Kein Koller auf Korona, Teil 7 (und Ende) |
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Werden wir in 44 Jahren so über unsere Kinos von heute staunen, wie wir heute über die Kinos in Wenders 44 Jahre altem Film staunen? | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Von Axel Timo Purr
»I been double-crossed now for the very last time and now I’m finally free.« – Bob Dylan, Idiot Wind, zitiert von Robert Lander (Hanns Zischler) in Im Lauf der Zeit
»Es gibt doch nur das Leben. Den Tod gibts doch gar nicht.« – Marquard Bohm in Im Lauf der Zeit
»Heute Abend? Da bin ich im Kino.« – Pauline (Lisa Kreuzer) in Im Lauf der Zeit
»So wie es jetzt ist, ist es besser, es gibt kein Kino mehr, als dass es ein Kino gibt, wie es jetzt ist.« – Kinobesitzerin im Epilog von Im Lauf der Zeit
Den frühen Wim Wenders nach so vielen Jahren auf kleinem Bildschirm wiedersehen zu wollen, macht immerhin nicht soviel Angst wie sich Tarkowski in seiner mittleren Schaffensphase – etwa dem Stalker – anzunähern, auch wenn Wenders' Im Lauf der Zeit ebenfalls knapp drei Stunden lang ist und wie bei Tarkowski auch bei Wenders nur wenig gesprochen wird und natürlich beide Regisseure explizit für die große Leinwand konzipiert haben. Aber ganz schnell wird klar, dass selbst die kleine Angst überflüssig war, dass Wenders' Film über zwei Männer in ihrer Lebenskrise, über sterbende Kleinstadt- und Dorfkinos im BRD-Zonenrandgebiet zur DDR, über die Krise des deutschen Films in den 1970ern und ein paralysiertes Deutschland der Teilung so gut wie nicht gealtert ist.
Gut, ein paar graue Haare gibt es schon: etwa die manchmal dann doch etwas aufgesetzt wirkenden Buddy-Dialoge, vor allem die über Frauen, in denen Bruno (Rüdiger Vogler) und Robert (Hanns Zischler) etwa über die Unmöglichkeit räsonieren, mit einer Frau zusammenzusein, ohne dabei sein Ich zu verlieren, mehr noch, als man ja selbst »in« einer Frau einsam bis auf die Knochen bleibe – das ruft dann doch eher ein Schmunzeln als Begeisterung hervor. Aber egal, kommt Draht rum.
Denn der Rest ist umso besser. Was für ein Film! Allein schon dieses Schwarzweiß, das Licht und die Kamera von Robby Müller und Martin Schäfer über und in den versehrten Landschaften und Industrieruinen des Zonenrandgebietes der BRD, den entkernten und entseelten Räumen dahinsiechender Kinos, die selbst noch auf DVD (40 Zoll TV-Bildschirm) und der gestreamten Version (bei Google Play und 6.44 Zoll Smartphonebildschirm) eine Kraft entfalten, einen Sog, der Jack Whites Statement zum Hören von Musik auch für den Film bestätigt, dass gute Musik nämlich auf jedem Abspielgerät funktioniert, egal wie schrottig es auch sei, denn gute Musik ist immer gut. So ist es auch mit dem Film, so ist es mit Wenders' Im Lauf der Zeit.
Aber es ist nicht nur die Kamera Robby Müllers und Martin Schäfers oder der tolle Soundtrack von Axel Linstädt, der grandiose Schnitt von Peter Przygodda und das Ensemble um Rüdiger Vogeler und Hanns Zischler, nein es ist dann auch Wenders und seine Geschichte, die er hier erzählt und wie er sie erzählt.
Wenders erzählt vom ewigen Verschwinden des Kinos, das sich in seiner kurzen Geschichte noch jedem Freier angedient hat, das damals wie heute und immer wieder am Wandel der Zeiten und seinen eigenen Schwachstellen zu scheitern droht. Von Jobverlusten während des Übergangs zum Tonfilm, von der Erstarkung des Fernsehens und der Transformation der Kinos zu Sex- und Action-Abspiel-(Ab-)orten, die nicht mehr gepflegt, sondern nur noch missbraucht werden. Er zeigt Kinos wie das Roxy in Helmstedt und die Post Lichtspiele mit ihrer umwerfenden Lisa Kreuzer an der Kasse und Kinos in Ortschaften, von denen man heute kaum mehr glauben kann, dass es so etwas wirklich mal gegeben hat. Nicht nur wegen ihrer Vorführ- und Publikumsräume, in denen Stricke (symbolisch) für den Suizid bereit liegen oder Frauen mit Scheidenkrampf von Sanitätern abgeholt werden müssen, sondern allein schon der Größe der Orte wegen, in denen es damals noch Kinos gab. Werden wir in 44 Jahren auch so über unsere Kinos von heute staunen?
Aber Wenders erzählt auch vom Verschwinden einer ganzen Welt, von Fabriken und Zeitungen, die stillstehen, von einer Schweinemetzgerei in Ostheim und ihrem verwitterten Namensschild, von Eltern, die gestorben sind oder noch mumifiziert leben. Er erzählt zärtlich und aufbegehrend zugleich, wie das (analoge) Setzen einer Zeitung einst funktionierte und folgt in grandiosen Kamerafahrten den alten, roten Uerdinger Schienenbussen (und anderen Zügen), die es wie die Strecken, auf denen sie fuhren, heute nicht mehr gibt. Er zeigt Landschaften, die wie ihre wirtschaftlichen Adern, die sie einst mit Nährstoffen versorgten, erstarrt sind, in denen das Einzige, was noch (in den weißen Sand) läuft, die Kackwurst aus dem Po von Rüdiger Vogeler ist.
Und er erzählt von dem geteilten Deutschland, für das die Teilung in Ansätzen gleichbedeutend mit dem war, was Corona heute mit uns macht. Er erzählt von Menschen auf Distanz, die heute jeden Virologen glücklich machen würden, denn nicht einmal Sex gibt es zwischen Bruno und Pauline. Wenders erzählt aber nicht nur vom Stillstand in Beziehungen, sondern auch vom Ende einer analogen Welt, die durch Rüdiger Vogelers Reparatur-Service für Kinoprojektoren noch ein wenig länger am Tropf hängt und überlebt. Wie ein Arzt und Bestatter in einer Person fährt er von Kino zu Kino. Hilft, wo es noch geht, und entnimmt die Organe, wenn es zu spät ist, um sie einem anderen notleidenden Patienten wieder einzusetzen. Einige dieser Projektoren werden wie in einem Sarkophag in Brunos Möbellaster mit Münchner Kennzeichen durch Deutschland gefahren, während Bruno auf einem anderen Analog-Relikt aus alten Zeiten, einem »Walkman«-Single-Plattenspieler, Musik hört. Die nicht schweigen wollenden Stimmen der Toten.
Und auch alles andere lebt trotz Stillstand weiter, stand und steht aus Gräbern auf wie Zombies. Mit Wenders (und so vielen anderen Regisseuren) wurde der Neue Deutsche Film trotz Report-, Lederhosen-, Edgar-Wallace- und Lümmelfilmen fast schon Mainstream, entstanden immer mehr, neue, kleine Kinos in den Städten, etablierten sich Autorenfilm-Selbsthilfeorganisationen wie der Filmverlag der Autoren genauso wie die Programmkinos. In Wenders' dystopischer »Zwischenraumrealität« von Im Lauf der Zeit ist das alles kaum vorstellbar. Und heute: längst vergessen. Ein Deutschland ohne Teilung? Undenkbar. Ein paar Jahrzehnte schon ein alter Hut. Im Lauf der Zeit halt.
Eine Regel fürs Überleben gibt Wenders zwar nicht, aber ein so guter wie banaler Rat an die Tür einer US-Armee-Baracke geheftet tut es im Grunde auch: »Es muss alles anders werden. So long, R.«. Und er hat damit Recht behalten. Der deutsche Film und die deutschen Kinos sind ganz anders geworden, so, wie sich das damals wohl kaum wer hätte vorstellen können, und so, wie es dann auch nach Corona gewesen sein wird.
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Wim Wenders Im Lauf der Zeit ist als Stream bei Google Play
(2,99 €), als DVD gebraucht und neu erhältlich und als Teil der unbedingt empfehlenswerten 50-teiligen DVD Box der Filmverlag der Autoren-Edition, die es inzwischen statt für ursprünglich 349,00 € für 249,00 € gibt.