23.04.2020

Happy virtual live!

An Unusual Summer
Ein ungewöhnlicher Sommer: Der sehenswerte Film von Kamal Aljafari läuft jetzt bei den »Visions du Réel«
(Foto: Doha Film Institut)

Paul Schrader propagiert virtuelle Festivals. Unterdessen hat das große Dokumentarfilmfestival »Visions du Réel« seine virtuelle Edition eröffnet. Ist es noch wichtig zu wissen, dass es aus dem Schweizerischen Nyon kommt?

Von Dunja Bialas

»Was wir jetzt vor uns haben, ist eine Neukon­fi­gu­ra­tion dessen, wie wir audio­vi­su­elle Unter­hal­tung wahr­nehmen, und ich glaube nicht, dass wir jemals wieder dahin zurück­kehren werden, wo wir vor sechs Monaten waren. Ich habe diese ganz neue Theorie, die ich gerade auf Facebook gepostet habe, darüber, wie man eine neue Gemein­schaft mit virtu­ellen Film­fes­ti­vals, virtu­ellen Kritikern, Zoom-Gemein­schaften, virtu­ellen roten Teppichen schafft und einfach die Tatsache akzep­tiert, dass das Kino tot ist. Viel­leicht für immer.«

So Regisseur Paul Schrader in einem Interview mit »Vulture«.

Moment mal, Herr Schrader, virtuelle Kritiker? Was meinen Sie damit? Und was meinen Sie mit »virtuelle rote Teppiche«? Ist nicht Instagram ein einziger virtu­eller roter Teppich? Und was sind denn Zoom-Gemein­schaften? Ist »Zoom« nicht wesent­lich dazu da, »Gemein­schaften« herzu­stellen?

Unab­hängig davon, dass die beste Zeit für den New-Hollywood-Veteranen Paul Schrader ohnehin schon vorbei ist und er jetzt leichthin das Ende des Kinos herbei­reden kann, sei hier all jenen gesagt, die diesen Post geliked haben: Man sollte doch einmal kurz nach­denken, bevor man bei solchen Äuße­rungen den »Gefällt mir«-Button drückt. Welche Impli­ka­tionen haben denn diese Äuße­rungen von Paul Schrader, falls man sie ernst nimmt? Sollte man sich nicht eher gegen die Propa­gie­rung des Virtu­ellen im Zeichen von Corona zur Wehr setzen, damit man wieder ins analoge Leben zurück­kehren kann? Und sollte man sich nicht lieber mit dem Kino soli­da­ri­sieren, als es mit einem Unterton der Genug­tuung für »tot« zu erklären, wie dies Schrader tut?

Stream of moving images

Wie sexy virtuelle Film­fes­ti­vals sind – die übrigens als online-Festivals nicht als Festivals einge­stuft werden, zumindest nicht zu Normal­zeiten –, kann man derzeit beim Doku­men­tar­film­fes­tival »Visions du Réel« erleben. Soll ich dazu sagen, dass es in Nyon liegt, in der Nähe von Rolle, wo Jean-Luc Godard und Jean-Marie Straub wohnen? Oder ist das jetzt egal? Nicht nur, dass man nicht aus einem dunklen Kinosaal treten kann, und in der Ferne den Genfer See liegen sieht. Nicht nur, dass man sich keine Gedanken darüber macht, wie die Film­aus­wahl des Festivals mit einem spezi­ellen Schweizer Stand­punkt zu tun hat – oder viel­leicht auch nicht? Nicht nur, dass man keine Menschen trifft, keine Gespräche über die Filme, die man gesehen hat, führen kann, sich weder über die Schweizer Espresso-Preise echauf­fieren noch bis spät in die Nacht mit freude­er­füllten Film­stu­denten tanzen kann. Jede räumliche oder erleb­nis­welt­iche Vorstel­lung über dieses Festival ist obsolet. Daher hat man auch nichts davon, es sich in Nyon vorzu­stellen. Eher noch in »Nyon«, mit den Anfüh­rungs­zei­chen der Virtua­lität.

Man starrt jetzt, wie jeden Tag und fast jeden Abend, in seinen Rechner und guckt Bewegt­bild, jetzt also auch für ein Festival. Die virtuelle Eröffnung von »Visions du Réel« hat mich auch in den binnen­me­dialen Maßstäben dermaßen frus­triert – wo bitte war die verspro­chene Über­tra­gung der Reden – wo ein sicht­bares Opening? – dass ich mich ernüch­tert wieder meiner To-do-Liste zugewandt habe, die hier vor Ort, also an meinem Schreib­tisch, auf mich wartet. Anders natürlich als auf einer Festi­val­reise, wo ich diesen Alltag zwangs­läufig hinter mir lasse. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt nur wegen Corona mehr Festi­val­filme gucken kann. Festi­val­be­suche sind immer verbunden mit einer Auszeit, mit einem Fest, einer wider­stän­digen, karne­val­esken Zeit. Und die bleibt aus, im Zuge wie auch der Stream of moving images nicht abbricht.

Das analoge Leben ist alter­na­tivlos

Dabei hatte »Visions du Réel« den Eröff­nungs­film denkbar gut ausge­wählt, und diesen habe ich dann auch gesehen, zwischen­durch, als ich die Zeit fand. Reunited von Mira Jargil erzählt von einer syrischen Familie, die durch die Flucht getrennt wurde. Die Mutter kam nach Dänemark, der Vater nach Kanada, während die beiden Kinder immer noch in der Türkei fest­sitzen. Jargil ist Dänin, und so ist der Film auch über­wie­gend aus der Perspek­tive der Mutter erzählt.

Zu Beginn erfährt man – und das macht die Wahl des Films in unserer Zeit zum erhel­lenden Spiegel –, wie die Mutter aus ihrem Alltag mit ihrem Mann kommu­ni­ziert und versucht, ihre Kinder aus der Ferne zu erziehen. Wir selbst stöhnen schon ob des »Social distancing«, das uns allmäh­lich gehörig zusetzt. Die syrische Familie erlebt jedoch über Monate »Distant mothering« und »Distant marriage«, was uns sogar noch als »Fernehe« roman­ti­sierbar erscheint. Wäre sie denn frei gewählt.

Das Medium, mit der die Mutter den Kontakt zu ihrer Familie hält, ist uns heute bestens vertraut: Facetime und Skype. Über den Schmerz und die Trauer, nicht als Familie zusam­men­sein zu können, zeigt sich in Reunited, wie diese Medien zwar die Möglich­keit bieten, immerhin den Kontakt zu halten, aber nur als kümmer­liche Prothese. Das huma­ni­täre Schicksal dieser Menschen können sie nicht tilgen, und wenn man noch so sehr über den Bild­schirm der smarten Devices wischt.

So zeigt Reunited – dessen Titel zum Glück ein Spoiler ist –, dass 1. wir aufhören sollten, unsere momentane Kontakt­sperre allzu schwer zu nehmen, 2. diese nicht wirklich die Grund­rechte außer Kraft setzt, höchstens vorü­ber­ge­hend suspen­diert. Der Film erinnert auch daran, dass 3. dies in anderen Ländern nicht der Fall ist, und 4. das Leben in einem geteilten, analogen Raum alter­na­tivlos ist. Das analoge Leben ist alter­na­tivlos! Nicht umgekehrt, Herr Schrader!

Spiegel unserer Zeit

Natürlich ist es schön, dass »Visions du Réel« jetzt mit einer globalen Community die kostenlos abruf­baren Filme teilt. Das birgt aber auch Probleme. Für diese Woche meldet die Website, dass bereits alle Streams »sold out« sind. Aufgrund der Rech­telage für diese über­wie­gend in Welt­pre­miere gezeigten Filme muss es Zugangs­be­schrän­kungen geben, und die ergibt sich jetzt anhand der Anzahl der gelösten »Tickets«, wie im echten Kinosaal. Dass die Filme inter­na­tional abrufbar sind, macht sie zudem für eine weitere Verwer­tung auf Festivals, die Premieren vorschreiben, zumindest proble­ma­tisch. Für die Besucher bedeutet die Beschrän­kung, dass man dann wenigs­tens weiterhin die Aufgabe, wie bei einem Festi­val­be­such, hat, im Vorfeld das Programm zu studieren und sich auf »Film­be­suche« fest­zu­legen, was einen auch in Stress bringen kann. In super Eu-Stress natürlich.

Ab Samstag, dem 25. April, kann man dann bis zum 5. Mai den zweiten Schwung Festi­val­filme sehen. Persön­lich möchte ich den deutsch-paläs­ti­nen­si­schen Unusual Summer von Kamal Aljafari empfehlen, der allein schon vom Titel her wieder gut in unsere Zeit zu passen scheint. In ihm instal­liert der Vater des Filme­ma­chers wegen Randa­lie­re­reien vor seinem Haus eine Über­wa­chungs­ka­mera und überträgt damit das Leben draußen in sein Wohn­zimmer. Hätte ich auch machen sollen, bevor mir vorges­tern mein Rad geklaut wurde, das wegen Corona zu lange unbewegt vor der Haustür stand!

Ein Tipp ist auch der in Co-Regie von Daniel Hoesl und Julia Niemann entstan­dene Davos, ein beob­ach­tender Doku­men­tar­film über das Dorf der Reichsten und damit auch über die Funk­ti­ons­weisen des post­mo­dernen Kapi­ta­lismus. Hoesl kennt man für seine redu­zierten, expe­ri­men­tellen Spiel­filme wie Soldat Jeannette oder WiNWiN.

Oder, endlich, der neue Film des Luzerner Regis­seurs Thomas Imbach, dessen Spielfilm Lenz oder die fiktive Auto­bio­gra­phie Day Is Done auch bei uns im Kino zu sehen waren. In letzterem hat er den Blick aus seinem Fenster mit Nach­richten auf seinem Anruf­be­ant­worter zu einer melan­cho­li­schen Erzählung über sich als »Arschloch« kompi­liert (die Anrufe stammten meist von Frauen, die er schäbig behandelt hat, sollte man viel­leicht dazusagen). Sein neuer Flm, Nemesis, ist stilis­tisch ähnlich. Wieder der Blick aus dem Fenster der Wohnung des Filme­ma­chers, diesmal auf den alten Güter­bahnhof, der aus der Ferne heran­ge­zoomt (!) und während der Dreh­ar­beiten zum Gefängnis und zu einer Poli­zei­sta­tion umgebaut wird. Begleitet wird dies von dem inneren Monolog des Betrach­ters, so, wie wir das gerade selbst auch prak­ti­zieren, wenn wir zu viel aus dem Fenster gucken.

Dass auch dieser Film schon wieder so gut zu unserer Zeit passt, ist purer Zufall. Oder? Daher sei jetzt noch ganz will­kür­lich ein Film aus dem Programm heraus­ge­pickt. Nein, lieber nicht der iranische Fish Eye von Amin Behrooz­zadeh, da geht es allein vom Titel her wieder um Kameras (und um die zwangs­läu­fige Ausgangs­sperre auf einem Boot für Fischfang). Auch besser nicht der vene­zue­la­ni­sche El Father Plays Himself von Mo Scarpelli, das Foto sieht nach erwei­terter Selfie-Anordnung in Einsam­keit aus (in der Tat sind Vater und Sohn getrennt, und der Sohn macht einen Film mit ihm). Viel­leicht Off The Road, ein mexi­ka­nisch-ameri­ka­ni­scher Film von Jose Permar? Da sind Jungs mit Gitarren auf dem Bild. Ja, das könnte etwas sein, ein Western-Musical, das in der Wüste von Mexiko spielt, am Off-Road-Parcours von »La Baja 1000«. Wobei, Konzerte, die von woanders auf unsere Bild­schirme über­tragen werden – das haben wir jetzt auch schon jeden Tag.

Happy virtual live!