19.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Mädchen in Uniform

Bonello Zombi Child
Betrand Bonellos Zombi Child
(Foto: Grandfilm)

Die Kinder der Zombies – ein erster Blick auf Bertrand Bonellos Zombi Child – Cannes-Notizen, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wenn man sich eine Ästhetik der Textlust vorstellen könnte, müsste sie 'das laute Schreiben' einschließen. ... sein Ziel ist nicht die Klarheit der 'messages', das Schau­spiel der Emotionen; es sucht vielmehr (im Streben nach Wollust) die Trieb­re­gungen, die mit Haut bedeckte Sprache... die Verknüp­fung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache ... viel­leicht am ehesten im Film. Der Film braucht nur den Ton der Sprache 'von ganz nah' aufzu­nehmen ... leicht rauh und vibrie­rend sein wie die Schnauze eines Tieres... das knirscht, das knistert, das strei­chelt, das schabt, das schneidet: Wollust.«
Roland Barthes

Écoutez monde blanc / Les salves de nos morts
Écoutez ma voix de zombi / En l’honneur de nos morts
Écoutez monde blanc / Mon typhon de bêtes fauves
Mon sang déchirant ma tristesse / Sur tous les chemins du monde
Écoutez monde blanc!

René Depestre: »Cap'tain Zombi«

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Warum auch immer, aber es ist das Zombie-Thema, das die ersten Festi­val­tage in Cannes entschei­dend prägt, über alle Sektionen hinweg, über alle gerade zu beob­ach­tende allge­meine Lust am Genre, aber besonders im Wett­be­werb. Die Figuren bei Jessica Hausner (Little Joe) sind in gewissem Sinn zombi­fi­ziert, die Figuren bei Nicholas Winding Refn, man wird sie bei Kleber Mendonça (Bacurau) ebenso entdecken, beim Chinesen Diao Yinan und sogar überaus uner­wartet bei Ken Loach.
Der Horror und zwar ein ganz bestimmter, nicht sehr schöner, sondern schmut­ziger, ekeliger, absei­tiger ist jeden­falls zurück.
Dazu hat gepasst, dass man Stanley Kubricks The Shining am Freitag wieder­auf­führte.

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Man kann in den Filmen nun tatsäch­lich fast alles entdecken, was die Zombie-Metapher hergibt; eine besondere Funktion hat sie aber in zwei Filmen, die mit den Zombies auf ihre Wurzeln zurück­kehren in den afri­ka­ni­schen und kari­bi­schen Kulturen – und es waren nicht nur faszi­nie­rende Mindfuck-Trips, sondern einfach die zwei besten Filme, die ich bisher in Cannes gesehen habe: Mati Diops Atlan­tique im Wett­be­werb und Zombi Child von Bertrand Bonello. Zwei Franzosen, zwei Angehö­rige derje­nigen ehema­ligen Kolo­ni­al­macht, die sich ein bisschen mehr auf ihre afri­ka­ni­schen Wurzeln einlassen.

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Über Atlan­tique schreibe ich jetzt nicht ausführ­lich, konzen­trieren wir uns auf Bonello, weil dieser in seinem Film gleich doppelte Diskurs­ebenen mit einspeist. Vieles geht auf – wenn man so will und daran glauben kann – »reale« Ereig­nisse zurück: Die Geschichte des Clairvius Narcissus, eines der berühm­testen Zombies des vergan­genen Jahr­hun­derts. Dessen histo­risch in größeren Teilen belegtes Schicksal wird in einem Neben­strang erzählt und auf einer paral­lelen Erzäh­le­bene mit der Haupt­ge­schichte verbunden. Diese spielt in der Gegenwart und erzählt von Fanny, Schülerin auf der »Maison d’éducation de la Légion d’honneur« in Saint Denis, einer der edelsten Elite­schulen Frank­reichs. Dies ist demnach auch ein Inter­nats­movie, aber weitaus magischer als »Harry Potter«. Fanny ist Teil einer Girl Group wie sie in solchen Filmen eben vorkommen, leidet schwer an Liebes­kummer (ihrem abwe­senden Geliebten Paul schreibt sie flammende Liebes­briefe, die so toll klingen, wie solche Briefe nur auf Fran­zö­sisch klingen) und hat außerdem eine neue Freundin: Melissa, eine Über­le­bende des Erdbebens von Haiti, und die einzige Schwarze auf der Schule. Sie ist Enkelin von Barcissus, und ihre in Paris lebende Tante ein »Mambo«, eine Voodoo-Pries­terin. Um in den Girls-Club aufge­nommen zu werden muss sie nachts beim Kerzen­schein als Initia­ti­ons­ri­tual etwas machen, was »alle rührt«. Sie sagt das Gedicht »Cap'tain Zombi« des haitia­ni­schen Dichters René Depestre auf, über die Leiden der Schwarzen, mit dem unver­gess­li­chen Refrain: »Ecoutez, monde blanc!«.

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Neben derar­tigen pathe­ti­schen Passagen hat der Film typische Bonello-Szenen, die von Elek­tropop geprägt sind. Und Eduka­tives: Ein Lehrer zitiert Michelets Äußerung von 1846: »Frank­reich ist schuldig, die Welt befreit zu haben. Das wird sie Frank­reich nie verzeihen.« Er erklärt, Napoleon Bonaparte habe die Revo­lu­tion beendet und vollendet zugleich. Und dann geht es ums 19. Jahr­hun­dert, die Erfindung der Freiheit durch den Libe­ra­lismus, die Erfah­rungen der Freiheit und dann deren Verdun­ke­lung: »Libe­ra­lisme occulte la liberté.«
Insgesamt ein ganz toller, grandios über Ausdruck und Gefühl erzählter Film, schwebend, modern.

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Die Ähnlich­keiten zwischen Bonello und Diop sind frap­pie­rend: Die Sehnsucht, die Anrufung des verschwun­denen Geliebten am Ende.

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Zombi Child läuft in der »Quinzaine des réali­sa­teurs«, einer Sektion, die mit dem Italiener Paolo Moretti in diesem Jahr einen neuen Leiter hat, und der sich schon in seiner ersten Ausgabe anschickt, in die Fußstapfen der großen Quinzaine-Zeit von Olivier Père zu treten.

Man muss öfter in die »Quinzaine« gehen. Hier kann man sich bei den minu­ten­langen Standing Ovations ohne Smoking und Klei­der­ord­nung wieder an das erinnern, wieso ein Festival eigent­lich da sein sollte. Es ist die schönere, hippere Sektion, die Besucher sind klüger, jünger und schöner als in der offi­zi­ellen Selektion, begeis­te­rungs­fähiger, enthu­si­as­ti­scher, leiden­schaft­li­cher, passio­nierter, der Funke springt schon während des Scree­nings über. Hinzu kommt der nost­al­gi­sche Flair des alten Kinoraums.
Die »Quinzaine« ist zurück. »This is really the place to reflect on the contem­po­rary cinema«, sagte Bonello vor der Vorfüh­rung, »my film is about freedom. Liberté!«

(to be continued)