72. Filmfestspiele Cannes 2019
Mädchen in Uniform |
||
Betrand Bonellos Zombi Child | ||
(Foto: Grandfilm) |
»Wenn man sich eine Ästhetik der Textlust vorstellen könnte, müsste sie 'das laute Schreiben' einschließen. ... sein Ziel ist nicht die Klarheit der 'messages', das Schauspiel der Emotionen; es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Triebregungen, die mit Haut bedeckte Sprache... die Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache ... vielleicht am ehesten im Film. Der Film braucht nur den Ton der Sprache 'von ganz nah' aufzunehmen ... leicht rauh und vibrierend sein wie die Schnauze eines Tieres... das knirscht, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: Wollust.«
Roland BarthesÉcoutez monde blanc / Les salves de nos morts
Écoutez ma voix de zombi / En l’honneur de nos morts
Écoutez monde blanc / Mon typhon de bêtes fauves
Mon sang déchirant ma tristesse / Sur tous les chemins du monde
Écoutez monde blanc!
René Depestre: »Cap'tain Zombi«
+ + +
Warum auch immer, aber es ist das Zombie-Thema, das die ersten Festivaltage in Cannes entscheidend prägt, über alle Sektionen hinweg, über alle gerade zu beobachtende allgemeine Lust am Genre, aber besonders im Wettbewerb. Die Figuren bei Jessica Hausner (Little Joe) sind in gewissem Sinn zombifiziert, die Figuren bei Nicholas Winding Refn, man wird sie bei Kleber Mendonça (Bacurau) ebenso entdecken, beim Chinesen Diao Yinan und sogar überaus unerwartet bei Ken Loach.
Der Horror und zwar ein ganz bestimmter, nicht sehr schöner, sondern schmutziger, ekeliger, abseitiger ist jedenfalls zurück.
Dazu hat gepasst, dass man Stanley Kubricks The
Shining am Freitag wiederaufführte.
+ + +
Man kann in den Filmen nun tatsächlich fast alles entdecken, was die Zombie-Metapher hergibt; eine besondere Funktion hat sie aber in zwei Filmen, die mit den Zombies auf ihre Wurzeln zurückkehren in den afrikanischen und karibischen Kulturen – und es waren nicht nur faszinierende Mindfuck-Trips, sondern einfach die zwei besten Filme, die ich bisher in Cannes gesehen habe: Mati Diops Atlantique im Wettbewerb und Zombi Child von Bertrand Bonello. Zwei Franzosen, zwei Angehörige derjenigen ehemaligen Kolonialmacht, die sich ein bisschen mehr auf ihre afrikanischen Wurzeln einlassen.
+ + +
Über Atlantique schreibe ich jetzt nicht ausführlich, konzentrieren wir uns auf Bonello, weil dieser in seinem Film gleich doppelte Diskursebenen mit einspeist. Vieles geht auf – wenn man so will und daran glauben kann – »reale« Ereignisse zurück: Die Geschichte des Clairvius Narcissus, eines der berühmtesten Zombies des vergangenen Jahrhunderts. Dessen historisch in größeren Teilen belegtes Schicksal wird in einem Nebenstrang erzählt und auf einer parallelen Erzählebene mit der Hauptgeschichte verbunden. Diese spielt in der Gegenwart und erzählt von Fanny, Schülerin auf der »Maison d’éducation de la Légion d’honneur« in Saint Denis, einer der edelsten Eliteschulen Frankreichs. Dies ist demnach auch ein Internatsmovie, aber weitaus magischer als »Harry Potter«. Fanny ist Teil einer Girl Group wie sie in solchen Filmen eben vorkommen, leidet schwer an Liebeskummer (ihrem abwesenden Geliebten Paul schreibt sie flammende Liebesbriefe, die so toll klingen, wie solche Briefe nur auf Französisch klingen) und hat außerdem eine neue Freundin: Melissa, eine Überlebende des Erdbebens von Haiti, und die einzige Schwarze auf der Schule. Sie ist Enkelin von Barcissus, und ihre in Paris lebende Tante ein »Mambo«, eine Voodoo-Priesterin. Um in den Girls-Club aufgenommen zu werden muss sie nachts beim Kerzenschein als Initiationsritual etwas machen, was »alle rührt«. Sie sagt das Gedicht »Cap'tain Zombi« des haitianischen Dichters René Depestre auf, über die Leiden der Schwarzen, mit dem unvergesslichen Refrain: »Ecoutez, monde blanc!«.
+ + +
Neben derartigen pathetischen Passagen hat der Film typische Bonello-Szenen, die von Elektropop geprägt sind. Und Edukatives: Ein Lehrer zitiert Michelets Äußerung von 1846: »Frankreich ist schuldig, die Welt befreit zu haben. Das wird sie Frankreich nie verzeihen.« Er erklärt, Napoleon Bonaparte habe die Revolution beendet und vollendet zugleich. Und dann geht es ums 19. Jahrhundert, die Erfindung der Freiheit durch den Liberalismus, die Erfahrungen der Freiheit und dann deren
Verdunkelung: »Liberalisme occulte la liberté.«
Insgesamt ein ganz toller, grandios über Ausdruck und Gefühl erzählter Film, schwebend, modern.
+ + +
Die Ähnlichkeiten zwischen Bonello und Diop sind frappierend: Die Sehnsucht, die Anrufung des verschwundenen Geliebten am Ende.
+ + +
Zombi Child läuft in der »Quinzaine des réalisateurs«, einer Sektion, die mit dem Italiener Paolo Moretti in diesem Jahr einen neuen Leiter hat, und der sich schon in seiner ersten Ausgabe anschickt, in die Fußstapfen der großen Quinzaine-Zeit von Olivier Père zu treten.
Man muss öfter in die »Quinzaine« gehen. Hier kann man sich bei den minutenlangen Standing Ovations ohne Smoking und Kleiderordnung wieder an das erinnern, wieso ein Festival eigentlich da sein sollte. Es ist die schönere, hippere Sektion, die Besucher sind klüger, jünger und schöner als in der offiziellen Selektion, begeisterungsfähiger, enthusiastischer, leidenschaftlicher, passionierter, der Funke springt schon während des Screenings über. Hinzu kommt der
nostalgische Flair des alten Kinoraums.
Die »Quinzaine« ist zurück. »This is really the place to reflect on the contemporary cinema«, sagte Bonello vor der Vorführung, »my film is about freedom. Liberté!«
(to be continued)