72. Filmfestspiele Cannes 2019
Schlafwandler der Sehnsucht |
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Mati Diops Atlantique | ||
(Foto: Netflix/Les Films du Bal) |
»Some memories are omens.« Aus: Atlantique
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Der Wind ist das Prägnanteste in der Erinnerung an diesen Film. Er ist laut, und überaus stark, er facht das Feuer an, das hier brennt, wie die Gefühle, die walten, er lässt die Wellen gegen die Küste peitschen, bis aus ihnen weißglänzende Gischt wird. Das Zweite sind die Farben. In wie vielen Farben das Meer strahlen kann! Von schwarzkupfernem Orange über tiefdunkles Blau, zum türkisgelbem Glitzerspiel bis hin zu reinem Weiß, wenn die Sonne es im passenden Winkel trifft.
Dies ist ein überaus sinnlicher Film, ein Film der kleinen unmerklichen Impressionen und Verschiebungen – ein Eindruck, der nur noch verstärkt wird durch das Wissen um die dunklen Kräfte, die hier die Menschen mehr als gelegentlich erfassen. Das Afrika der Mati Diop ist ein Raum des Anderen, der anderen Erfahrung, zugleich fernab von allen Vorstellungen eines »Heart of Darkness«, mehr ein Raum für Gedanken und Empfindungen, für Erfahrungen der Freiheit.
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Eine frühe Szene in diesem Film zeigt eine Autofahrt am Meer entlang. Der Pickup hat Arbeiter geladen, gerechnet wird in Stückzahl, man sieht und hört Wellen, wie den Wind, dazu Musik, denn die Arbeiter singen. Das dauert minutenlang, nur ab und an bleibt die Kamera auf die eine Hauptfigur konzentriert, die man da schon kennt, sie alle Zeit der Welt. So macht der Film Poesie.
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Zunächst wirkt Atlantique ganz realistisch. Es fängt an, wie ein Loach-Film: Alles spielt im Senegal, in Dakar, viele Hundert Arbeiter arbeiten am »Muegeza Tower«, sie protestieren, denn seit drei Monaten gibt es kein Geld. Die Kräfte im Büro wimmeln ab: »Es nicht unser Geld.« Der etwa 20-jährige Suleiman ist einer der Sprecher der Arbeiter. Bald wissen wir, warum er das Geld gerade heute so dringend braucht, wissen den resignierten Gesichtsausdruck zu deuten, als er es nicht bekommt.
Danach der späte Nachmittag den Suleiman und Ada zusammen verbringen, am Meer. Alles scheint zunächst ganz einfach die Liebesgeschichte zwischen ihnen zu erzählen. Doch irgendetwas ist los, steht unausgesprochen im Raum, man spürt das mehr, denn erzählt wird es absichtsvoll nicht. Entscheidende Stunden. Einmal läuft im Hintergrund die Musik: »In die neue Welt« – ein Omen.
Später verstehen wir: Ada soll in zehn Tagen verheiratet werden mit einem Mann den sie nicht liebt; sie ignoriert diese Tatsache, als gäbe es kein Morgen. Diesen Morgen wird Suleiman auf See sein, weit weg von Ada, denn schon am selben Abend wird sich der junge Mann auf die gefahrvolle Schiffsreise nach Europa begeben. Eine Reise, die womöglich eine ohne Wiederkehr ist, auch wenn er das in dem Augenblick nicht wahrhaben will. Er will es der Geliebten erzählen, aber findet nicht den Moment.
Als dieser Punkt überschritten ist, gegen Mitternacht, als Ada erfährt, das Suleiman ganz weg ist und wir ahnen, dass sie ihn so leicht nicht wiedersehen wird, da hebt der Film ab, wird zu einer im Trance-Tempo voranschwebenden poetischen Traumreise, erst recht, als irgendwann klar wird, dass Suleiman tot ist.
Doch am Atlantikufer, dem Ort für sehnsuchtsvolle Blicke und für Stunden des Vergessens in der Strandbar von Adas Freundin, dort kann man des Nachts auch den Toten begegnen, mit ihnen sogar eine Liebesnacht verbringen – die Sehnsucht macht es möglich.
Atlantique ist weniger interessant, wo der Film widerspruchsfrei erzählen und dokumentieren will. Wobei das Dokumentierte faszinierend ist: Die hypermoderne Megalomanie, die billigen Kopien westlichen Lebens, die Last afrikanischer Traditionen, demgegenüber die Häresie der Jungen.
Stark wird der Film immer dann, wenn er sich intuitiv ganz dem eigenen Ansatz hingibt, auf das lyrische Erzählen vertraut, auf die Lust am Bild.
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Träumerische Bilder. Raum für Gedanken und Empfindungen. Das Meer. Der Horizont. Zweifel und Feuer. Freundinnen geben Ada Ratschläge. Ein »Virginity-Test« wird gemacht und erfolgreich bestanden, ein Marabout konsultiert. So gehen Naturalismus und Märchen Hand in Hand. Ein Polizist ist von einer seltsamen Krankheit ergriffen, wie überhaupt so manches seltsam ist an diesem Film. Die Mythen der Seefahrt treffen auf magisches Erzählen. Die Welle. Der Tod.
»Some memories are omens«, sagt Ada einmal. Ein Schlüssel zu diesem Film: Atlantique ist auch eine Geschichte des Erwachsenwerdens von Ada. Ein Film wie ein Trance, dem man sich anvertrauen kann. Diop ist ein beglückendes Filmmärchen gelungen, das uns Europäern die Fenster zu etwas atemberaubend Neuem öffnet.
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Ich habe es schon geschrieben, aber es ist, wenn man einmal den Blick dafür bekommen hat, sensibilisiert ist, erstaunlich, welche Dimension das Zombie-Sujet in den diesjährigen Filmen einnimmt. Dieses faszinierende und gar nicht so abseitige Thema wirklich ernst nehmen aber nur zwei sehr unterschiedliche französische Filmemacher. Und sie zeigen auch, was es tatsächlich mit der Gegenwart zu tun hat.
Mati Diop ist die eine. Die Französin mit senegalischer Verwandtschaft (ihr Onkel ist der Regisseur Djibril Diop Mambéty, der mit Touki Bouki – Die Reise der Hyäne 1972 in Cannes den Preis der Filmkritik erhielt, ihre Mutter ist Filmmusikerin) ist die interessanteste Regisseurin im diesjährigen Wettbewerb. Als Schauspielerin (u.a. für Claire Denis) wurde sie bekannt, ihre Kurzfilme waren ein Tipp für Eingeweihte, ihr erster Langfilm landete nun gleich im Wettbewerb.
Der andere ist Bertrand Bonello.
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Es gibt eine Szene in Bonellos Zombi Child, in der ein junges Mädchen zombifiziert werden soll. Mir selbst ist tatsächlich während dieses Zombie-Akts im Kino schlecht geworden, Übelkeit kam auf, das Gefühl, jetzt und hier krank werden zu müssen. Danach, kaum war die Szene vorbei, war alles wieder gut. Der Gedanke ließ sich nicht vermeiden: Ist da mehr, als es scheint?
Dieser Gedanke trägt diesen Film. Er fragt nach Zusammenhängen, ohne sich der Antwort im Vorhinein gewiss zu sein.
Dies ist ein Film über Kolonialismus und seine Folgen, ein Film über den Stolz der Schwarzen und die Kraft ihres Widerstands, auch in der Sklavenkolonie Haiti, aus der sie nicht stammten, die sie sich genauso erobern mussten, wie ihre Herren es getan hatten.
Bonellos Liebe zu jungen Menschen zeigt sich in jeder Sekunde des Films. Der Film behandelt Rapper wie Damso, einen Pop-Star wie Rihanna gleichwertig wie Balzac und Michelet. »What does Rihanna represent to you?« – »Which is your favourite Rihanna song?« fragen die Lehrer ihre Schüler. Insofern praktiziert dieser Film eine égalité, die sonst oft nur behauptet wird: Auch die Hautfarbe Melissas, der einzigen Schwarzen einer Girl Gang, wird nie thematisiert, und es ist an Mélissa und ihrer Freundin Fanny erkennbar, dass sich Bonello nicht zuletzt dafür interessiert, differenziert und unvoreingenommen zu zeigen, wie junge Mädchen heute auf die Welt blicken, wie ihr Verhältnis zu ihrer jeweils eigenen Kultur aussieht.
Schließlich die Zombies und das Zombifizieren. Es wird selbstverständlich genommen, wie alles in diesem Film. Und beiläufig erzählt. Fast wissenschaftlich, aber immer fiktional untersucht Zombi Child die Bedingungen und Möglichkeiten von Voodoo und Zombies als einer sozialen Praxis zu erkunden, einer Praxis, die tief im Alltag von Haiti und – siehe Atlantique – auch in der afrikanischen Kultur verhaftet ist. Zu dieser Haltung und der Intelligenz dieses Films passt, dass als letztes Lied gespielt wird: »You'll never walk alone.« Darauf muss man auch erst mal kommen. Denn ich kann nicht glauben, dass Bonello an irgendetwas anderes gedacht hat, als an Jacques Tourneurs, von Curt Siodmak geschriebenen Klassiker: I Walked with a Zombie.
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Wenn Atlantique und Zombi Child antikolonialistisches Kino sind, dann könnte man Bacurau als Anti-Gringo-Kino bezeichnen.
Der Brasilianer Kleber Mendonça hat einen Film gemacht, der seine Fans enttäuscht. Kein Hauch mehr von der schönen Prätention und strengen Disziplin von Aquarius, die Liebhaber typischen Hipster-Festivalkinos 2016 in Cannes verzückte. Das spricht für ihn und für sich. Es geht Mendonça um die Sache. Aber welches ist seine Sache? Ein Wassertanker zu Beginn erinnert an The Sorcerer, ein Laster mit Särgen ist umgekippt. Bald wird ein Dorf bedroht. Es folgen Splattereffekte und Rachefantasie.
Der Film verbindet Science-Fiction, Paranoiakino und Western zu einem Hybrid aus John-Carpenter-Hommage und Kommentar zur aktuellen Politik. Und zwar nicht nur zur brasilianischen. Das meine ich mit Anti-Gringo. Denn diese Geschichte eines Dorfes, das sich à la Die sieben Samurai gegen böse Politiker und ihre US-amerikanische Mördertruppe verteidigt, richtet sich auch gegen westliche Kategorien, gegen die »Epistemologien des Nordens«, wo die Wohlstandsbürger sich zur Zeit am liebsten mit dem Kategorisieren von Menschen und dem Erfinden immer neuer Kategorien im Niemandsland zwischen Hetero und Homo, Trans und Queer die Zeit vertreiben.
Die Utopie des Südens ist dagegen Verständigung durch Durchmischung. Man ignoriert Unterschiede, zelebriert sie nicht. Sie zu benennen ist schon Rassismus. Das führt dieser Film vor. Das Brasilien dieses Films ist ein Ort der Kargheit, der Gewalt, des Heterogenen, nicht der Homogenisierungen, seien sie auch gut gemeint.
»The world is upside down.«
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Spuren von Anti-Gringo und Zombification finden sich auch ohne Umschweife in Les Misérables von Ladj Ly. Der Titel spielt natürlich auf Victor Hugo an, der Film hat aber mit dessen vielfach verfilmten Roman nur gemeinsam, dass auch Ladj Ly von den Pariser Unterschichten erzählt. Zweimal fällt beiläufig Hugos Name.
Alles spielt heute, an ein paar Sommertagen kurz nach dem Sieg der Franzosen bei der Fußball-WM im vergangenen Jahr: Eine Einheit von drei Polizisten streift im Wagen durch die Banlieues. Wir lernen vor allem mit ihren Augen das Viertel kennen, die verschiedenen ethnischen Gruppen, die Banden, die Erwachsenen, die strafunmündige Kinder für ihre Geschäfte instrumentalisieren. Dann eskalieren die Dinge, und als die drei Polizisten einen Fehler machen, und dann noch ein paar, um den ersten zu vertuschen, werden sie selbst zu Gejagten.
Dies ist einer jener Filme, in dem sich Menschen dauernd anschreien, Kamera und Schnitt arbeiten mit den Mitteln des übersteigerten Realismus – Close-ups, Reissschwenks, mal Wackelkamera, mal schnelle Schnitte – um »Echtheit« zu suggerieren. Die Intensität gelingt, allerdings auf Kosten der Genauigkeit. So ist dieser Film weder ein präzis beobachtetes Sozialportrait, noch richtig funktionierendes Genrekino. Immerhin ein Film, der einen für Augenblicke am Zustand der Gesellschaft verzweifeln lässt. Genau dieses Gefühl will Ladj Ly wahrscheinlich auch herstellen.
Im Zentrum steht neben den drei Polizisten ein Kind. Das wird von einer Leuchtgranate angeschossen, schwer verletzt, und trägt ein entstelltes Gesicht davon. Natürlich ist auch dieses Kid ein Zombie. Maskiert und leblos wird es zum Herren des Halbdunkel, des Feuers, gibt Tod und Leben.
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Schluss mit Europa! Das ist es, was alle diese Filme auch sagen. Es ist vorbei, bye bye, Junimond...
(to be continued)