie viele Menschen um ihn herum filmten und ihre Filme anschließend auf Youtube stellten – viele durften hochgeladen werden, andere wurden geblockt – und er beschloss, auch mit diesem Material zu arbeiten. (Auch Harun Farockis Essayfilme arbeiten so: Man nimmt vorhandenes Material, setzt es neu zusammen und analysiert es). Es geht um diese privaten, aber doch öffentlichen kleinen Filme, die neben einem Blockbuster entstehen. Es geht um die Drehorte, die in den USA, wie z.B. Detroit, das den Firmen Steuererleichterungen gewährt, weil sie auf Jobs hoffen, aber auch um Honkong und China. Es geht um die wirtschaftliche Funktion von globalen Kooperationen und wie sie im kulturellen Bereich aussehen können. Es geht in 25 Minuten relativ schnell um relativ viel, aber man kann sich danach zur Entspannung ja einen der »Transformers«-Filme ansehen, da ist das zwar relativ ähnlich – relativ schnell, relativ viel – aber die Autobots gehen es bei weitem weniger klug an. (Ich habe mir übrigens noch nie vorgestellt, in einem Transformers-Film zu sein, in welcher Position auch immer). Na ja, meine Transformers-Besprechung folgt mal irgendwann. Vielleicht. Wahrscheinlich aber nicht. Ich setze mir lieber selber etwas zusammen, denn Lee hat – ganz nach dem alten Open-Source-Geist des Internets – sein Material aus dem Netz genommen, es aber auch wieder hineingestellt.