Alte Freunde treffen – Teil 1: Hannah und ihre Schwestern |
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Bei allem Fremdschämen ist Woody Allens verzweifelte Suche nach »Lebenssinn« und »Beziehungsglück« immer noch sehenswert | ||
(Foto: DVD-Cover, Axel Timo Purr) |
Von Axel Timo Purr
(i do not know what it is about you that closes)
and opens;only something in me understands
the voice of your eyes is deeper than all roses
nobody,not even the rain,has such small hands
– e.e. cummings, somewhere i have never travelled gladly beyondHannah und ihre Schwestern ist der gelungenste, weil vielschichtigste Film Woody Allens.
– Hellmuth Karasek, Der Spiegel (06.10.1986)
Dass ich Hannah wiedersehen wollte, entstand durch eine dieser abstrusen, Corona-bedingten Plan-B-Umleitungen. Da unser Lesekreis wegen der pandemischen Entwicklung nicht mehr zusammenkommen durfte, entschieden wir uns, in wechselnden Zweiergruppen an der Isar spazierenzugehen und ein auswendig gelerntes Gedicht zu rezitieren. Ich dachte zuerst an eins der großen Herbstgedichte von Barthold Heinrich Brockes (»Das tiefe Blau der etwas kühlern Lüfte / Erfüllen jetzt gar viel gewölckte Düfte...«), doch kaum hatte ich daran gedacht, wurde es auch schon von einem Gedicht von e.e. cummings verdrängt: »maggie und milly und molly und may / die gingen zum strand aus spielerei...«.
Das war es, und das lernte ich auch auswendig, und mit jeder auswendig gelernten Zeile war ich einmal mehr von cummings und der deutschen Nachdichtung von dem heute völlig vergessenen K.-D. Sommer (in der großartigen cummings-Ausgabe von Volk und Welt) hingerissen, die mit einem der schönsten Doppelverse endet, die ich kenne: »may trug heim einen runden stein / so klein wie die welt und so groß wie allein // Denn was wir je verliern(seis ein dich oder mich) / wir finden im meer das eigene ich«.
Aber erst beim Vortrag und der Frage von Katrin, wie ich denn auf cummings gestoßen sei, fiel mir der fast genauso schöne Moment ein, wie ich cummings kennengelernt habe. Es war 1986 gewesen, im Raschplatzkino in Hannover, in Woody Allens Hannah and Her Sisters. Ich erinnerte mich sofort an die Szene: Der Buchladen, in den Elliot (Michael Caine) mit Lee (Barbara Hershey) geht und einen Gedichtband von cummings entdeckt, ihn Lee kauft und sie bittet, das Gedicht auf Seite 104 zu lesen, weil er bei diesem Gedicht immer an sie denken müsse: »niemand, nicht einmal der regen, hat so kleine hände.« So wie Elliot sich in Lee verliebt hatte, war ich ab diesem Moment in cummings' Gedichte verliebt. Gedichte, die einfach nicht altern wollen. Ich fragte mich, ob es mir auch mit Allen und seiner Hannah so ginge, denn seine letzten Filme, auch A Rainy Day in New York, hatten in mir so gut wie nichts mehr ausgelöst.
Je mehr ich an Hannah dachte, desto mehr erinnerte ich mich daran, wie wichtig der Film für mich gewesen war, dass die Beziehungen der drei Schwestern und ihrer Partner wichtige Rollen- und Beziehungsmodelle für mich gewesen waren, auch wenn die Männer in Hannah 30 Jahre älter waren als ich. Aber auch Kinder sehen ja gerne Filme, in denen ältere Protagonisten die irrsten Lebensentwürfe anbieten, die dann später ganz entspannt verworfen oder angenommen werden, also über solche Filme zumindest so etwas wie eine grundsätzliche Rollenmodellierungs-DNA angelegt wird.
Für mich war weniger der von Woody Allen verkörperte Charakter des Mickey wichtig, den er Tolstois Anna Karenina entlehnt hatte und der zwischen den Schwestern hin- und herflottierte und allein von seiner Hypochondrie getrieben zu sein schien. Viel näher ging mir Max von Sydows Rolle des Frederick, an den sich auch gleich Michael Haberlander erinnerte, als ich ihm von meinem
Wiedersehen erzählte. Für ihn war Frederick schon allein wegen dieses Ausspruchs eine Erinnerung wert: »You missed a very dull TV show on Auschwitz. More gruesome film clips, and more puzzled intellectuals declaring their mystification over the systematic murder of millions. The reason they can never answer the question ›How could it possibly happen?‹ is that it’s the wrong question. Given what people are, the question is ›Why doesn’t it happen more
often?‹«
Für mich war es weniger dieser Satz, als der Typ von Mann, der mich anzog, ein Mann, der so auch in Wim Wenders' Filmen immer wieder vorkommt. Es sind Männer, die wie im Im Lauf der Zeit im Grunde beziehungsunfähig sind, weil ihr Ego (oder die Kunst oder alte Rollenmodelle) stärker als alles andere ist. Und es sind natürlich Männer ihrer Zeit, die
Frauen allerhöchstens als Muse oder mütterliche Freundin dulden. Einer Zeit, das darf man nicht vergessen, als auch noch Peter Handke der Überzeugung war, dass Frauen nicht das Talent zu guter Schriftstellerei haben.
Den Buchladen wiederzusehen war ein großer Moment. Ich hätte zwar schwören können, dass Elliot das Gedicht von cummings bereits im Buchladen zitiert und Lee es nicht erst zu Hause liest, aber sonst war alles so wie in meiner Erinnerung.
Den Pageant Book and Print Shop aus dem Film gibt es heute allerdings nicht mehr. 1999 wurde auch die letzte Pageant-Filiale im Zuge von Gentrifizierung und Digitalisierung geschlossen und die 2007 neu eröffnete Filiale handelt nur mehr mit Karten und Drucken, aber nicht mehr mit Büchern.
Was mich beim Wiedersehen überrascht hat, war, dass Allens Humor immer noch funktioniert. Bissig, zärtlich, politisch völlig unkorrekt, heute gar nicht mehr möglich. Ähnlich steht es um die vorgeführten Beziehungsmodelle, die wie auch bei Wenders in diesem Beziehungsschaulaufen allerdings fast nur noch Fremdschämen erzeugen: Ältere Männer, die ihre jungen Frauen erziehen wollen, so wie Innstetten seine Effi. Und junge Frauen, die sich um einen älteren (und erfolgreichen) Mann streiten. Ein Universitätsprofessor spannt Elliot, der ja eigentlich mit Hannah (Mia Farrow) zusammen ist, dann auch noch Lee aus, weil sie in seinen Kursen sitzt und ihm so verfällt wie vorher dem schon viel älteren Frederick, und dem natürlich auch schon väterlichen Elliot. Und dann erst der fast genauso unerträglich-väterliche Architekt, der sich Holly (Dianne Wiest) und ihre Catering-Kollegin April (Carrie Fisher) angelt. Man könnte zwar meinen, das ist alles zum Glück schön weit weg, doch sieht man sich Sofia Coppolas neuen Film On the Rocks an, erkennt man sehr schnell, dass die alten, gender-hierarchischen Beziehungsmodelle anscheinend unausrottbar sind.
Gleichzeitig lässt sich gerade aus dieser Zukunftsperspektive (also unserer Gegenwart) auch erahnen, wie dokumentarisch Allens Film ist. Damit ist nicht nur das immer noch großartige New York gemeint, das aus den ver-rücktesten Kamerawinkeln nicht nur gewürdigt, nein, regelrecht umarmt, leidenschaftlich geliebt wird. Sondern da sind dann auch die Frauen, ehrlich, gebrochen, suchend, ambivalent wie nur wenige Charaktere Allens vor und nach diesem Film. Das wird durch Mia Farrows 1997 erschienene Erinnerungen What Falls Away: A Memoir bestätigt und dann auch in Frage gestellt, erkennt Farrow in Allens filmischem Charakter bereits den wirklichen Allen, auch wenn es in der Realität nicht eine von Farrows Schwestern, sondern die Adoptivtochter war, zu der Allen wechselte. Aber schwerer wiegen hier fast noch die Verzerrungen der Realität und das parasitäre Abschöpfen dieser Realität: »It was my mother’s stunned, chill reaction to the script that enabled me to see how he had taken many of the personal circumstances and themes of our lives, and, it seemed, had distorted them into cartoonish characterizations. At the same time he was my partner. I loved him. I could trust him with my life. And he was a writer: this is what writers do. All grist for the mill. Relatives have always grumbled. He had taken the ordinary stuff of our lives and lifted it into art. We were honored and outraged.«
Doch all das Fremdschämen und aus der Zeit Gefallene mal beiseitegeschoben: Allens Film berührt in seiner verzweifelten Suche nach »Lebenssinn« und »Beziehungsglück« immer noch. Und ganz nebenbei erinnert er in Pandemie-Zeiten an einen anderen Virus – »Die tragen jetzt alle Handschuhe, weil sie Angst vor Aids haben« – einen, der fast schon in Vergessenheit geraten ist.
Und dann ist es ein wirkliches, ein großes Glück, Charakteren zu begegnen, die damals so alt waren, wie ich es heute bin, und zu sehen, was aus Rollenmodellen, aus Vorbildern, Sehnsucht und Träumereien so wird: nämlich niemals das, was wir damals erwartet haben.