Wenn du dir vorstellst… |
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Durchbricht die verschlossenen Türen zum Imaginären: Fauna von Nicolás Pereda |
Von Dunja Bialas
Mit wenigen Namen lässt sich das neue Festival auf die Leinwand skizzieren. Fünfzehn Filme haben Sascha Keilholz, der neue Leiter des traditionsreichen Festivals Mannheim Heidelberg, und Filmkritiker Frédéric Jaeger (Programmorganisation) in den internationalen Wettbewerb geschickt. »On the Rise« haben sie ihn genannt. Das sind aufstrebende Namen, finden sie, vielleicht verheißungsvolle, die auf eine mögliche Zukunft des Kinos hindeuten (siehe unser Interview). Die Verdichtung auf wenige Werke ist wesentlich, noch letztes Jahr zeigte Mannheim unter der alten Leitung über dreißig Filme im (damals noch undotierten) Wettbewerb, das ergab eine lange Liste Unbekannter. Denn den Filmen von Mannheim-Heidelberg kam stets der Nimbus des unbeschriebenen Blattes zu, es sind sogenannte »Newcomer«, die hier seit 69 Jahren gezeigt werden. Keilholz sagt heute, dass es schwierig sei, angesichts der Vielzahl der Festivals weltweit noch originäre Entdeckungen zu machen. Aber das ist auch gar nicht sein Anspruch. Ihn interessieren neue, interessante Filmsprachen an den Rändern der Kinematographien, die womöglich die der next generation sein werden.
»On the Rise«: die Newcomer sind jetzt auch Autorinnen und Autoren, die mit ihren Filmen schon Preise, sogar etliche, bekommen haben. Wie zum Beispiel die Georgierin Dea Kulumbegashvili. Sie hat mit ihrem strengen, auch verstörenden Debüt Dasatskisi (Beginning) über eine Frau in den repressiven patriachalen Strukturen Georgiens (das erinnert auch an Scary Mother [Regie: Ana Urushadze] und andere georgische Filme mit Seziermesser-Szenario) die wichtigen Preise des Festivals San Sebastian abgeräumt, ein Debüt mit 34 Jahren. Sie ist wie andere auch aber keine frisch Diplomierte, Mannheim ist kein Hochschulfilmfestival.
Die fünfzehn Filme des Wettbewerbs könnte man relativ leicht in den Gesamtblick nehmen, wäre man nur im Homeoffice nicht immer von den Störgeräuschen des Alltags empfindlich abgelenkt, von den Mails und Telefonaten, sogar von der Novembersonne, die ins Zimmer hereinbricht und das Filmesehen unmöglich machen. Wo bleibt nur der Hochnebel? Und, mittlerweile rhetorische Frage: Warum nur sind die Kinos zu?
De l’or pour les chiens (Gold For Dogs) der Französin Anna Cazenave Cambet lässt sich unter der Novembersomme gut an. Der Film premierte (virtuell) in der »Semaine de la Critique« von Cannes und ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die erste (enttäuschte, aber nicht aufgegebene) Liebe am Strand. Oder Lorelei der in den USA lebenden Britin Sabrina Doyle, ein vage an Andrea Arnolds American Honey erinnerndes Lehrstück über das White Trash America. Das märchenhafte Happy End ist reinster Eskapismus angesichts Trumps Amerika, sozialrealistisches Kino, das an den guten Ausgang glaubt, warum nicht? Ergreifend und wunderbar kitschig ist das.
Zum Wettbewerb der Newcomer kommen die Spuren derer, die mit ihrer Stimme und Handschrift das Weltkino abseits der Märkte schon länger verändern und behutsam in andere Gefilde navigieren. Der älteste unter ihnen (vielleicht der älteste aller heute noch aktiven Filmemacher überhaupt?) ist Frederick Wiseman. Der 90-jährige US-Amerikaner passt vermutlich nicht ganz in das Konzept der narrativen Filme von Mannheim-Heidelberg. Aber natürlich gilt: sein direct cinema sind starke Erzählungen mit den Mitteln des Dokumentarfilms, die filmisch-meditativ über das Funktionieren von Sozial-Systemen westlich-demokratischer Prägung nachdenken. Wiseman begreift die Systeme der abstrakten Gesellschaft wie einen lebendigen Organismus, den er in seine einzelnen Funktionen zerlegt. Es kommen heraus: dichte, analytische, situative Innenblicke. So auch City Hall, eine Bestandsaufnahme der Arbeit von Marty Walsh, demokratischer Bürgermeister von Boston. Der Film ist ein Fanal gegen den Niedergang der Demokratie unter Donald Trump und eine Liebeserklärung an die Einwohner, wie es zuvor schon Monrovia, Indiana (2018) (nur anders) war. Viereinhalb Stunden dauert Wisemans neuer Film, oder: zwei ausgedehnte Sichtungsfenster im Alltag. So viel Zeit muss sein.
»Pushing the Boundaries« hat Keilholz diese neue Reihe mit den nicht mehr neuen Namen genannt, um auch den Werdegang der Newcomer begleiten zu können. Filmemacher wie Wiseman oder der Philippine Lav Diaz, der schon seit längerem fest im Programm der mutigeren Festivals verankert ist, zeigen, dass es Keilholz bei den »Newcomern« v.a. auch um ästhetische Neuerungen geht, um kinematographische Linien, die aus der öden Sackgasse herausführen, in die sich das Kino mit Konfektionsware oder folkloristisch-ethnologischem Welt- und Themenkino hineinmanövriert hat. Nicolás Pereda kann man noch beispielhaft hinzufügen, vor wenigen Jahren war er noch einer der jungen Regisseure, die das Herz erstmals hochschlagen ließen. Jetzt auch wieder und immer noch: überwältigendes Understatement. In Fauna möchte man sich direkt hineinbegeben, eine der Türen aufmachen, die die verschachtelte Erzählung schon offenhält (für alle, die an Erzähltheorie Spaß haben: von der Diegesis zur Meta-Diegesis zur Meta-Meta-Diegesis). Ausgangspunkt ist ein »Narcos«-Darsteller, der in einem einsamen Bled in Mexiko Zigaretten kaufen möchte, und ein Literaturversessener, der von einem Reclam-Bändchen ausgehend die narrativen Grenzen öffnet: Pushing the boundaries.
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Weder für den Eröffnungsfilm noch den Abschlussfilm ist jetzt noch Zeit. Wer mehr dazu wissen will, kann am Freitag die Festivalwebsite im Live-Format aufsuchen: Um 19 Uhr sind Filmkritiker Nino Klingler und ich im Gespräch über u.a. den israelischen Eröffnungsfilm The Death of Cinema and My Father von Dani Rosenberg und auch den französischen Abschlussfilm A l’abordage von Guillaume Brac. Davor versuche ich noch mindestens aus der Retrospektive »Le deuxième souffle« zu sehen: La fiancée du pirate (1969) der soeben verstorbenen Nelly Kaplan.
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Si tu t'imagines
si tu t'imagines
fillette fillette
si tu t'imagines
xa va xa va xa
va durer toujours
la saison des za
la saison des za
saison des amours
ce que tu te goures
fillette fillette
ce que tu te goures(Raymond Queneau, Si tu t’imagines)