72. Filmfestspiele Cannes 2019
Zwei Wochen für ein Jahr |
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Offensichtlicher Geheimtipp: Atlantique von Mati Diop | ||
(Foto: Netflix/Les Films du Bal) |
»Wahrlich, ihr solltet uns die himmlische Partei nennen, nicht die französische...«
Heinrich Heine, Französische Zustände
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Das Glas ist immer mehr als halbvoll, besonders in Cannes. Von diesen zwölf ungemein intensiven Tagen kann man das ganze Jahr zehren. Ich sehe hier die wichtigsten Filme des Jahres; ich kann Trends und Themen früh erspüren, die das ganze kommende Jahr prägen werden, sogar über das Kino hinaus; ich begegne hier Menschen aus aller Welt allen Altersgruppen – und nicht nur Filmkritikern: Branche, Einkäufer, Kuratoren, Rechtehändler tauschen sich aus. Zugleich ist das Gott sei Dank
kein »Publikumsfestival«!!!
Hier werden keine Filme gezeigt, nur um die Säle zu füllen, denn die Säle sind voll. Hier werden keine Stars oder Sterneköche und Fernsehflittermenschen gegen Honorar eingekauft, um in geliehenen Designerklamotten über den Roten Teppich zu gehen, damit die Medien und ihre Fotografen da sind, denn die Medien und ihre Fotografen sind da. Hier laufen keine Filme, nur um noch mehr Karten zu verkaufen, denn man muss keine Karten verkaufen. Hier wird
keine Bedeutung behauptet, oder mit Taschenspielertricks suggeriert, denn Cannes ist bedeutend.
Hier sind Profis unter sich – wie schön!
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Angereist bin ich am Sonntag, also zwei Tage vor der Eröffnung. Genug Zeit, um vorzuschlafen, um sich ohne Hektik einzuleben, um sich vorzubereiten, um das Festival langsam abheben zu lassen.
Am Sonntag ein Abendessen mit Nil aus Istanbul in einem guten Restaurant. Ab heute wird dazu keine Zeit mehr sein. Nil erzählt von
den Zuständen in Istanbul, die immer schlimmer werden. Gerade wurde die Bürgermeisterwahl, die der Oppositionskandidat gewonnen hatte, annulliert, aus offensichtlich fadenscheinigen Gründen. Ich war überrascht, dass sie überrascht war. Wir sprachen über die unterschiedlichen Reaktionen der Künstler und Intellektuellen, über die mittelfristigen Zukunftshoffnungen. Und über das Für und Wider einer Emigration. Solche Gespräche führt man mit Türken in letzter Zeit immer
öfters.
Ich war mir umgekehrt nicht sicher, ob ich ihr Hoffnung machen konnte, erst recht nicht, als sie nach der Entwicklung in der EU fragte. Kein Vergleich natürlich mit den Zuständen in der Türkei. Die Frage ist eher, inwieweit das, was wir in der Türkei beobachten, ein Vorschein kommender Dinge auch in der EU ist? Und was uns die Reaktion, besser: Nichtreaktion der EU auf den Demokratie- und Menschenrechtsabbau in der Türkei, auf die offene Verwandlung einer Demokratie in
Autoritarismus und auf die Exzesse des türkischen Machthabers über den moralischen und politischen Zustand Europas verrät?
Wir sprachen auch über die Möglichkeit, dass bereits in weniger als zwei Wochen, mit den Ergebnissen der Europawahl, die Ereignisse in der EU und in Deutschland eskalieren. Könnte die Berliner Koalition brechen? Könnte Angela Merkel zurücktreten? Ich sagte, dass ich jedenfalls nicht daran glaube, dass Merkel am Ende des Jahres noch Bundeskanzlerin
ist. Wir sprachen über die Kriegstreiberei und Doppelmoral der Amerikaner in der derzeitigen Iran-Krise.
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Die Filme an den nächsten Tagen werden auch solche Debatten über die Zukunft der Demokratien abbilden. Umgekehrt hebt heute mit dem Cannes-Festival auch eine Art Raumschiff ab, das alle seine Insassen für zwei Wochen verschluckt und in einen anderen Orbit beamt. Möglich, dass die Iran-Krise in einen militärischen Konflikt mündet – wir werden es nur am Rande mitbekommen.
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Auch bereits an diesem Sonntag traf man im Bus vom Flughafen vor allem Festivalbesucher. Ich unterhielt mich im Bus mit einem libanesischen Produzenten, der im letzten Jahr »Capernaoun« von Nadine Labaki koproduziert hatte. Diesmal ist er vor allem hier, um neue Projekte zu verkaufen.
Am Abend saßen im gleichen Restaurant dann das Team vom Weltvertrieb »The Match Factory« und
Elad, der Chefkurator des Filmfestivals von Jerusalem.
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Am Montag ging es dann erstmal zum Abholen der Akkreditierung und der Kataloge, zur Abholung des WiFi-Passes, den man hier immer von Orange ausgehändigt bekommt.
Die diesjährige Festivaltasche hat die Form eines Rucksacks und ist Khaki-Farben, wie eine Armee-Uniform aus den Kolonialkriegen.
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Am Montagabend dann hatte ich, wie es inzwischen zum Ritual geworden ist, Freunde und Bekannte eingeladen, ins »Le Crillon« zu kommen, meine Stammbrasserie vor Ort. Mit Küsschen begrüßte die Patronne – irgendwann waren wir dann zu zehnt, die drei Spanier aus Gijon kamen nur vorbei, um Hallo zu sagen.
Bei diesem ersten Abend geht es um Einschätzungen des Wettbewerbs. Vor Beginn der ganzen Chose, nach reiner Papierform. Manche blättern wie ich im Katalog, andere sehen auch Trailer an. Das hatte ich nur im Fall von Jim Jarmuschs Eröffnungsfilm gemacht, der zumindest in Kurzform ziemlich lustig wirkt.
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Der diesjährige Wettbewerb ist, glaube nicht nur ich, schwer einzuschätzen. Auf der einen Seite viele Cannes-Usuals: Loach, Dardennes, Almodóvar, Jarmusch und Desplechin. Aber auch neue, ungewohnte Filmemacher und ihre Filme. Sehr europalastig. Und irgendwie sehr beschränkt: Auffallend wenig Asiaten – nur zwei. Nur ein Lateinamerikaner, und der aus Brasilien. Kein Film aus Israel. Keiner aus dem »Orient«. Keiner aus Russland. Nur einer aus Osteuropa, und der spielt auf La
Gomera; nichts aus Skandinavien. Dafür zweimal Afrika.
Und dann noch die Jury. Was werden die mit dem Angebot machen? Bei der Jury habe ich so meine spezielle Meinung. Erste Bauernregel: Wenn Schauspieler Präsidenten sind, sind die Entscheidungen gut, wenn gute Regisseure präsidieren, sind sie schlecht. Isabelle Huppert prämierte Haneke, Robert de Niro Terrence Malick, Cate Blanchet Kore-eda. Wong Kar-wai dagegen Ken Loach. Das Gegenargument: Steven Spielbergs Preis für
Kechiche.
Zweite Bauernregel: Viele Regisseure in der Jury führen zu schlechten Preisen. Weil Regisseure Alphatiere sind, und sich die Alphatiere gegenseitig lahmlegen.
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In dieser Jury sind sieben Regisseure. Von neun Mitgliedern. Gab es je so viele? Vier Frauen, fünf Männer. Aber: Beide Schauspieler sind Frauen. Also ein Übergewicht an männlichen Regisseuren. Kein Asiate darunter, was meines Erachtens die Chancen der zwei Asiaten schwächt.
Das kann also nix werden. Ich bin nicht der Einzige, der zudem zwei der Regisseure für – salopp gesagt – ziemlich eingebildete Deppen hält, für Alpha-Machos par excellence: Iñárritu und
Pawlikowski. »Two Assholes surrounded by intelligent people.« sagte jemand bei uns am Tisch, und da kann ich nur zustimmen.
Über den Jurypräsidenten Innaritu erzählte Violeta aus Spanien, dass man sich in Spanien erzähle, er möge Almodovar nicht, und habe sowieso etwas gegen Schwule. Vielleicht auch gegen Spanier, als Mexikaner?
Jedenfalls scheint Pedro Almodóvars Zeit ein wenig vorbei zu sein. Seit 20 Jahren wartet er auf die Goldene Palme. So wie Arnaud Desplechin. Ich liebe
dessen Filme, die früheren etwas mehr, als die letzten. Aber jetzt mit 59 eine Goldene Palme? Schwer zu glauben, auch wenn Loach bei seiner ersten fast 70 Jahre alt war. Und können wir glauben, dass ausgerechnet der sozialpädagogische politische Naturalist Ken Loach der erste Regisseur sein wird, der dreimal die Goldene Palme gewinnt? Ich kann es nicht.
Das gleiche gilt für die Dardennes. Sie sind ähnlich vorhersehbar wie Loach, und als Filmemacher nur virtuoser, aber nicht
besser, gerissener, aber eben auch unehrlich. Die dritte Goldene Palme für sie? Nicht zu glauben! Wer bleibt übrig? Kann man sich vorstellen, dass diese Jury die Goldene Palme einem anderen Alpha-Regisseur verleiht? Sozusagen von Großmeister zu Großmeister? Im Fall von Terrence Malick kann ich persönlich mir das nicht vorstellen. Eine katholische Heiligenlegende über einen widerständigen Provinzler. Das mag die Seligsprechung von Malick befördern, aber nicht seine zweite Goldene
Palme.
Auch nicht bei Jarmusch. Wenn es einen solchen »Big Dick Award« überhaupt geben wird, dann doch wohl am ehesten an Marco Bellocchio. Der Italiener ist jahrelang unter Wert gehandelt worden, und hätte auf seine alten Tage einen großen Preis verdient. Zumal er eine Mafia-Geschichte verfilmt hat, die auf Fakten basiert.
Bellochio ist in meiner persönlichen Kandidatenliste daher mein Tip Nummer 3.
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Eine hochinteressante Regisseurin ist natürlich Celine Sciamma. Schön, dass ihr neuer Film im Wettbewerb läuft, und sie damit endlich in den Kreis der »Cannes-Gemeinde« aufgenommen ist. Aber der Film ist ein Kostümfilm. Kann so etwas auch nur einen Preis gewinnen. Das Piano gewann, und auch The Wind That Shakes the Barley ist ein Kostümfilm. Aber beide sind trotzdem Ausnahmen.
Jessica Hausner ist eine tolle Regisseurin. Aber ein Horrorfilm über eine wildgewordene Pflanze, ein Familienfilm klingt zu »klein« für einen Hauptpreis – so denkt man jedenfalls am Tag »minus 1«.
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Was bleibt? Mein Tipp Nummer zwei ist so etwas Paradoxes wie der »offensichtliche Geheimtipp« des diesjährigen Festivaljahres. Ein Film, der »ganz bestimmt« einen Preis bekommt , aber ganz bestimmt nicht die Goldene Palme: Atlantique von Mati Diop.
Wer jetzt keine Ahnung hat, wer das ist, muss sich nicht grämen, denn es ist ihr Erstlingsfilm. Er sollte aber mal ein bisschen im Katalog nachlesen oder auf der imdb.
Denn Mati Diop ist als Filmemacherin
wieder mal eine jener vielen atemberaubenden Entdeckungen des großartigen Hans Hurch, des leider früh verstorbenen langjährigen Viennale-Leiters. Hans hat ihr bereits 2012, also sieben Jahre vor ihrem Spielfilmdebüt, einen Tribute gewidmet!!!
Wer die Filme nicht kennt, kann ein paar der Kurzfilme dieser Viennale-Entdeckung auf YouTube nachgucken, und wird sofort
begreifen: Die Frau hat was, sie hat in ihren Filmen das »gewisse Etwas«, das mehr ist, als nur Handschrift.
Hinzu kommt: Sie ist offensichtlich hervorragend vernetzt!
Als Schauspielerin hat sie eigentlich nur besonders auffällig gute Entscheidungen getroffen: Hauptrolle bei Claire Denis, Hauptrolle mit Brady Corbet in einem Sundance-Renner, ihr einziger Auftritt in einem lateinamerikanischen Film ist ausgerechnet im letzten Werk des argentinischen Regie-Hipsters und
als solchem Lucrezia-Martel-Erben Matías Piñeiro: Hermia & Helena.
Mati Diop macht also nichts falsch und alle lieben sie. Ich glaube, dass sie zum Liebling des Festivals wird, zu seiner Entdeckung. Aber für die Goldene Palme wird es noch nicht langen, außer Kelly Reichardt und Alicia Rohrwacher und Robin Campillo in der Jury hypnotisieren die anderen fünf. Sondern nur für einen Hauptpreis: Regie oder Jurypreis.
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Wer also wird gewinnen? Keiner von uns glaubte an einen der Alten. Ich selbst tippte in unserer Wette – 5 Euro Einsatz, the winner takes it all – auf den Brasilianer Kleber Mendonca. Weil er gut ist. Weil Brasilien politisch gerade ansteht. Weil die Bilder gut aussehen. Weil Iñárritu immerhin aus Lateinamerika ist. Mit mir tippte Michael aus Berlin auf Mendonca.
Aber überraschende drei Stimmen – Giovanni aus Italien, Ernesto aus Chile und Philip von critic.de
– fielen auf Mati Diop, obwohl nur einmal eine Frau die Goldene Palme gewinnen konnte, und kaum häufiger ein Regiedebüt. Ich würde mich freuen!
Frédéric tippte auf Elia Suleiman – kein doofer Tipp, denn der steht so in der Mitte zwischen den Alten und den Neuen.
Violeta glaubt an Malick. Nil und Engin an den Koreaner Bong Joon-ho. Til tipt auf Les Misérables.
Wir werden sehen...
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Sind es schwere Zeiten für Filmkritiker? Kommt drauf an, kann man pauschal so nicht sagen. Von einer geschätzten Kollegin kam am Sonntag nämlich eine alarmierte Mail: Sie fragte, ob ich nicht mehr nach Cannes führe, oder »über ein ausländisches Blatt akkreditiert« sei, weil sie meinen Namen nicht auf der Presseliste entdecken konnte. Auf der Liste der Teilnehmer aus Allemagne gebe es »eine Riesenschrumpfung«. Sie selbst käme auch nicht mehr: »Habe keine Lust mehr sinnlos
anzustehen und mir von Kontrollen teure Parfumflaschen klauen zu lassen oder Interviews mit 12 Kollegen zu führen, 20 Minuten mit Übersetzer. Das muss alles nicht mehr sein.«
Naja. Für manche ist das Glas eben immer öfters halb leer.
Es kann nicht für jeden gut laufen, hat mein längst verstorbener Studienfreund Freund Felix mal gesagt.
(to be continued)