Wo sind denn die Systemsprenger? |
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Rotziger Angriff auf die Fördersysteme | ||
(Foto: Nora Fingscheidt / kineo Filmproduktion, Weydemann Bros. Oma Inge Film, ZDF / Das Kleine Fernsehspiel) |
»Aufgabe von Kunst ist es heute, Chaos in die Ordnung zu bringen.«
Adorno
Man muss nicht immer was lernen. Man kann aber.
Was lernen wir denn aus einem Film wie Systemsprenger, was nehmen wir mit außer einer Problemfilm-Version von Pippi Langstrumpf, einem krass krakeelenden Kind, das kaum einer von uns auch nur fünf Minuten im Home-Office ertragen könnte, das wir aber – ich auch, ja! – super finden, wenn es mit Bollerwagen um sich wirft, Fensterscheiben zerbersten lässt, wenn es schreit, bis der Arzt kommt, andere Kinder blau schlägt, wenn es uns auf der Leinwand nervt und dabei zugleich amüsiert – denn es ist ja nur ein Film –, dann rührt, dann irgendwie doch wieder eher nervt, dann in Angst versetzt? Und dann doch rauslässt mit dem Gefühl: Saustark, traurig auch, aber ist ja nur 'n Film.
Ein starker Film, den man nicht planen kann. Dem auch die deutsche Förderung nicht vertraut hat, nur Mindestsummen und Alibi-Beteiligungen gegeben hat, man weiß ja nie. Keine Schande.
Es wäre nur toll, wenn wenigstens irgendeine Förderchefin und irgendein ungläubiger Thomas von Fernsehredakteur sich mal hinstellen könnte und einfach zugeben: Wir hätten nicht gedacht, dass das was wird, dass dies irgendwer sehen will, dass Systemsprenger sich als einer der wichtigen Filme des Jahres und Abo-Preisabräumer entpuppt. Wir haben’s einfach nicht gewusst, weil wir eh vieles nicht wissen, und jetzt freuen wir uns. Und dann keine Förder-Chefin auf dem Teppich, kein Redakteur, sondern einfach hinten rechts in der Ecke freuen. Basta.
Demut, das könnte das deutsche Filmsystem von Systemsprenger lernen.
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Und der Rest?
Aufgabe von Kunst ist heute, Chaos in die Ordnung zu bringen, schrieb Adorno. Ich bin nicht sicher, ob das diesem Fim gelingt, ob er nicht eher auf recht clevere und intelligente und mitreißende Art das Gegenteil tut.
Aber wenn wir uns mal dumm stellen und den Film nicht inhaltistisch, sondern in seiner Wirkung wörtlich nehmen, dann lernen wie daraus, dass es immer darum geht, Systeme zu sprengen. Dass den Anarchisten die Zukunft gehört, denen, die sich trauen, Chaos in die Ordnung zu bringen und manchmal auch das Gegenteil. Film an sich ist so anarchistisch, wie es nur denkbar ist. Erst so ein Filmsystem prügelt den Anarchismus und die Phantasie aus ihm heraus.
Wo sind die Systemsprenger des
deutschen Films? Wann wird endlich das System des deutschen Films gesprengt?
Beim deutschen Filmpreis schon mal bestimmt nicht. Das macht diese Preise und diese Veranstaltung so verlogen.
Oder warten wir jetzt darauf, dass Corona dieses System sprengt?
Wo werden wir zu Systemsprengern? Wann sprengen wir den deutschen Film, wie er gerade ist? Es ist einfach, dieses Kind zu bewundern, dieses Kind zu lieben – selber aber nur Soldaten des Systems zu sein. Und das sind doch fast alle: Diener des Systems, Funktionäre des Systems, Apparatschiks des Systems. Man feiert Figuren, man feiert Charaktere, mit denen man selber nichts zu tun hat – auch nicht die Filmakademie.
Das gilt übrigens genau so für Berlin Alexanderplatz.
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Wer hat sich das angesehen? Offenbar nicht sehr viele. Dabei war es auch sonst eine Veranstaltung, die vieles über das Gute und alles über das Schlechte im deutschen Film verriet.
An diesen deutschen Filmpreis wird man sich in jedem Fall erinnern: Als eine Veranstaltung ohne Publikum, aber live in der ARD, bei der sich der Favorit durchgesetzt hat: Nora Fingscheidts Systemsprenger gewann acht von neun möglichen deutschen Filmpreisen – erwartbar, aber ziemlich langweilig für einen Abend, der ein bisschen Spannung dringend nötig hatte: Ohne Saalpublikum, ohne
Freudentränen oder irgendeine andere Form, von spontaner Regung auf der Bühne, ohne Party und Partystimmung.
Corona hatte auch hier fast alles verdorben.
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Um so mehr muss man den Machern des Deutschen Filmpreis gratulieren für das, was ihnen gegen alle Umstände gelang. Der eigentliche Star des Abends waren daher gar nicht die Filme, sondern der Moderator: Edin Hasanovic – meist allein im großen Saal musste er fortwährend gegen die leere Wand anreden. Er machte das mit Bravour. Und mit einer Lässigkeit, einer Ironie auch gegenüber Autoritäten, die dem deutschen Film ansonsten fehlt.
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Der Rest aber war das Übliche: Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerksamkeit für Drehbücher gäbe. Aber wenn sie es einmal besser machen können, dann kommen nur peinlich lässige oder überkandidelt geschwollene Reden der Laudatoren heraus. Zum Beispiel: Drehbücher sind nicht etwa etwas im Hirn oder im Herz, sondern gleich »in der Muskulatur der Autoren«. Jesses!!! Wer schreibt sowas?
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Manche Preise für Systemsprenger waren verdient, wie der für die Beste Regie, manche unverdient, wie der für die Beste Weibliche Nebenrolle, den unbedingt Jella Haase für Berlin Alexanderplatz hätte gewinnen müssen, und die allermeisten Preise gab es gar nicht für die jeweilige Einzelleistung, sondern weil eben die Allermeisten in allen Kategorien für diesen Film stimmten.
Denn Systemsprenger hat einfach alles, was im deutschen Film schon lange angesagt ist: Ein sozial relevantes Thema, ein Kind als Hauptfigur, eine Frau als Regisseurin.
Dazu kommt eine überzeugende Inszenierung und ein Glücksfall durch die Hauptdarstellerin, die 11-jährige Helena Zengel – sie allein, ihre Energie ist das Besondere dieses Films. Und doch gibt es Gründe zu finden,
dass sie besser einen Spezialpreis bekommen hätte, und nicht mit Erwachsenen konkurriert.
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Alle reden darüber, dass es zu wenig Aufmerksamkeit für Frauen gäbe. Aber wenn die Filmakademie es einmal besser machen könnte, dann versteckt sie sich hinter einer Nora Fingscheidt, die von allen Förderchefinnen vorher nur ein paar Förder-Brosamen erhalten hat, und nominiert Ina Weisses Das Vorspiel kein einziges Mal, und Kathrin Gebbes Pelikanblut sowie Mariko
Minoguchis Mein Ende. Dein Anfang. einfach nur je einmal in Nebenkategorien. Obwohl alle drei Filme zum besten halben Dutzend der Film-Auswahl des letzten Jahres gehörten. Sie wurden mehr oder weniger links liegen gelassen, wie die entsprechenden Frauenfiguren: In allen drei Fällen ist eine Frau die Hauptfigur, in zwei Fällen spielt Nina Hoss Mütter und dies komplett anders, als es die
immerzu leidend-liebenden Mütterklischees des deutschen Kinos zulassen.
Nichts davon beim Filmpreis sichtbar.
Auch das muss man der Ehrlichkeit halber und vor allem um dieser Filme willen auch erwähnen – und das ausdrücklich nicht um irgendeiner schematischen Gleichheit oder irgendwelcher Gender-Studien willen. Die sind mit herzlich egal.
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Man könnte weitere blinde Flecken der Filmakademie nennen, bei der sich ein ums andre Jahr das gehobene Mittelmaß und der größte Haufen durchsetzen.
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Dann die ungewohnten Einblicke in Wohnzimmer und Bürogebäude der Preisträger per Internetstream. Gelegentlich ruckelnde Bilder und Kommunikationsausfälle inbegriffen. Das gehört zu jener »Corona-Ästhetik«, an die wir alle uns vielleicht etwas zu schnell gewöhnt haben.
Aber keine Namen der Preisträger, die eingeblendet werden. Keine Bühnen-Show, die auch mit Abstand möglich gewesen wäre.
Stattdessen Kindereien. Und der peinliche Giovanni di Lorenzo aus seinem mit
ZEIT-Covern vollgepflasterten ZEIT-Büro bei einer sogenannten Laudatio für Edgar Reitz, die eher eine Laudatio für Giovanni di Lorenzo war, der zur Strafe von Reitz immerhin mal gesiezt und nicht vollgeduzt wurde.
Manche Preise für Systemsprenger waren verdient, wie der für die Beste Regie, manche unverdient, wie der für die Beste Weibliche Nebenrolle, den Jella Haase für Berlin Alexanderplatz hätte gewinnen müssen. Aber das Ärgerliche war, dass es die allermeisten Preise gar nicht für die jeweilige Einzelleistung gab, sondern weil eben die Allermeisten in allen Kategorien für diesen Film stimmten.
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Ein Sieg also des mittleren Realismus. Der die allermeisten deutschen Filme und nicht nur diese dominiert. Der sich die Wirklichkeit so zurecht biegt, dass sie aussieht, als wäre alles echt, und nicht gemacht. Der sie so forciert, dass sie ans Herz geht, aber ja nicht so, dass sie dauerhaft stört, und der nie wirklich irritierend und gefährlich ist.
Fast ein Wunder ist es, dass in diesem lauwarmen Einerlei des Mittelmaß, zwischen Deutschstunde und Lindenberg, zwischen dem gesprochenen Wort und Systemsprenger, in dem die biedere Strenge von Christian Petzolds Undine schon das äußerste Extrem an Kunstwillen markiert, und der knallige, aber inkonsequente Boulevard von »Ich war noch niemals in New York« als das Äußerste an kommerziellem Erfolgsrezept gilt – fast ein Wunder, dass ein wirklich künstlerisch aufregender und wie auch immer den Rahmen des Mittelmaßes sprengender Film wie Berlin Alexanderplatz immerhin vier Preise in den Nebenkategorien gewann und zum zweitbesten Film gekürt wurde. Immerhin!
Wir gratulieren!!
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Was den deutschen Film wirklich hart treffen wird, ist das fehlende Geld. Keine Einnahmen bei geschlossenen Kinos, keine Drehgenehmigungen und keine Aussicht auf Besserung.
Fast alle erwähnten die Not der Filmemacher und griffen – mal höflich, mal präzis, fast immer etwas zu freundlich – die Politiker an, die die Kunst, insbesondere das Kino, alleinlassen, weil sie es nicht als Lebensmittel begreifen.
Dass die Kunst, gerade das Kino als die breitenwirksamste, alle Gruppen, Milieus und Schichten der Gesellschaft vereinende Kunstform, nicht weniger wichtig ist, als Trinken und Essen, wird man hoffentlich begreifen, bevor es zu spät ist.