Gestrandet auf Corona Island
Kein Koller auf Korona, Teil 2 |
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Einer der am meisten überschätzten Filme der letzten Jahrzehnte oder weiterhin eines der bahnbrechendsten Debüts? | ||
(Foto: A.T. Purr, DVD Cover) |
Von Axel Timo Purr
»It was one of those days when it’s a minute away from snowing and there’s this electricity in the air, you can almost hear it. Right? And this bag was just dancing with me. Like a little kid begging me to play with it. For fifteen minutes. That’s the day I realized that there was this entire life behind things, and this incredibly benevolent force that wanted me to know there was no reason to be afraid, ever. Video’s a poor excuse, I know. But it helps me remember... I need to remember... Sometimes there’s so much beauty in the world, I feel like I can’t take it, and my heart is just going to cave in.« – Ricky Fitts (Wes Bentley) in American Beauty
Arno Schmidt hat einmal gesagt, dass man in der Beurteilung von Büchern vorsichtig sein muss, denn nicht jedes Buch funktioniert in jedem Alter. Wenn man dann noch den natürlichen Alterungsprozess eines Buches selbst hinzuzählt, wird es erst recht kompliziert. Nicht anders ist das bei Filmen. Nur wenige Filme »altern« gut, nur wenige Filme begeistern einen 20-jährigen so wie einen 40- oder 60-jährigen. Bei den Corona-bedingten Ausgehbeschränkungen und den leeren Münchner Straßen musste ich plötzlich an einen Film denken, der vor über 20 Jahren ebenfalls leere Straßen zeigte, der Menschen zeigte, die trotz ihrer familiären oder freunschaftlichen Nähe in weitem Abstand voneinander saßen, oder sich gleich über den Umweg einer Kamera unterhielten, dessen Bildkomposition sich an die Bilder von Edward Hopper und René Magritte anlehnte, und der auch vom Sterben in einer Welt handelte, die eigentlich das ewige Leben in Form von totaler Sicherheit abonniert zu haben schien.
American Beauty war Sam Mendes' Regie-Debüt. Und was für eins. Nicht nur wegen des Kartenhaus-ähnlichen Drehbuchs von Allan Ball, der zersetzenden, ambivalenten Wucht ihrer Hauptdarsteller, allen voran Kevin Spacey und Annette Bening, einer großartigen, sogartigen Kamera (Conrad Hall), und einem Score (Thomas Newman), das sich in die Handlung hineinpochte wie ein Meißel in den Alltagsstein. Und dann natürlich die Preise. Baftas, Golden Globes und die Oscars im Jahr 2000. Vor allem waren die Oscars für einen Film überraschend, der an den Grundfesten des amerikanischen Traums rüttelte, der über sexuelle Unterdrückung, Drogenkonsum, Schwulenangst und dysfunktionale Familien in amerikanischen Vorortidyllen erzählte, wie es vorher vielleicht nur David Lynch in Blue Velvet (1986) gemacht hatte. Aber Mendes ging noch weiter. Anders als bei Lynch bricht das Böse nicht von außen als Frank (Dennis Hopper) in die heile Welt, sondern intrinsisch, wird aus sich selbst heraus erschüttert. Durch eine Art Rite de passage ihrer eigenen Akteure, Erwachsene und Jugendliche zugleich, die ähnlich wie Dennis Hopper und Peter Fonda in Easy Rider (1969) das durch Sicherheitsbedürfnis in Liebe, Beruf und Politik zubetonierte Amerika der weißen Vorstädte verlassen und sich befreien wollen. »Easy Rider« der bürgerlichen Vorstädte, die so wie die Easy Rider der Hippie-Zeit bei ihren Ausbruchsversuchen scheitern.
Aber American Beauty war gerade im Jahr seines Erscheinens, als er sich vom in wenigen Kinos gestarteten Arthouse-Geheimtipp zum Blockbuster entwickelte, natürlich viel mehr, war eine »Leerstelle« für Alles und Jeden, allein schon die englische Wikipedia zu AMERICAN BEAUTY zu lesen,
ist ein exegetischer Parforceritt.
Doch bei allem Interpretationsspielraum, den Lobeshymnen der Kritiker im Jahr seines Erscheinens und des Jahrs danach, und all den Preisen wurde es immer stiller um American Beauty. Sam Mendes hat sich erst wieder dem Theater zugewandt und dann weiter Filme gemacht, hat sich James Bond einverleibt (Skyfall, Spectre) und einige große Kriege des 20. Jahrhunderts (Jarhead, 1917). Sein Debüt galt zwar weiterhin als moderner Klassiker, wurde aber von amerikanischer Seite
zunehmend kritischer betrachtet und kulminierte im letzten Jahr schließlich in einen langen Artikel von Matthew Jacobs in der Huffington Post, der der verblassenden Bedeutung von American Beauty einen endgültigen Grabstein zu setzen schien.
Plötzlich war Sam Mendes kein Vorläufer von Andrea Arnold und ihrem American Honey mehr, einer der Engländer, die Amerika besser als jeder Amerikaner zu demaskieren verstehen, sondern als Regisseur ein Kind seiner Zeit, das Homophobie und Pädophilie viel zu oberflächlich hinterfragte und das dann auch noch mit einem Kevin Spacey in der dementsprechenden Rolle, dem im Rahmen der aufbrausenden MeToo-Debatte 2017 eben genau das vorgeworfen wurde, was er in American Beauty so kongenial verkörperte, der dort eine Minderjährige sexuell belästigt. Ein Film, der spätestens nach 9/11 völlig verstaubt wirke und – einer meist überschätzten Filme der letzten 20 Jahre sei.
An einem Corona-Abend in München sieht sich Sam Mendes dann aber ganz anders. Sind die leeren Straßen, die Mendes zeigt, plötzlich sehr vertraut, ist dann aber vor allem der hohe Preis, den wir für unser Sicherheitsbedürfnis zahlen, so aktuell wie eh und je. Mehr noch, sieht sich Mendes' Film als hochbrisantes Blueprint für das, was gerade nach 9/11 in den Mittelpunkt großer amerikanischer Filmerzählungen floss: der Identitätsverlust und Untergang der weißen
Mittelstandsfamilie, der Verlust plausibler, glaubwürdiger Rollenmodelle, wie er dann in BREAKING BAD (hier auf Helmut Müller-Sievers Essay zur »Kinematik des Erzählens« verlinkt) oder der ersten Staffel von TRUE DETECTIVE oder auch in Andrea Arnolds American Honey weitererzählt wurde, der mit Mendes' Film im Hintergrund fast wie eine Fortsetzung funktioniert.
Und dann ist da natürlich noch die Frage nach Authentizität in digitalen Zeiten, nach glaubwürdiger, offener Kommunikation, nicht vom Kapitalismus zerfressenen Moralvorstellungen, in denen ein Sofa nur ein Sofa und gnadenlose Ehrlichkeit der einzige Rettungsanker für das
eigene Überleben ist. American Beauty bildet auch diesbezüglich unsere Gegenwart fast schon prophetisch ab: zertrümmert Alltagsroutinen durch die Ausbuchstabierung dieser Routinen, so wie es in den letzten Jahren die Literatur von Karl Ove Knausgård oder Annie Ernaux gemacht hat und zeigt in den Video-Dialog-Sequenzen der jugendlichen Protagonisten vor allem das, was heute Alltag ist – ein Ich, das erst durch die digitale Entfernung – damals die Kamera, heute die sozialen Medien – zu sich und einer neuen, offenen, aber auch hier schon völlig Ich-bezogenen Identität findet.
Und Spaceys Lester Burnham und sein im Nachhinein so oft kritisierter und vor allem für Spacey fast schon als beweistragend für Spaceys wirkliches Leben gewerteter Lolita-Komplex in American Beauty? Lassen wir ihn doch selbst sprechen, Lester oder Spacey, oder ist es nicht doch Alan Ball oder gar Sam Mendes? In seinen letzten Worten, als die Kamera von Conrad Hill einen letzten Blick auf die Corona-verlassene Vorstadt wirft:
»I guess I could be pretty pissed off about what happened to me, but it’s hard to stay mad when there’s so much beauty in the world. Sometimes I feel like I’m seeing it all at once and it’s too much. My heart fills up like a balloon that’s about to burst. And then I remember to relax, and stop trying to hold on to it. And then it flows through me like rain and I can’t feel anything but gratitude for every single moment of my stupid little life. You have no idea what I’m talking about I’m sure, but don’t worry, you will someday.«