Die Corona-Herausforderung |
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In schönstem DOK.fest-Orange: Corona Diaries ist ein denkbar aktueller Film, der uns noch einmal in Erinnerung ruft, warum wir jetzt zuhause sitzen | ||
(Foto: Elke Sasse / DOK.fest München) |
Von Dunja Bialas
Er ist bekannt als Marathon-Man. DOK.fest-Leiter Daniel Sponsel hat seiner Liebe zum sportlichen Wettkampf vor einigen Jahren sogar eine eigene Reihe gewidmet. Kein Wunder also, dass das DOK.fest – zum Zeitpunkt des Shutdown bereits vollständig vorbereitet – im Corona-Jahr 2020 weder abgesagt noch verschoben wird. Sondern in die virtuelle Ausgabe startet. Schließlich ist dies eine neue Herausforderung, die nebenbei auch ein paar Modernisierungseffekte verspricht. Und außerdem, wie Sportler wissen: die Performance wächst mit der Challenge.
Sponsel ist fasziniert von Statistiken und Kurven, aber nur wenn sie steil ansteigen. Dies war in den letzten Jahren, wenn er die Erfolgszahlen des DOK.fest präsentierte, immer der Fall. Durch verschiedene Veränderungen in der Festivalstruktur (wie z.B. eine verlängerte Festivalzeit, mehr Spielorte, mehr Filme und mehr Wiederholungen) konnte das Münchner Publikumsfestival zuletzt seine Zuschauerzahl auf 55.000 steigern und damit das große Premierenfestival DOK Leipzig (48.000) überholen. »Flatten the curve« akzeptiert der DOK.fest-Leiter nur, wenn es um die Ausbreitung des Corona-Virus geht.
Daher kann bereits jetzt davon ausgegangen werden, dass »DOK.fest@home«, so der fancy Titel der virtuellen Ausgabe, von Erfolg gekrönt sein wird. Zu den Erfahrungen von Online-Festivals gibt es bereits erste Fallstudien: EMAF in Osnabrück und Lichter in Frankfurt wurden virtuell abgehalten, allerdings als reduzierte Ausgaben. Das große Schweizer Dokumentarfilmfestival »Visions du Réel« vermeldete vor knapp einer Woche den Abschluss einer äußerst erfolgreichen Online-Edition mit 60.500 Sichtungen, was die Latte fürs DOK.fest ziemlich hoch legt. Die Chance eines virtuellen Festivals besteht vor allem darin, die Zielgruppen und Grenzen auszuweiten und damit die Reichweite der Filme und ihre Zuschauerzahl zu erhöhen. Das kann toll sein für Menschen auf dem Land oder nicht mehr ganz so ausgehfreudige Zeitgenossen.
Es kann aber auch ein Problem darstellen, wenn regionale Veranstaltungen plötzlich global, zumindest aber über die Stadt- oder gar Landesgrenzen hinaus abrufbar werden. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen, die nicht so technikaffin sind, schlichtweg abgehängt werden. Online-Kultur ist dann plötzlich nicht mehr »Kultur für alle«, wie es die niederschwellige Kinokultur eigentlich möglich macht.
Letzteres kann das DOK.fest nicht richten, auch wenn es eine Hotline für technische Soforthilfe anbietet. Die Reichweite hat das DOK.fest absichtlich begrenzt, während Nyon seine Filme zum größten Teil auch außerhalb der eidgenössischen Landesgrenzen verfügbar gemacht hat. Alle DOK.fest-Streams sind durch Geoblocking nur in Deutschland abrufbar, für einige Filme gibt es außerdem die Beschränkung auf wenige Tage oder eine bestimmte Anzahl an Zugriffen. Sponsel konnte außerdem erwirken, dass der Stream bei DOK.fest@home als Kino- und nicht als Onlinescreening gewertet wird. Eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Filme später nicht für die weitere Auswertung und Förderung »verbrannt« sind. Alles wichtige Punkte für das Weiterleben der Filme auch nach dem virtuellen Festival.
Gegenüber der ursprünglichen Planung musste Sponsel unter dieser Reichweiten-Limitierung sein Programm kaum reduzieren. 121 Filme (statt der geplanten 159) werden bereitgestellt, mit einer großen Bandbreite der Themen – siehe dazu unser artechock-Special. Die Anzahl der Reihen wurde erhalten. Neben den Wettbewerben DOK.international, DOK.deutsch mit deutschsprachigen Dokumentarfilmen und DOK.horizonte mit Filmen »aus Ländern im Umbruch« gibt es elf weitere Reihen, die das Programm untergliedern, darunter auch die neugeschaffene Sektion DOK.music. Hinter dem diesjährigen Themenschwerpunkt »DOK.focus lasting memories« verbergen sich Filme zu den Erinnerungen von Zeitzeugen – und ihren Nachwirkungen auf die Nachfahren. Zu dieser Reihe gehört auch der tolle The Euphoria Of Being, mit dem am Mittwoch das DOK.fest im leeren Deutschen Theater eröffnet wurde – es hätte auch eine Nummer kleiner sein können, aber der sichtbare Zuschauer-Verlust kam eindrucksvoll rüber.
Es gibt eine Vielzahl an Gesprächen mit Regisseur*innen und Protagonist*innen der Filme zu entdecken, die zum größten Teil als Video vorab produziert wurden. Dies ist für schlechter budgetierte Festivals bereits Usus, wo Video-Grußbotschaften sichtbar machen, dass keine Gäste eingeladen werden können. Letzteres gilt auch für Zeiten des Social Distancing. Das DOK.fest streamt zudem mehr als zehn Live-Q&As, die dem Publikum die Möglichkeit bieten, per Chat Fragen an die Moderation heranzutragen – ein bewährtes Vorgehen bei Live-Youtube-Videos. (Hier geht es zu den fixen Terminen.)
Der Zugriff auf die Filme ist, anders als beim Schweizer »Visions du Réel«, kostenpflichtig. 4,50 € zahlt man für einen Stream, bei dem natürlich auch die WG oder der Partner daheim mitgucken kann. Die Kostenschranke macht ein wahlloses Anklicken der Filme unwahrscheinlich und verhindert hoffentlich auch, dass der Film irgendwann abgebrochen wird – beides bekannte Probleme der Flatrate-Mentalität. Zum Zuendegucken hat man übrigens 24 Stunden Zeit, man kann also zum Abendessen oder für die Hausaufgabenbetreuung unterbrechen.
Der Praxistest mit »Visions du Réel« hat allerdings auch Erfahrungswerte geliefert, der nicht in Erfolgs- oder anderen Zahlen zu messen ist. Auf der Hand liegt, dass eine Videobegegnung, ob Live oder aus der Konserve, die echte Begegnung nicht ersetzt. Nicht unterschätzen sollte man außerdem, wenn man sich Dokumentarfilme ins Wohnzimmer holt, dass man in den eigenen vier Wänden unter Umständen mit schwierigen Themen konfrontiert wird, die sich im kollektiven Sehen und im neutralen Kinoraum oftmals besser aushalten lassen. Meiden sollte man sie jedoch nicht. Auch ist es deutlich schwieriger, ein Festival in seinen Alltag daheim zu integrieren, als sich für einen Kinobesuch mit Freunden zu verabreden. Freizeit ist auch eine Auszeit – und diese ist Zuhause deutlich schwerer herzustellen, das haben sieben Wochen Corona-Quarantäne gelehrt.
Virtuell lässt sich natürlich auch Etliches schlichtweg nicht kompensieren. Der unmittelbare Kontakt mit den Akteur*innen der Filme, die man vor Ort selbst ansprechen kann, die zufälligen Gespräche mit anderen Zuschauer*innen, die Verlängerung des Filmerlebnisses ins Café nebenan, das alles bricht jetzt weg.
Aber nicht nur die Cafés gucken in die Röhre, wenn sich ein Festival ins Internet verlagert. Vor allem gehen auch die Kinos leer aus, die sonst immer ihre Räume, Technik und Fachkraft zur Verfügung stellen. Das DOK.fest bietet daher auch die Möglichkeit, einen Soli-Euro auf das Online-Ticket draufzulegen, vom Festivalpass (50 Euro) gehen insgesamt 3 Euro an die Partnerkinos City-Kinos, Maxim und Rio-Filmpalast. (Hier geht es zum Spendenkonto.) Das ist ehrenwert, lässt aber trotzdem die Frage aufkommen, ob das Festivalbudget nicht statt der Publikums-Kollekte eine veritable, kalkulierbare Ausfallmiete hergegeben hätte. Schließlich verdankt das DOK.fest, das dieses Jahr zum 35. Mal stattfindet, seine Bekanntheit auch den Orten des Kinos, die es erst zu dem werden ließen, wie es heute heißt: ein Fest.
Vorläufiges Fazit bleibt: Das »New Normal« von Festivals kann auch über Corona hinaus bedeuten, digitale Formate stärker in das Festivalgeschehen zu integrieren, wie die Übertragung von Gesprächen ins Netz oder die partielle Online-Verfügbarmachung der Filme. Abschaffen jedoch wird auch Corona die Filmfestivals in realen Kinos mit Sitznachbarn und anwesenden Gästen nicht. Denn Content ersetzt, bei aller aufgebotenen technischen Anstrengung, eben doch nicht das gemeinschaftliche Kulturerlebnis.