Happy virtual live! |
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Ein ungewöhnlicher Sommer: Der sehenswerte Film von Kamal Aljafari läuft jetzt bei den »Visions du Réel« | ||
(Foto: Doha Film Institut) |
Von Dunja Bialas
»Was wir jetzt vor uns haben, ist eine Neukonfiguration dessen, wie wir audiovisuelle Unterhaltung wahrnehmen, und ich glaube nicht, dass wir jemals wieder dahin zurückkehren werden, wo wir vor sechs Monaten waren. Ich habe diese ganz neue Theorie, die ich gerade auf Facebook gepostet habe, darüber, wie man eine neue Gemeinschaft mit virtuellen Filmfestivals, virtuellen Kritikern, Zoom-Gemeinschaften, virtuellen roten Teppichen schafft und einfach die Tatsache akzeptiert, dass das Kino tot ist. Vielleicht für immer.«
So Regisseur Paul Schrader in einem Interview mit »Vulture«.
Moment mal, Herr Schrader, virtuelle Kritiker? Was meinen Sie damit? Und was meinen Sie mit »virtuelle rote Teppiche«? Ist nicht Instagram ein einziger virtueller roter Teppich? Und was sind denn Zoom-Gemeinschaften? Ist »Zoom« nicht wesentlich dazu da, »Gemeinschaften« herzustellen?
Unabhängig davon, dass die beste Zeit für den New-Hollywood-Veteranen Paul Schrader ohnehin schon vorbei ist und er jetzt leichthin das Ende des Kinos herbeireden kann, sei hier all jenen gesagt, die diesen Post geliked haben: Man sollte doch einmal kurz nachdenken, bevor man bei solchen Äußerungen den »Gefällt mir«-Button drückt. Welche Implikationen haben denn diese Äußerungen von Paul Schrader, falls man sie ernst nimmt? Sollte man sich nicht eher gegen die Propagierung des Virtuellen im Zeichen von Corona zur Wehr setzen, damit man wieder ins analoge Leben zurückkehren kann? Und sollte man sich nicht lieber mit dem Kino solidarisieren, als es mit einem Unterton der Genugtuung für »tot« zu erklären, wie dies Schrader tut?
Wie sexy virtuelle Filmfestivals sind – die übrigens als online-Festivals nicht als Festivals eingestuft werden, zumindest nicht zu Normalzeiten –, kann man derzeit beim Dokumentarfilmfestival »Visions du Réel« erleben. Soll ich dazu sagen, dass es in Nyon liegt, in der Nähe von Rolle, wo Jean-Luc Godard und Jean-Marie Straub wohnen? Oder ist das jetzt egal? Nicht nur, dass man nicht aus einem dunklen Kinosaal treten kann, und in der Ferne den Genfer See liegen sieht. Nicht nur, dass man sich keine Gedanken darüber macht, wie die Filmauswahl des Festivals mit einem speziellen Schweizer Standpunkt zu tun hat – oder vielleicht auch nicht? Nicht nur, dass man keine Menschen trifft, keine Gespräche über die Filme, die man gesehen hat, führen kann, sich weder über die Schweizer Espresso-Preise echauffieren noch bis spät in die Nacht mit freudeerfüllten Filmstudenten tanzen kann. Jede räumliche oder erlebnisweltiche Vorstellung über dieses Festival ist obsolet. Daher hat man auch nichts davon, es sich in Nyon vorzustellen. Eher noch in »Nyon«, mit den Anführungszeichen der Virtualität.
Man starrt jetzt, wie jeden Tag und fast jeden Abend, in seinen Rechner und guckt Bewegtbild, jetzt also auch für ein Festival. Die virtuelle Eröffnung von »Visions du Réel« hat mich auch in den binnenmedialen Maßstäben dermaßen frustriert – wo bitte war die versprochene Übertragung der Reden – wo ein sichtbares Opening? – dass ich mich ernüchtert wieder meiner To-do-Liste zugewandt habe, die hier vor Ort, also an meinem Schreibtisch, auf mich wartet. Anders natürlich als auf einer Festivalreise, wo ich diesen Alltag zwangsläufig hinter mir lasse. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt nur wegen Corona mehr Festivalfilme gucken kann. Festivalbesuche sind immer verbunden mit einer Auszeit, mit einem Fest, einer widerständigen, karnevalesken Zeit. Und die bleibt aus, im Zuge wie auch der Stream of moving images nicht abbricht.
Dabei hatte »Visions du Réel« den Eröffnungsfilm denkbar gut ausgewählt, und diesen habe ich dann auch gesehen, zwischendurch, als ich die Zeit fand. Reunited von Mira Jargil erzählt von einer syrischen Familie, die durch die Flucht getrennt wurde. Die Mutter kam nach Dänemark, der Vater nach Kanada, während die beiden Kinder immer noch in der Türkei festsitzen. Jargil ist Dänin, und so ist der Film auch überwiegend aus der Perspektive der Mutter erzählt.
Zu Beginn erfährt man – und das macht die Wahl des Films in unserer Zeit zum erhellenden Spiegel –, wie die Mutter aus ihrem Alltag mit ihrem Mann kommuniziert und versucht, ihre Kinder aus der Ferne zu erziehen. Wir selbst stöhnen schon ob des »Social distancing«, das uns allmählich gehörig zusetzt. Die syrische Familie erlebt jedoch über Monate »Distant mothering« und »Distant marriage«, was uns sogar noch als »Fernehe« romantisierbar erscheint. Wäre sie denn frei gewählt.
Das Medium, mit der die Mutter den Kontakt zu ihrer Familie hält, ist uns heute bestens vertraut: Facetime und Skype. Über den Schmerz und die Trauer, nicht als Familie zusammensein zu können, zeigt sich in Reunited, wie diese Medien zwar die Möglichkeit bieten, immerhin den Kontakt zu halten, aber nur als kümmerliche Prothese. Das humanitäre Schicksal dieser Menschen können sie nicht tilgen, und wenn man noch so sehr über den Bildschirm der smarten Devices wischt.
So zeigt Reunited – dessen Titel zum Glück ein Spoiler ist –, dass 1. wir aufhören sollten, unsere momentane Kontaktsperre allzu schwer zu nehmen, 2. diese nicht wirklich die Grundrechte außer Kraft setzt, höchstens vorübergehend suspendiert. Der Film erinnert auch daran, dass 3. dies in anderen Ländern nicht der Fall ist, und 4. das Leben in einem geteilten, analogen Raum alternativlos ist. Das analoge Leben ist alternativlos! Nicht umgekehrt, Herr Schrader!
Natürlich ist es schön, dass »Visions du Réel« jetzt mit einer globalen Community die kostenlos abrufbaren Filme teilt. Das birgt aber auch Probleme. Für diese Woche meldet die Website, dass bereits alle Streams »sold out« sind. Aufgrund der Rechtelage für diese überwiegend in Weltpremiere gezeigten Filme muss es Zugangsbeschränkungen geben, und die ergibt sich jetzt anhand der Anzahl der gelösten »Tickets«, wie im echten Kinosaal. Dass die Filme international abrufbar sind, macht sie zudem für eine weitere Verwertung auf Festivals, die Premieren vorschreiben, zumindest problematisch. Für die Besucher bedeutet die Beschränkung, dass man dann wenigstens weiterhin die Aufgabe, wie bei einem Festivalbesuch, hat, im Vorfeld das Programm zu studieren und sich auf »Filmbesuche« festzulegen, was einen auch in Stress bringen kann. In super Eu-Stress natürlich.
Ab Samstag, dem 25. April, kann man dann bis zum 5. Mai den zweiten Schwung Festivalfilme sehen. Persönlich möchte ich den deutsch-palästinensischen Unusual Summer von Kamal Aljafari empfehlen, der allein schon vom Titel her wieder gut in unsere Zeit zu passen scheint. In ihm installiert der Vater des Filmemachers wegen Randalierereien vor seinem Haus eine Überwachungskamera und überträgt damit das Leben draußen in sein Wohnzimmer. Hätte ich auch machen sollen, bevor mir vorgestern mein Rad geklaut wurde, das wegen Corona zu lange unbewegt vor der Haustür stand!
Ein Tipp ist auch der in Co-Regie von Daniel Hoesl und Julia Niemann entstandene Davos, ein beobachtender Dokumentarfilm über das Dorf der Reichsten und damit auch über die Funktionsweisen des postmodernen Kapitalismus. Hoesl kennt man für seine reduzierten, experimentellen Spielfilme wie Soldat Jeannette oder WiNWiN.
Oder, endlich, der neue Film des Luzerner Regisseurs Thomas Imbach, dessen Spielfilm Lenz oder die fiktive Autobiographie Day Is Done auch bei uns im Kino zu sehen waren. In letzterem hat er den Blick aus seinem Fenster mit Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter zu einer melancholischen Erzählung über sich als »Arschloch« kompiliert (die Anrufe stammten meist von Frauen, die er schäbig behandelt hat, sollte man vielleicht dazusagen). Sein neuer Flm, Nemesis, ist stilistisch ähnlich. Wieder der Blick aus dem Fenster der Wohnung des Filmemachers, diesmal auf den alten Güterbahnhof, der aus der Ferne herangezoomt (!) und während der Dreharbeiten zum Gefängnis und zu einer Polizeistation umgebaut wird. Begleitet wird dies von dem inneren Monolog des Betrachters, so, wie wir das gerade selbst auch praktizieren, wenn wir zu viel aus dem Fenster gucken.
Dass auch dieser Film schon wieder so gut zu unserer Zeit passt, ist purer Zufall. Oder? Daher sei jetzt noch ganz willkürlich ein Film aus dem Programm herausgepickt. Nein, lieber nicht der iranische Fish Eye von Amin Behroozzadeh, da geht es allein vom Titel her wieder um Kameras (und um die zwangsläufige Ausgangssperre auf einem Boot für Fischfang). Auch besser nicht der venezuelanische El Father Plays Himself von Mo Scarpelli, das Foto sieht nach erweiterter Selfie-Anordnung in Einsamkeit aus (in der Tat sind Vater und Sohn getrennt, und der Sohn macht einen Film mit ihm). Vielleicht Off The Road, ein mexikanisch-amerikanischer Film von Jose Permar? Da sind Jungs mit Gitarren auf dem Bild. Ja, das könnte etwas sein, ein Western-Musical, das in der Wüste von Mexiko spielt, am Off-Road-Parcours von »La Baja 1000«. Wobei, Konzerte, die von woanders auf unsere Bildschirme übertragen werden – das haben wir jetzt auch schon jeden Tag.
Happy virtual live!