19.03.2020

Kein Koller auf Korona, Teil 1

Der Marsianer
Die effektivste Form der Quarantäne – als Marsianer allein auf dem Mars
(Foto: 20th Century Fox)

Netflix abseits der Serien: Über die heilsame Kraft des Humors, das Reisen ohne zu reisen, Filmkunst, Eskapismus und ein Leben ohne Kino in Quarantäne-Zeiten

Von Axel Timo Purr

(Bis auf wenige Ausnahmen sind alle hier genannten Filme „artechock-zerti­fi­ziert“, führen die Links auf Kritiken, Filminfos oder Festi­val­be­richte unserer Autoren)

Die Ober­fläche ist immer trüge­risch. Bei Menschen genauso wie bei mensch­li­chen Algo­rithmen. Netflix ist da keine Ausnahme. Man muss hinter das geschminkte Gesicht, das aufge­setzte Lächeln dringen, um das Wesen dahinter zu erkennen. Das bedeutet, dass man wissen muss, wonach man sucht, dass man den Such-Algo­rithmus bedienen muss, um auch die Falten des geschminkten Gesichts zu erkennen. Und Falten sind ja bekann­ter­maßen viel aufre­gender als die Lange­weile einer model­lierten Schönheit.
Und zu suchen haben wir in Zeiten der Corona-Krise allen Grund, auch wenn ein Großteil unseres Planeten bereits seit vielen Jahren ohne Kinos lebt und sein filmi­sches Angebot auf staubigen Märkten über VCDs (Lagos, Nairobi, Mumbai), rumpelige Holz- und Well­blech­plat­ten­kinos (siehe hierfür Supa Modo) oder lokale Streaming-Anbieter und andere inno­va­tive Ideen (etwa Senegal, Indo­ne­sien oder Somalia) beziehen muss.
Diese Menschen leben immer noch, trotz verhee­render Ebola- und Malaria-Ausbrüche, trotz Bilhar­ziose, Cholera, Typhus, Dengue und Bürger­kriegen und wie sie, müssen auch wir – zumindest für einige Zeit – umdenken.

Lachen gegen Lager­koller

Das beginnt schon mit den Reise­zielen. Wer in Vor-Corona-Zeiten „sein Kino“ und „seine Filme“, vor allem aber „sein artechock-Kino­pro­gramm“ hatte, der wird sich mit der mit der unvor­stellbar schlecht orga­ni­sierten Netflix-Einstiegs­seite nur schwer anfreunden können. Aber es gibt, wie schon gesagt, die Such­funk­tion, um die ersten Corona-Lager-Koller-Syndrome filmisch thera­pieren lassen. In unserer Kritik vor ein paar Monaten zwar nicht ganz so wohl­wol­lend, bespro­chen, mag Fernando Meirelles Die zwei Päpste wegen seine reli­giösen Impetus genau das richtige sein. Ich persön­lich tendiere zum Humor und Lachen, um Phobien und neuro­ti­sche Ticks zu bewäl­tigen. Eine echte Slapstick-Perle mit religions-poli­ti­schem Zündstoff (Nahost-Konflikt, jüdisches Selbst­ver­s­tändnis) und einer Synchro­ni­sa­tion in einem Pseudo-Jiddisch, die an sich schon den Film wert ist, ist auch eine der besten Komödien mit Adam Sandler, Dennis Dugans Leg dich nicht mit Zohan an. Ist »Zohan« noch weitest­ge­hend massen­taug­lich, wird es mit Sean Anders und Adam Sandler als Chaos-Dad, einem echten Grenzgang in Geschmack, schon schwie­riger.
Dass Sandler aber auch anders kann, hat er nicht nur erst kürzlich in Benny und Josh Safdies wuchtigem, auch filmäst­ethisch rausch­ar­tigen DER SCHWARZE DIAMANT gezeigt, sondern bereits 2017 in Noah Baumbachs The Meye­ro­witz Stories (New and Selected). Und wo wir schon bei Baumbach sind, der in unserer »21 liebste-Filme-des-letzten-Jahr­zehnts« immer wieder auftaucht – Baumbachs neuester, hervor­ra­gender Film Marriage Story, ist ebenfalls auf Netflix abrufbar.
Aber wir waren ja beim Humor und der Komödie, der in Deutsch­land von der Kritik wohl am häufigsten miss­ach­teten, miss­ver­stan­denen und besonders gern abge­watschten Kunst. Besonders schön lässt sich das an unserer Multi-Kritik über den Oscar-Sieger des vergan­genen Jahres, Peter Farrellys Green Book ablesen. Leider sind die Meister-Komödien, die Peter mit seinem Bruder Bob insze­niert hat (Dumb & Dumber oder There’s Something About Mary) nicht auf Netlix verfügbar.
Dafür gibt es immerhin eine der letzten Arbeiten von Judd Apatow, einem der ganz großen Meister der ameri­ka­ni­schen Komödie zu sehen . Zwar ist Immer Ärger mit 40 keins seiner Meis­ter­werke, aber für unsere Corona-Tage in Isolation allemal ausrei­chend.
Und dann sind da noch zwei Filme, die erklären, warum ein paar Produk­tionen der letzten Monate auch in unseren Kinos so erfolg­reich waren. Denn ohne Jumanji: Will­kommen im Dschungel wäre Jumanji – The Next Level nicht denkbar, obwohl so viel schwächer als der wirklich inno­va­tive »zweite« erste Teil. Viel besser schneidet da der dritte Teil des Vaters aller »Bad Boys« ab. Zwar weit entfernt vom Kult-Klassiker der afro-ameri­ka­ni­schen Buddy-Comedy, Michael Bays Bad Boys, hat Bad Boys for Life, der bis zum Corona-Shutdown unseres öffent­li­chen Kultur­le­bens immer noch in den Kinos lief, wirklich inno­va­tive Momente, was wohl auch an dem jungen belgi­schen Regie-Duo Bilall Fallah und Adil El Arbi lag.
Egal, wie man zur Komödie stehen mag, man sollte sie eigent­lich auf jedem Rezept zwangs­ver­schreiben – ist sie doch seit Aris­toph­anes eines der bewähr­testen Haus­mittel, um gesund, glücklich und politisch aktiv zu bleiben, gerade in Zeiten großer Krisen.

Filmkunst gegen Lager­koller

Aber da die Berüh­rungs­ängste bzw. die Scham vor dem eigenen Kontroll­ver­lust durch Lachen dann doch viel­leicht zu groß sein könnten, gibt es natürlich auch kontrol­lier­ba­rere Rettungs­anker, nämlich die Filme, die unsere artechock-Kritiker in den Pantheon des »anspruchs­vollen« Films, der Filmkunst gehoben haben, Film, die oft nur in den jetzt geschlos­senen »kleinen« Programm­kinos oder wie in den letzten Jahren immer wieder passiert,ohne Kino­saus­kopp­lung gleich bei Netflix gelandet sind.

Einer der aufre­gendsten Filme und von Netflix ohne jede Werbung in den Katalog aufge­nommen ist Mati Diops ATLANTIQUE, über den Rüdiger Suchsland vor knapp einem Jahr aus Cannes ausführ­lich berich­tete. Ebenfalls in Cannes mit viel Lob (und dem Grand Prix Nespresso der Sektion „Semaine de la critique“) bedacht, aber nie in die Kinos gekommen, ist Jérémy Clapins groß­ar­tiger (Erwach­senen-) Anima­tions-Film Ich habe meinen Körper verloren.
Neben diesen kleinen großen Perlen, gibt es dann natürlich noch die »Block­buster« dieser mutwil­ligen Kategorie – Filme, die es auch in die Kinos geschafft, haben, Filme die mit großen Preisen überhäuft wurden, inno­va­tive Debüts, kraft­volle Höhe­punkte einer langen Karriere oder fulmi­nantes Alters­werk, eigent­lich ist von allem etwas zu haben.
Allein schon Bong Joon-ho, der eben mit Parasite noch den Oscar gewonnen hat, in seinen frühen Werken Snow­piercer oder OKJA zu begegnen, ist ein großer Moment. Oder in Luca Guad­a­gninos Call Me by Your Name Timothée Chalamet (zuletzt in Woody Allens A Rainy Day in New York) beim Durch­bruch seiner Karriere zuzusehen, zu verstehen, warum Alfonso Cuaróns Roma so oft in unserer »21 liebste-Filme-des-letzten-Jahr­zehnts« auftaucht, oder warum Alejandro González Iñárritus Birdman or (The Unex­pected Virtue of Ignorance), warum Barry Jenkins Moonlight, warum David Mackenzie Hell or High Water von uns so gelobt wurden, zu sehen, warum David O. Russells American Hustle und Martin Scorseses The Irishman so so gut von uns bespro­chen wurden, all das ist die langen Tage der Isolation viel­leicht schon wert.

Nicht-west­li­ches Kino gegen Lager­koller

Doch wer das alles schon kennt, dem viel­leicht jetzt schon durch die einge­schränkte Reise­frei­heit ganz übel ist, auch dem sei hiermit Hoffnung verspro­chen. Denn nicht nur ganz Deutsch­land guckt ja inzwi­schen Netflix, sondern die ganze Welt. Doch die Welt bleibt außen vor, wenn man sie nicht öffnet, wenn man sie nicht sucht. Vor allem fünf Regionen lohnen den Besuch.

Kaum in unseren Kinos der letzten Jahre zu finden war das neue arabische Kino – was früher ganz eindeutig und fast ausschließ­lich das ägyp­ti­sche Kino war. Susanna Petrin hat im letzten Jahr einen schönen Text über den verbli­chenen Glamour des ägyp­ti­schen Kinos geschrieben , ein wenig ist davon aller­dings immer noch zu haben. Allein ein Film Action-Spektakel wie der Anti-Terro­rismus Block­buster The Cell oder die zahl­rei­chen Komödien, für die Ägypten berühmt war und ist, bieten einen faszi­nie­renden Blick in die Ethno­grafie des arabi­schen Sprach- und Kultur­raums.

Das funk­tio­niert genauso für die Suche nach »New Nollywood«, einem der größten Film­märkte der Welt, dem Nigerias. Was für eine Reise! Für einen eher konven­tio­nellen Einstieg empfehle ich die erste Auslands-Oscar-Nomi­nie­rung Nigerias überhaupt, Genevieve Nnajis LIONHEART, der dann aber grotes­ker­weise vom ameri­ka­ni­schen Oscar-Auswahl­ko­mitee wegen zu viel englisch­spra­chigen Dialogen disqua­li­fi­ziert wurde, eine Ahnungs­lo­sig­keit bzw. Ignoranz um die Verkehr­spra­chen-Modalität in Nigeria, die kaum zu begreifen ist.

Und dann ist da noch Asien. Sei es »Indo­ne­sian Films« (etwa die legen­dären C-Horror-Filme des Landes) oder »New Bollywood« (z.B. Dear Zindagi – Dear Life (2016), Jodhaa Akbar (2008), Rang De Basanti – Color it Saffron (2006), Lust Stories (2018) Dangal – Wrestling Compe­ti­tion (2016) oder Queen (2013)), die Liste ließe sich endlos fort­setzen und dabei ist Südkorea (siehe oben für Bong Joon-ho) noch gar nicht mal erwähnt. Allein schon das Angebot an Filmen des großen Anima­tions-Studios Ghibli ist seit kurzem so aufge­stockt worden, das einem schon schwin­delig vor Glück werden kann. Sogar eines der großen, letzten Meis­ter­werke des Studios, Isao Takahatas Die Legende der Prin­zessin Kaguya ist verfügbar!

Weltall & Krieg gegen Lager­koller

Aber neben diesen kultu­rellen Weiten unseres Univer­sums gibt es ja noch das Universum selbst, gibt es Ridley Scotts fantas­ti­schen Der Marsianer, eine Anleitung zu überleben in der Isolation, die zu unseren Corona-Tagen besser nicht passen könnte. Auch in Chris­to­pher Nolans Meis­ter­werk Inter­stellar ist die Mensch­heit bedroht. Und gerade im Vergleich mit dem chine­si­schen Dystopie-Erfolg The Wandering Earth zeigt sich die so unter­schied­li­chen kultu­rellen Dispo­si­tionen, die letzt­end­lich entscheiden, wie wir mit Krisen, die uns gefährden, umgehen können.

Einige Politiker betonen pathe­tisch, dass wir uns im Krieg gegen Corona befinden. Ein Abgleich täte dies­be­züg­lich viel­leicht auch Emmanuel Macron gut – eigent­lich sollte schon Ken Burns und Lynn Novicks unglaub­lich dichte, umwer­fende Vietnam Doku­men­ta­tion über Vietnam reichen, aber falls dem nicht so sein sollte: Mel Gibsons Hacksaw Ridge mit einem über­ra­genden Andrew Garfield in der Haupt­rolle sollte den Vergleich definitiv aushebeln.

Deutsche Filme gegen Lager­koller

Wer dann aber doch lieber in Deutsch­land bleiben will, so wie es ja eh nicht anders geht im Moment und auf dem Boden der Tatsachen stehen mag, der kann sich wenigs­tens einen guten Überblick über das deutsche Kino auch jenseits seines manchmal schwie­rigen Main­streams machen.

Ein toller Einstieg dafür ist Hans Wein­gart­ners nun schon 16 Jahre alter Die fetten Jahre sind vorbei, der genauso radikal und aufregend über poli­ti­sches Denken und Leben in Deutsch­land erzählt wie Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer. Und dann sind da noch weitere Lieblinge unserer Autoren. Sei es Sebastian Schippers Victoria, Jakob Lass Tiger Girl, Petra Volpes Die göttliche Ordnung (na gut, Schweiz), Andreas Dresens Gunder­mann, und natürlich der große deutsche Über­ra­schungs­er­folg des letzten Jahres, Nora Finger­scheidts System­sprenger – Deutsch­land, wir bleiben gerne hier und zuhause sowieso.