»Der Zukunft des Kinos eine Plattform geben« |
||
Augen zu und ab in die Zukunft: Beginning von Dea Kulumbegashvili |
Das Gespräch führte Dunja Bialas
Nach fast 30 Jahren hat eines der ältesten Filmfestivals Deutschlands eine neue Leitung: Sascha Keilholz. Und anstatt eine fulminante erste Ausgabe des Festivals mit vielen Gästen, Fachpresse und Branche zu feiern, auf die alle sehr gespannt waren, kam kurz vor Festivalbeginn der kulturelle Shutdown. Zweihundert Hotelbetten waren bereits geblockt, erzählt Sascha Keilholz am Rande des Interviews. Ich „treffe“ ihn online, um tiefer in das Festival einzusteigen, die Ideen zum Festival kennenzulernen. Bei einer physischen Ausgabe hätte sich das unschwer mitgeteilt: Das Festival hätte sich erstmals über die ganze Stadt in die Kinos verteilt, es wären viele internationale Gäste zu Besuch gewesen. Schließlich hat Sascha Keilholz sein Team international aufgestellt und Synergien mit anderen, großen Festivals geschaffen: in kuratorischer Funktion für den internationalen Wettbewerb „On the Rise“ liest man Daniela Persico (Locarno), Violeta Kovacsics (Barcelona), Cécile Tollu-Polonowski (Berlin); Hannes Brühwiler (Berlin) verantwortet die retrospektive Nouvelle-Vague-Héritage „Le Deuxième Souffle“, die Ungarin Zsuzsi Bánkuti das neue Lab für junge Projekte „Cutting Edge Talent Camp“. Die Programmorganisation und die Kuration des Wettbewerbs leitet der Kritikerkollege Frédéric Jaeger, ehemaliger Leiter der Woche der Kritik Berlin. Sascha Keilholz selbst kommt aus Regensburg, wo er das Heimspiel Filmfestival gegründet hat.
Facing New Challenges: Das ist nicht nur der Name einer neu geschaffenen Kunst-Sektion (verantwortet von Ursula Schöndeling, Kunstverein Heidelberg), sondern kann auch als Motto für die 69. Ausgabe des traditionsreichen Festivals gelten, die nun unerwartet ausschließlich online stattfindet: So etwas hat Mannheim noch nicht gesehen. Das dokumentiert auch das aussagekräftige Archiv, das alle Ausgaben von 1952 bis heute detailreich dokumentiert – eine Einladung zur Zeitreise.
artechock: Ich bin sehr gespannt auf die neue Ausgabe des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg. Jenseits der Filme interessiert mich jetzt, was hinter der Filmauswahl steht.
Sascha Keilholz: Mein Punkt sind aber genau die Filme. Ich habe ständig Gespräche über die Corona-Logistik und darüber, wie dieses erste Jahr für mich ist. Ich habe den Eindruck, dass die Filme über die Situation in den Hintergrund treten. Was wir mit dem Festival vorhaben, erzählt sich aber über die Filme, auch online. Meine große Anstrengung in diesem komplexen Jahr ist, dass man – auch wenn man nur einen Querschnitt des Festivals online sieht – eine Idee davon entwickelt, was wir vorhaben.
artechock: Unter normalen Umständen erscheint mir das auch als der einzig legitime Zugang zu einem Festival, das ist ja eine Art Film-Ausstellung. Jetzt ist der Rahmen dieser Ausstellung aber allein die Website. Lass uns über die virtuell gewordene physische Ausgabe sprechen. – Mannheim ist ein traditionsreiches Festival, eines der ältesten Deutschlands. Dein Vorgänger war fast 30 Jahre im Amt. Das sind große Fußstapfen, vielleicht sogar Erblasten? Ich habe z.B. den Rainer Werner Fassbinder Preis auf der Website gefunden. Fassbinder ist einer der vielen Namen, die die Bedeutung von Mannheim dokumentieren.
Keilholz: Genau diese reichhaltige Geschichte finde ich reizvoll. Man stellt sich in einen Kontext mit ganz vielen Leuten, die über die Jahrzehnte kuratiert haben, mit den Filmemacherinnen und Filmemachern, die hier ihre Werke gezeigt haben. Das Festival hat im Kern die Idee, etwas zu entdecken. Für heute heißt das natürlich etwas anderes als vor 69 Jahren. Gleichzeitig ist die Tradition bei den Leuten gar nicht mehr so verankert. In den letzten Jahren war vor allem der äußere Charakter präsent: ein Festival, das im Zelt und im Stadthaus stattgefunden hat. Nächstes Jahr haben wir ein Jubiläum, das Festival wird 70. Dieses Jahr ging es darum, dies in den Blick zu nehmen: Wo stehen wir, wo wollen wir hin? Wie wird das 70. Jahr des Festivals aussehen und wie geht das Festival perspektivisch weiter? Das heißt, dass diese so reichhaltige wie großartige Festivalgeschichte, auch filmhistorisch gesehen, fruchtbar und zugänglich gemacht werden muss, um gleichzeitig zu sagen: Mit diesen Filmen schauen wir in die Zukunft.
Rainer Werner Fassbinder ist dem Festival tatsächlich sehr verbunden. Wie kann man diese Geschichte und diese Verbindung deutlich machen? In dem Fall: über diesen Preis. Auch die Filmemacher achten auf die Tradition, letztens hat eine Filmemacherin gesagt: ach, der Wim Wenders war ja auch bei euch, Jim Jarmusch und andere – in dieser Tradition stehen wir. Das macht so ein Preis deutlich. Den Preis vergeben wir in dem Wettbewerb „On the rise“ für sehr junges Filmschaffen, das wir damit in diese große Tradition setzen.
artechock: Der Ruhm ist in den letzten Jahren verblasst. Die großen Entdeckungen, die Namen, die man auch heute noch kennt, sind aus Mannheim nicht mehr so hervorgegangen. Hast du die Hoffnung, wieder mehr Strahlkraft erzeugen zu können?
Keilholz: Der Markt hat sich in den letzten Jahren stark diversifiziert. Viele sind überrascht, wenn sie hören, dass es allein in Deutschland 430 Filmfestivals gibt. Festivals spielen heute eine ganz andere Rolle in der Filmdistribution als zur Gründung des Festivals. Wenn man weltweit 10.000 Filmfestivals hat, dann ist es klar, dass man mit der Idee, »etwas zu entdecken«, heute sehr vorsichtig sein muss. In dem Moment, in dem es einen neuen Film gibt, wird er in den nächsten Wochen von vielen hundert Leuten gesehen. Es ist schwieriger, sich Talente auf die Fahnen zu schreiben, wenn es diese Diversifizierung des Marktes gibt.
Aber wir haben uns auch gesagt: Wir denken das Festival von den Filmen aus und stärken noch mal in unserer Hauptsektion „On the rise“ diese Idee, Debüts bis dritte Filme im Wettbewerb zu zeigen. Wichtig war, eine Sektionsstruktur zu bauen, in der das deutlich wird. Uns war auch wichtig, dotierte Preise zu haben. Wir haben eine Jury und sechs Preise für junge Filmschaffende.
artechock: Gab es Preise nicht auch vorher schon?
Keilholz: Im letzten Jahr gab es überhaupt keine hochdotierten Preise. Es gab neben dem Ökumenischen Preis noch den undotierten Fipresci-, den Publikumspreis und den Preis der Kinomacher.
Jetzt gibt es den International Newcomer Award und den Rainer Werner Fassbinder Award, beide sind hochdotiert. Den Fipresci Award und den Ökumenischen Preis haben wir übernommen, den Publikumspreis wiederum dotiert. Und wir haben außerdem den Award of the Student Jury eingeführt, um den Gedanken zu unterstützen, Talente zu entdecken.
artechock: Ihr schickt alle in den Wettbewerb?
Keilholz: Es gibt noch „Pushing the Boundaries“ ohne Preise. Bislang konnte das Festival wenig Kontinuität bieten oder das Publikum vor Ort die Filmemacher in ihrer Karriere begleiten. Neben dem Schub, den man den Talenten am Anfang geben will, ist es aber natürlich auch wichtig, zu sehen: Wie geht es weiter? Wir haben deshalb diese Sektion geschaffen, die nur noch ästhetische Kriterien hat. Im Grunde geht es darum, auch bei etablierten Filmemacher*innen zu schauen: Wie loten die eigentlich die Grenzen des Mediums aus?
Frederick Wiseman zum Beispiel war mit seinem ersten Film in Mannheim, mit Titicut Follies, das war 1967. Er ist jetzt neunzig und immer noch einer der zentralen amerikanischen Filmemacher. Vor einem Jahr noch wäre für ihn auf dem Festival kein Platz gewesen. Jetzt aber können wir City Hall, einen der wichtigen Filme des Jahres, in „Pushing the Boundaries“ zeigen. In der Reihe läuft auch Hong Sang-soo, der schon auf dem Festival war (1996 mit The Day A Pig Fell Into The Well [Anmerk.d.R.]). Oder Filme wie von Lav Diaz, die in den letzten Jahren auf diesem Festival weniger bis gar nicht präsent waren. Dann gibt es noch das Kinderfilmfestival, das haben wir beibehalten. Neu ist auch noch die Sektion »F„acing New Challenges“«, in der wir über die Grenzen des fiktionalen Kinofilms hinausschauen. Da geht es im weitesten Sinne um Videokunst und Installationen.
artechock: Bedeuten die neuen Sektionen den Shift von dem traditionell biographischen Blick auf Newcomer hin zu einem ästhetischen Newcomer-Begriff?
Keilholz: Ja, absolut. Es geht immer noch um Talente, der Debüt-Gedanke ist aber auch irreführend. Man kann auch mit 50 Jahren seinen ersten Film machen. Um zu sagen, dass es uns um einen ästhetischen Anspruch geht, ist es wichtig, Sektionen wie „Pushing the Boundaries“ und „Facing New Challenges“ zu haben.
artechock: Als Horizont lässt sich in eurem Konzept die Zukunft des Kinos erahnen: Wohin steuert das Kino? Wohin geht das Erzählen?
Keilholz: Darin steckt der Kern des Entdeckens. Es geht nicht um die Weltpremiere oder um die eine Person, die ihren ersten Film gemacht hat. Worauf wir ganz stark in der Hauptsektion geachtet haben, ist: Was steckt eigentlich für ein Talent darin? Und jetzt kommt ein großes Wort: Welche Vision haben die Filmemacher*innen? Für mich sind das Leute, die eine ganz klare Vorstellung von dem haben, wie sie mit dem Medium audiovisuell arbeiten und wie sie dort Narrative erzählen können. Das ist ein neuer Blick, den das Festival jetzt auf Filme richtet. Wir fragen: Was liegt eigentlich unter der Textur der Filme? Was erzählt das über die Zukunft? Was bringen die Filmemacherinnen und Filmemacher für die Zukunft mit? Das ist der Anfang von „On the Rise“. „Pushing the Rise“ zeigt, dass viele etablierte Filmemacher hochaktuell erzählen, „Facing New Challenges“ blickt aus dem Kunstraum in die Zukunft. Wie sieht Film in der Zukunft aus, ist eine Frage, die uns beschäftigt. Was passiert ästhetisch mit dem Medium?
Wenn man die ersten Filme aus unserem Programm gesehen hat, wird man merken, dass da was ist. Man kann natürlich sagen: diese Zukunft des Kinos oder die vorgeschlagenen Positionen interessieren mich nicht. Aber man spürt: da ist was. Diese Filme haben etwas über ihr Medium zu sagen. Das ist die Idee der Auswahl. Und dann kann man über diese Filme trefflich streiten und diskutieren. Die Filme bringen alle dieses Potential mit: uns zum Nachdenken und Diskutieren bringen.
artechock: Schafft ihr für dieses visionäre andere Erzählen einen anderen Markt? Früher gab es ja immer einen Mannheim-Markt, den kann ich im Programm nicht mehr finden.
Keilholz: Wir haben den Markt nicht abgeschafft, nur verändert. Wir kommunizieren das gegenüber dem Festival aber eher separat. Anstelle des „Mannheim Meeting Place“ gibt es dieses Jahr das „Cutting Edge Talent Camp“. Wir haben uns gefragt: Welche Relevanz hat der Markt? Das war immer ein minoritärer Co-Production Market. Der Punkt des Marktes aber müsste sein: Die Filme, die wir in unseren Hauptsektionen zeigen, in einem ganz frühen Stadium aufzusuchen und zu begleiten. An den Hochschulen wird auf hohem Niveau technisch ausgebildet, auch Co-Produktionen bekommen die hin, das ist nicht das Thema, um das es in Mannheim gehen sollte. Aber die Filmschaffenden wissen häufig nicht, was mit einem fertigen Film passiert oder passieren soll. Sie kennen sich weder in Festival- noch Distributionsstrukturen oder ähnlichem aus.
Ein knappes Dutzend Projekte in unterschiedlichen Phasen nehmen dieses Jahr am »Camp« teil, einige beginnen gerade erst mit dem Drehbuch, andere sind im Produktionsprozess schon weiter. Die Idee ist, eine Perspektive zu bieten, das ist auch die Zukunft des Kinos. Vielleicht kommen die in ein paar Jahren zu uns mit Filmen zurück, die dann in „On the Rise“ laufen. Wenn sie sich weiter entwickelt haben, sind sie vielleicht irgendwann in „Pushing the Boundaries“. Wenn sie einen anderen Bereich ausprobieren, sind sie bei „Facing the Challenges“. Es soll ihnen auf allen Ebenen eine Plattform für die Zukunft gegeben werden. Und da ist das »Talent Camp« der erste Schritt.
artechock: Kommen wir zur Online-Ausgabe: Was habt ihr für Formate für „IFFMH expanded“ geplant, um das Festival-Feeling zu transportieren? Um den Diskussionen Raum zu geben, die tiefer in die Filme hineingehen können?
Keilholz: Dazu muss ich voranschicken: Generell glaube ich nicht, dass das funktionieren kann, Live-Sachen einfach ins Netz zu verlegen. Wir haben deshalb lange versucht, eine Hybrid-Version zu ermöglichen. Die Idee war, ein Festival im Kino, mit Künstlerinnen und Künstlern zu ermöglichen. Eine Regisseurin hat zu mir gesagt, dass sie die Sorge hat, dass es eine ganze Generation verlorener Filme geben wird. Sicherlich haben sich viele in der Mitte des Jahres gedacht: Jetzt habe ich meinen ersten Film gemacht, und der fällt gewissermaßen aus. Ich wäre nicht online gegangen ohne ein Votum der Filmemacher*innen.
Wie aber schaffe ich es, die Filme online zu zeigen, sodass klar wird, dass es hier um kein Video-on-Demand-Angebot geht? Wie schaffe ich es mitzuteilen, dass die Filme kuratiert und moderiert sind, und dass die Künstler sichtbar werden? Ich glaube, das teilt sich allein schon über die Sektionsstruktur mit, in der auch das Kuratorische sichtbar wird. Das Programm stellt durch die Konzeption der einzelnen Sektionen die Filme in ein Verhältnis. Es gibt außerdem einen Festivaltrailer, Grußworte der Regisseur*innen. Da wird sichtbar, dass die Filme von jemandem gemacht wurden und sie adressieren das Publikum, das direkt angesprochen wird. Wir haben auch Interviews mit ihnen geführt, die man sich zu einem selbstgewählten Zeitpunkt anschauen kann. Außerdem sind die präsentierten Filme exklusiv, feiern bei uns ihre Deutschlandpremiere und sind nur kurze Zeit sichtbar. Es sind Filme, die vor wenigen Wochen ihre Weltpremiere in Venedig, Toronto oder San Sebastian hatten.
Darüber hinaus gibt es auch einzelne Live-Formate oder zusammengeschnittene Formate, es gibt die „Platform together“, auf der man mit uns sprechen kann. Es gibt also einen moderierten Rahmen eines kuratierten Programms.
artechock: Ihr hattet ja vor, sehr eng mit den Kinos zusammenzuarbeiten, viel stärker als das in der Vergangenheit der Fall war. Was war eure ursprüngliche Idee?
Keilholz: Wir haben uns gesagt, dass das Festival ein Kinofestival ist. Wir reden hier bei Mannheim und Heidelberg von vielen sehr unterschiedlichen Kinoangeboten. Die machen das Jahr über die Arbeit, die bei uns in einem ganz kleinen Zeitraum sichtbar wird. Wir fühlen uns den Kinos, die ein Programm kuratieren, zugehörig. Wichtig war für uns aber auch, nicht den Unterschied zwischen High- und Lowculture zu machen. Hier in der Region engagieren sich die einzelnen Kinobetreiberinnen und Kinobetreiber für je ein unterschiedliches Publikum. Die Kinos wünschen sich ein Festival, das bei ihnen stattfindet. Und wir wünschen uns ein Festival, das im Kino stattfindet.
artechock: Das Kino hat für euch also ebenfalls eine konzeptionelle Bedeutung?
Keilholz: Kinos sind unverschuldet in eine existenzielle Notlage gekommen. Es ist nicht damit getan, dass sie in vier oder acht Wochen wieder öffnen können. Wir müssen eine Öffentlichkeit dafür schaffen, wie wichtig Kinos als soziale Orte einer kulturellen Infrastruktur von Städten und Regionen sind. Dafür muss Aufmerksamkeit geschaffen werden. Wir werden unter dem Jahr auch Filme in den Kinos zeigen. Andererseits weisen wir auch auf das Programm der Kinos hin, damit das wahrgenommen wird. Von Festivalzuschauer*innen und über das Jahr von allen Filmbegeisterten. Auch, dass ein Angebot nicht einfach austauschbar ist. Ich kann nicht ein Kulturangebot beliebig ins Netz verschieben. Ich mache das temporär, wenn es nicht anders möglich ist, aber das ist keine Dauerlösung.