Kein Koller auf Korona, Teil 1 |
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Die effektivste Form der Quarantäne – als Marsianer allein auf dem Mars | ||
(Foto: 20th Century Fox) |
Von Axel Timo Purr
(Bis auf wenige Ausnahmen sind alle hier genannten Filme „artechock-zertifiziert“, führen die Links auf Kritiken, Filminfos oder Festivalberichte unserer Autoren)
Die Oberfläche ist immer trügerisch. Bei Menschen genauso wie bei menschlichen Algorithmen. Netflix ist da keine Ausnahme. Man muss hinter das geschminkte Gesicht, das aufgesetzte Lächeln dringen, um das Wesen dahinter zu erkennen. Das bedeutet, dass man wissen muss, wonach man sucht, dass man den Such-Algorithmus bedienen muss, um auch die Falten des geschminkten Gesichts zu erkennen. Und Falten sind ja bekanntermaßen viel aufregender als die Langeweile einer modellierten
Schönheit.
Und zu suchen haben wir in Zeiten der Corona-Krise allen Grund, auch wenn ein Großteil unseres Planeten bereits seit vielen Jahren ohne Kinos lebt und sein filmisches Angebot auf staubigen Märkten über VCDs (Lagos, Nairobi, Mumbai), rumpelige Holz- und Wellblechplattenkinos (siehe hierfür Supa Modo) oder lokale Streaming-Anbieter und andere innovative Ideen (etwa Senegal, Indonesien oder Somalia) beziehen muss.
Diese Menschen leben immer noch, trotz verheerender Ebola- und Malaria-Ausbrüche, trotz Bilharziose, Cholera, Typhus, Dengue und Bürgerkriegen und wie sie, müssen auch wir – zumindest für
einige Zeit – umdenken.
Das beginnt schon mit den Reisezielen. Wer in Vor-Corona-Zeiten „sein Kino“ und „seine Filme“, vor allem aber „sein artechock-Kinoprogramm“ hatte, der wird sich mit der mit der unvorstellbar schlecht organisierten Netflix-Einstiegsseite nur schwer anfreunden können. Aber es gibt, wie schon gesagt, die Suchfunktion, um die ersten Corona-Lager-Koller-Syndrome filmisch therapieren lassen. In unserer Kritik vor ein paar Monaten zwar nicht ganz so wohlwollend, besprochen, mag Fernando Meirelles Die zwei Päpste wegen seine religiösen Impetus genau das richtige sein. Ich persönlich tendiere zum Humor und Lachen, um Phobien und neurotische Ticks zu bewältigen. Eine echte Slapstick-Perle mit
religions-politischem Zündstoff (Nahost-Konflikt, jüdisches Selbstverständnis) und einer Synchronisation in einem Pseudo-Jiddisch, die an sich schon den Film wert ist, ist auch eine der besten Komödien mit Adam Sandler, Dennis Dugans Leg dich nicht mit Zohan an. Ist »Zohan« noch weitestgehend massentauglich, wird es mit Sean Anders und Adam Sandler als Chaos-Dad, einem echten Grenzgang in Geschmack, schon schwieriger.
Dass Sandler aber auch anders kann, hat er nicht nur erst kürzlich in Benny und Josh Safdies wuchtigem, auch filmästethisch rauschartigen DER SCHWARZE DIAMANT gezeigt, sondern bereits 2017 in Noah Baumbachs The Meyerowitz Stories (New and Selected). Und wo wir schon bei Baumbach sind, der in unserer »21 liebste-Filme-des-letzten-Jahrzehnts« immer wieder auftaucht – Baumbachs neuester, hervorragender Film Marriage Story, ist
ebenfalls auf Netflix abrufbar.
Aber wir waren ja beim Humor und der Komödie, der in Deutschland von der Kritik wohl am häufigsten missachteten, missverstandenen und besonders gern abgewatschten Kunst. Besonders schön lässt sich das an unserer Multi-Kritik über den Oscar-Sieger des vergangenen Jahres, Peter Farrellys Green Book ablesen. Leider sind die Meister-Komödien, die Peter mit seinem
Bruder Bob inszeniert hat (Dumb & Dumber oder There’s Something About Mary) nicht auf Netlix verfügbar.
Dafür gibt es immerhin eine der letzten Arbeiten von Judd Apatow, einem der ganz großen Meister der amerikanischen Komödie zu sehen . Zwar ist Immer Ärger mit 40 keins seiner Meisterwerke, aber für unsere Corona-Tage in Isolation allemal ausreichend.
Und dann sind da noch zwei Filme, die erklären, warum ein paar Produktionen der letzten Monate auch in unseren Kinos so erfolgreich waren. Denn ohne Jumanji: Willkommen im Dschungel wäre Jumanji – The Next Level nicht denkbar, obwohl so viel schwächer als der wirklich innovative »zweite« erste Teil. Viel besser schneidet da der dritte Teil des Vaters aller »Bad Boys« ab. Zwar weit entfernt vom Kult-Klassiker der afro-amerikanischen Buddy-Comedy, Michael Bays Bad Boys, hat Bad Boys for Life, der bis zum Corona-Shutdown unseres öffentlichen Kulturlebens immer noch in den Kinos lief, wirklich innovative Momente, was wohl auch an dem jungen belgischen Regie-Duo Bilall Fallah und Adil El Arbi lag.
Egal, wie man zur Komödie stehen mag, man sollte sie eigentlich auf jedem Rezept zwangsverschreiben – ist sie doch seit Aristophanes eines der bewährtesten Hausmittel, um gesund, glücklich und politisch aktiv zu bleiben, gerade in Zeiten großer Krisen.
Aber da die Berührungsängste bzw. die Scham vor dem eigenen Kontrollverlust durch Lachen dann doch vielleicht zu groß sein könnten, gibt es natürlich auch kontrollierbarere Rettungsanker, nämlich die Filme, die unsere artechock-Kritiker in den Pantheon des »anspruchsvollen« Films, der Filmkunst gehoben haben, Film, die oft nur in den jetzt geschlossenen »kleinen« Programmkinos oder wie in den letzten Jahren immer wieder passiert,ohne Kinosauskopplung gleich bei Netflix gelandet sind.
Einer der aufregendsten Filme und von Netflix ohne jede Werbung in den Katalog aufgenommen ist Mati Diops ATLANTIQUE, über den Rüdiger Suchsland vor knapp einem Jahr aus Cannes ausführlich berichtete. Ebenfalls in Cannes mit viel Lob (und dem Grand Prix Nespresso der Sektion „Semaine de la critique“) bedacht,
aber nie in die Kinos gekommen, ist Jérémy Clapins großartiger (Erwachsenen-) Animations-Film Ich habe meinen Körper verloren.
Neben diesen kleinen großen Perlen, gibt es dann natürlich noch die »Blockbuster« dieser mutwilligen Kategorie – Filme, die es auch in die Kinos geschafft, haben, Filme die mit großen Preisen überhäuft wurden, innovative Debüts,
kraftvolle Höhepunkte einer langen Karriere oder fulminantes Alterswerk, eigentlich ist von allem etwas zu haben.
Allein schon Bong Joon-ho, der eben mit Parasite noch den Oscar gewonnen hat, in seinen frühen Werken Snowpiercer oder OKJA zu begegnen, ist ein großer Moment. Oder in Luca Guadagninos Call Me by Your Name Timothée Chalamet (zuletzt in Woody Allens A Rainy Day in New York) beim Durchbruch seiner Karriere zuzusehen, zu verstehen, warum Alfonso Cuaróns Roma so oft in unserer »21 liebste-Filme-des-letzten-Jahrzehnts« auftaucht, oder warum Alejandro González Iñárritus Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance), warum Barry Jenkins Moonlight, warum David Mackenzie Hell or High Water von uns so gelobt wurden, zu sehen, warum David O. Russells American Hustle und Martin Scorseses The Irishman so so gut von uns besprochen wurden, all das ist die langen Tage der Isolation vielleicht schon wert.
Doch wer das alles schon kennt, dem vielleicht jetzt schon durch die eingeschränkte Reisefreiheit ganz übel ist, auch dem sei hiermit Hoffnung versprochen. Denn nicht nur ganz Deutschland guckt ja inzwischen Netflix, sondern die ganze Welt. Doch die Welt bleibt außen vor, wenn man sie nicht öffnet, wenn man sie nicht sucht. Vor allem fünf Regionen lohnen den Besuch.
Kaum in unseren Kinos der letzten Jahre zu finden war das neue arabische Kino – was früher ganz eindeutig und fast ausschließlich das ägyptische Kino war. Susanna Petrin hat im letzten Jahr einen schönen Text über den verblichenen Glamour des ägyptischen Kinos geschrieben , ein wenig ist davon allerdings immer noch zu haben. Allein ein Film Action-Spektakel wie der Anti-Terrorismus Blockbuster The Cell oder die zahlreichen Komödien, für die Ägypten berühmt war und ist, bieten einen faszinierenden Blick in die Ethnografie des arabischen Sprach- und Kulturraums.
Das funktioniert genauso für die Suche nach »New Nollywood«, einem der größten Filmmärkte der Welt, dem Nigerias. Was für eine Reise! Für einen eher konventionellen Einstieg empfehle ich die erste Auslands-Oscar-Nominierung Nigerias überhaupt, Genevieve Nnajis LIONHEART, der dann aber groteskerweise vom amerikanischen Oscar-Auswahlkomitee wegen zu viel englischsprachigen Dialogen disqualifiziert wurde, eine Ahnungslosigkeit bzw. Ignoranz um die Verkehrsprachen-Modalität in Nigeria, die kaum zu begreifen ist.
Und dann ist da noch Asien. Sei es »Indonesian Films« (etwa die legendären C-Horror-Filme des Landes) oder »New Bollywood« (z.B. Dear Zindagi – Dear Life (2016), Jodhaa Akbar (2008), Rang De Basanti – Color it Saffron (2006), Lust Stories (2018) Dangal – Wrestling Competition (2016) oder Queen (2013)), die Liste ließe sich endlos fortsetzen und dabei ist Südkorea (siehe oben für Bong Joon-ho) noch gar nicht mal erwähnt. Allein schon das Angebot an Filmen des großen Animations-Studios Ghibli ist seit kurzem so aufgestockt worden, das einem schon schwindelig vor Glück werden kann. Sogar eines der großen, letzten Meisterwerke des Studios, Isao Takahatas Die Legende der Prinzessin Kaguya ist verfügbar!
Aber neben diesen kulturellen Weiten unseres Universums gibt es ja noch das Universum selbst, gibt es Ridley Scotts fantastischen Der Marsianer, eine Anleitung zu überleben in der Isolation, die zu unseren Corona-Tagen besser nicht passen könnte. Auch in Christopher Nolans Meisterwerk Interstellar ist die Menschheit bedroht. Und gerade im Vergleich mit dem chinesischen Dystopie-Erfolg The Wandering Earth zeigt sich die so unterschiedlichen kulturellen Dispositionen, die letztendlich entscheiden, wie wir mit Krisen, die uns gefährden, umgehen können.
Einige Politiker betonen pathetisch, dass wir uns im Krieg gegen Corona befinden. Ein Abgleich täte diesbezüglich vielleicht auch Emmanuel Macron gut – eigentlich sollte schon Ken Burns und Lynn Novicks unglaublich dichte, umwerfende Vietnam Dokumentation über Vietnam reichen, aber falls dem nicht so sein sollte: Mel Gibsons Hacksaw Ridge mit einem überragenden Andrew Garfield in der Hauptrolle sollte den Vergleich definitiv aushebeln.
Wer dann aber doch lieber in Deutschland bleiben will, so wie es ja eh nicht anders geht im Moment und auf dem Boden der Tatsachen stehen mag, der kann sich wenigstens einen guten Überblick über das deutsche Kino auch jenseits seines manchmal schwierigen Mainstreams machen.
Ein toller Einstieg dafür ist Hans Weingartners nun schon 16 Jahre alter Die fetten Jahre sind vorbei, der genauso radikal und aufregend über politisches Denken und Leben in Deutschland erzählt wie Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer. Und dann sind da noch weitere Lieblinge unserer Autoren. Sei es Sebastian Schippers Victoria, Jakob Lass Tiger Girl, Petra Volpes Die göttliche Ordnung (na gut, Schweiz), Andreas Dresens Gundermann, und natürlich der große deutsche Überraschungserfolg des letzten Jahres, Nora Fingerscheidts Systemsprenger – Deutschland, wir bleiben gerne hier und zuhause sowieso.