09.04.2020

Kein Koller auf Korona, Teil 4

Buch-Cover von Deborah Feldmans Unorthodox
Ist das Buch der bessere Film? Bei Deborah Feldmans »Unorthodox« und der Netflix-Auswertung ist das wenigstens einmal nicht ganz so eindeutig.
(Foto: Axel Timo Purr)

Lieber gute Bücher statt schlechte Filme: von Anna, Buck und Deborah bis zu Effi, Narziss, Siggi und Oz – es gibt so viele schlechte Literaturverfilmungen wie Sand am Meer. Aber jetzt endlich auch die Zeit, die literarischen Vorlagen zu lesen und sich das Kino mal so richtig abzugewöhnen

Von Axel Timo Purr

»Es spricht überhaupt nichts dagegen, wenn sich jemand im Rahmen seines Spazier­gangs allein, mit der Familie oder sonstigen Angehö­rigen seines Haus­standes zwischen­durch auf eine Parkbank in die Sonne setzt. Es spielt für das Infek­ti­ons­ri­siko auch keinerlei Rolle, ob jemand dabei ein Buch oder eine Zeitung liest oder etwa ein Eis isst.« – Minister Joachim Herrmann (CSU) am Mittwoch, den 8. April 2020

Es ist ja nicht nur die Angst vor der Anste­ckung, die eine beängs­ti­gend große Zahl von Menschen auch nach dem Lockdown vom Gang ins Kino abhalten wird, wie eine letzte Woche in Variety veröf­fent­lichte ameri­ka­ni­sche Studie befürchten lässt. Nein, es ist natürlich auch die Tatsache, dass viele Menschen das Kino wohl gar nicht mehr vermissen werden, auch wenn sie das jetzt noch behaupten. So wie es in den letzten Jahren immer wieder der Fall gewesen ist. In all den tot-gentri­fi­zierten Stadt­teilen Münchens, in denen der Tante-Emma-Laden und der Bäcker, die Buch­hand­lung um die Ecke nun fast alle verschwunden und statt­dessen von fetten und feinen Agenturen bevölkert sind, jeden­falls bis vor Corona. Zwar hat jeder inbrünstig und mit Kroko­dils­tränen behauptet, wie sehr er das Nach­bar­schafts-Kleinod geschätzt hätte, doch einge­kauft wurde beim Discounter um die Ecke oder bestellt bei Amazon. Und auch beim ältesten Kino Münchens, dem vor fast genau einem Jahr geschlos­senen Neuen Gabriel, war das nicht anders. Der Aufschrei war vor allen bei denen laut, die schon seit Jahren keinen Schritt mehr in das Kino gesetzt hatten.

Noch schwie­riger wird es, wenn man in Zeiten des Lockdowns auch noch anfängt zu lesen, denn auch das könnte ja wie das Streamen zu einem weiteren Verlust an Kino­gän­gern führen, merkt man erst einmal, viel­leicht sogar zum ersten Mal im Leben, dass ein Buch so groß wie ein Kinosaal und so polymorph wie eine Kino­lein­wand sein kann. Und man zudem auch noch fest­stellen muss, was der Film der Literatur alles angetan hat, wie übel das eine oder andere Buch durch seine Verfil­mung miss­braucht oder sogar vernichtet worden ist.

»Es ist ein weites Feld.«

Und ich will eigent­lich gar nicht schon 1974 anfangen, als Fass­binder Genera­tionen von Gymna­si­asten »ihre« Effi Briest mit einer Hannah Schygulla so vernichtet hat, dass das für viele auch das Ende am Interesse für den Neuen Deutschen Film war. Inzwi­schen ließe sich zwar auch noch Hermine Hunt­ge­burts schale, wenn auch »zeit­ge­mäße« Effi-Inter­pre­ta­tion von Fontanes Stoff aus dem Jahr 2009 hinzu­fügen. Aber warum nicht gleich zum Buch greifen, das, wenn es denn Ihr nächster Buchladen (der anders als Amazon auch in Corona-Zeiten an Sie auslie­fert) nicht hat, sogar kostenlos zum Herun­ter­laden verfügbar ist. Denn »Effi« erzählt neben dem, was wir alle im Deutsch­un­ter­richt gelernt haben, ja auch die Geschichte einer psychi­schen, physi­schen und geogra­fi­schen Isolation, wie sie jetzt in den Wochen des Corona-Lockdowns viel­leicht noch viel stärker nach­zu­voll­ziehen ist, als in jeder auch noch so guten Deutsch­stunde, in der wir ja nur 45-90 Minuten zwangs­iso­liert werden.

»Weißt du, was Sehen ist? Vermehren.«

»Deutsch­stunde« ist natürlich ein gutes Stichwort, um uns in die Gegenwart zu kata­pul­tieren und das »weite Feld« der letzten Jahr­zehnte hinter uns zu lassen und dann doch im Kern auch hier unserer absoluten Gegenwart zu begegnen. Denn Christian Schwo­chows Deutsch­stunde (Text- und Video-Kritik auf artechock), im letzten Jahr erschienen, war schon ein echter, wenn auch schöner Ärger – ein Film, der zwar Lenz' schon 1968 brilliant beschrie­bene poli­ti­sche und private Isolation einer Gesell­schaft in großar­tige nord­deut­sche Land­schafts­bilder fasste, aber liest man erst einmal den »echten« Lenz, bekommt man ein gutes Gefühl dafür, in was für Bieder­meier-Zeiten wir bereits gefangen sind, denn Lenz' mehr als 50 Jahre alte »Deutsch­stunde« wirkt wie das gegen­wär­tige, viel modernere Gegen­s­tück zu Schwo­chows Film.

»Du bist Künstler, ich bin Denker.«

Und wo wir schon mal bei den Klas­si­kern der neueren deutschen Literatur sind, bleiben wir doch dabei: denn gar nicht so lang nach Deutsch­stunde, ein paar Tage vor dem Kino-Lockdown in Bayern, kam Stefan Ruzowitzkys Hermann Hesse-Verfil­mung von Narziss und Goldmund (Text- und Video-Kritik auf artechock) in die Kinos. Auch hier gilt wie für Siegfried Lenz – wer Interesse daran hat zu sehen, in welch restau­ra­tiven Zeit wir leben, der soll sich ruhig den Film ansehen. Wer große, aufre­gende Literatur lesen, etwas über den Sinn des Lebens auch in Krisen­zeiten erfahren und eine Ahnung davon bekommen möchte, warum Hesses »Narziss und Goldmund« einer der erfolg­reichsten Romane der deutschen Literatur ist, der soll ihn sich bestellen. Neu oder in wunder­vollen anti­qua­ri­schen Ausgaben, die z.T. für Cent-Beträge zu erhalten und online überall erhält­lich sind. Denn Anti­qua­riate mit Publi­kums­ver­kehr sind ja schon lange vor Corona nicht nur in München so gut wie verschwunden.

»Er wurde geschlagen, aber er war nicht gebrochen.«

Ein weiterer großer Roman, den sich das Kino immer wieder von neuem »einver­leibt« und »zeit­kon­form« wieder »ausge­spuckt« hat, ist Jack Londons »Ruf der Wildnis«. Erst vor ein paar Monaten war es wieder soweit. Und das in schon fast über-klas­si­scher Disney-Manier. Alle Wildheit ist in Chris Sanders Ruf der Wildnis (Text- und Video-Kritik auf artechock) gezähmt, die Natur von Weich­zeich­nern und CGI genauso zurecht­ge­stutzt wie die Kämpfe zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Tier und Tier und Tier. Es ist ein Film, in dem kein Blut fließt und selbst der Tod roman­tisch ist. Immerhin gibt es Harrison Ford, aber trotz Ford sollte der Griff zum Buch auch hier zwingend sein, um endlich mal wieder einen klaren Kopf zu kriegen, über sich, das Leben und das Wilde in jedem von uns und auch darüber, wie wir nach der Corona-Krise handeln sollten, denn auch davon erzählt Jack Londons großar­tiger, leider nur allzuoft als »Jugend­buch« miss­ver­stan­dener Roman

»Isch bin andas wiede Andren«

Deborah Feldmans auto­bio­gra­fi­sche Geschichte einer Flucht aus einer ultra­or­tho­doxen jüdischen Gemeinde im »selbst­ge­wählten Lockdown« in New York nach Berlin wird gerade in der Netflix-Mini-Serie (vier Folgen) »Unor­thodox« erzählt. Die filmische Umsetzung durch Maria Schrader (Regie) und Anna Winger/Alexa Karo­linksi (Drehbuch) geht mit Feldmans Buch sehr frei um und schreibt ihm einen z.T. uner­trä­g­lich blau­äu­gigen Berlin-Teil zu, der die anti­se­mi­ti­schen Tendenzen in Berlin mit keinem Wort erwähnt und Feldmans »Trans­for­ma­tion« zu einem »freien« Menschen schmerz­haft verkürzt. Aber allein schon Shira Haas in der Haupt­rolle zu hören und zu sehen (v.a. auch in der finalen Folge bei einer großar­tigen Gesangs­per­for­mance) und fast alle Betei­ligten auch in Jiddisch sprechen zu hören – was ja im Buch nicht möglich ist, da es keine Unter­titel gibt – ist die Miniserie wert. Mehr noch, um in Ansätzen zu verstehen, wie (nicht nur) eine chas­si­di­sche Gemeinde funk­tio­niert, wie in diesem Fall der Holocaust funda­men­ta­lis­ti­sche Struk­turen noch einmal verstärkt hat und warum die Hälfte aller Corona-Kranken in Israel Ultra­or­tho­doxe sind. Das hört sich zwar sehr gut an, dennoch sei Deborah Feldmans Buch, das ebenso gut zu lesen ist, wie die Serie zu sehen ist, unbedingt empfohlen, um die z.T. unnötigen Eingriffe der Seri­en­ma­cher schnell wieder zu vergessen.
Wem »Unor­thodox« noch übler bekommen sollte und wer sich gar Alan Poseners Kritik in der Welt anschließen sollte, der in »Unor­thodox« anti­se­mi­ti­sche Vorur­teile bedient und nicht mehr als ein »Feelgood-Movie für Berliner Hipster und solche, die es gerne wären«, sieht, der sollte sich – statt sich zu ärgern – ganz schnell einen der ganz großen Romane der Welt­li­te­ratur des 20. Jahr­hun­derts zukommen lassen, Amos Oz' »Eine Geschichte von Liebe und Fins­ternis«, die alles erzählt, was Jüdisch-Sein und die Geschichte Israels ausmacht, und der eine richtige Serie und nicht nur eine Mini-Serie verdient hätte und vor allem nicht nur die Standard-Verfil­mung durch Nathalie Portman – ein immerhin sehens­wertes Melodram, das durch den Dreh an Origi­nal­schau­plätzen und in Hebräisch dann immer wieder auch authen­tisch wirkt, aber ansonsten auf fast allen Ebenen grausam scheitert.

»Wenn ein Mensch glaubt, nu ist gut, dann ist noch lange nicht gut.«

Natürlich gibt es Hoffnung, gab es schon immer Hoffnung, gibt es zahl­reiche großar­tige Lite­ra­tur­ver­fil­mungen, man denke nur an Stanley Kubricks konge­niale Barry Lyndon-Umsetzung (1975) von William Makepeace Thackerays »Die Memoiren des Junkers Barry Lyndon«! Und was in der Vergan­gen­heit war, das gilt wie immer schon auch für die Zukunft. Denn hoffent­lich schon bald nach dem Lockdown dürfte Burhan Qurbanis, auf der Berlinale diesen Jahres erstmals gezeigte, wild-geniale Umsetzung von Alfred Döblins »Berlin Alex­an­der­platz« in die Kinos kommen. Und da gilt dann die Doppel­pack­regel auf ganz andere Weise: denn wer Vorlage und Umsetzung glei­cher­maßen zu sich nimmt, der dürfte auch doppelt gesund und fröhlich in die Zukunft blicken können.