72. Filmfestspiele Cannes 2019
Deutsche Gespenster |
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Udo Kier in Bacurau | ||
(Foto: Arte France Cinema) |
»Wie heiter im Tuilerienschloß/ Blinken die Spiegelfenster,
Und dennoch dort am hellen Tag/ Gehn um die alten Gespenster.
Es spukt im Pavillon de Flor'/ Maria Antoinette;
Sie hält dort morgens ihr Lever/ Mit strenger Etikette.
Die Taille ist schmal, der Reifrock bauscht,/ Darunter lauschen die netten
Hochhackigen Füßchen so klug hervor -/ Ach, wenn sie nur Köpfe hätten!
Wohl durch die verhängten Fenster wirft/ Die Sonne neugierige Blicke,
Doch wie sie gewahrt den alten Spuk,/ Prallt sie erschrocken zurücke.«
Heinrich Heine
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Kritiker kritisieren, was sonst? Auf die Schnelle vergibt man aber auch Punkte, denn bei einem Festival wie diesem kann man gar nicht zu allen Filmen die man sieht – es sind für viele, vier bis fünf am Tag – vernünftige Kritiken schreiben.
Also vergeben wir Punkte. Die interessanteste, beste, repräsentativste Kritikerpunktetabelle ist seit Jahren »Todas las
Criticas«, eine internationale Stimmensammlung mit hispanoamerikanischem Schwerpunkt, bei der ich auch dabei bin. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alle Filme und Sektionen vorkommen, dass man relativ differenziert bewerten kann, und dass die Kollegen nicht beliebig ausgewählt sind. Beliebigkeit ist nämlich der Feind aller guten Kritik.
Ebenfalls dabei bin ich bei der kleineren deutschen Variante: Dem Kritikerspiegel von critic.de. Auch das macht Spaß und die Kollegen sind nett – auch wenn ich bis heute nicht verstanden habe, warum man dort nicht ein paar mehr Kategorien einführen kann: Zum Beispiel gibt es für mich viele Filme, die ich »Sehenswert, aber zwiespältig« finde, oder »nicht gelungen, aber interessant«. Da hätte ich gern mehr »aesthetic diversity«.
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Bleiben wir noch einen Moment bei »auf die Schnelle«. »Cannes in real time« (»Cannes en tiempo real«) heißt das Konzept von »Caiman«, das für alle, die Spanisch verstehen, ein Muss ist. Das Prinzip ist schnell und kurz, möglichst innerhalb von einer Stunde nach der Vorführung zu schreiben. Dabei entstehen manchmal kleine Wunderwerke der Miniaturkritik. Besonders Angel Quintana lohnt in
seiner Art, kurz und schmerzhaft zu schreiben. »Caiman« ist der Nachfolger der spanischen Ausgabe der »Cahiers de Cinéma«.
Es geht bei alldem nicht um letzte Wahrheiten, sondern darum, aus der Hüfte geschossen erste Eindrücke zu formulieren, und Gefühle zum Sprechen zu bringen.
»Cannes en tiempo real« habe ich mir zum Vorbild genommen beim Versuch, in diesem Jahr diesen artechock-Blog hier noch durch kleine kurzkritische Schnellschüsse zu ergänzen. Es sind Vorwegnahmen, keine »Ersatzkritiken« oder »Alternativkritiken«. Sondern dem Blogtext geht ja die schnelle Notiz voraus, ein kleines Textstück. Genau das ist diese Textform, die man »Kritik auf Speed« nennen kann: Maximal 2000 Zeichen, mit Mut zur Lücke, noch subjektiver als sonst und vor allem viel
viel schneller, darin tauglich für Facebook und Instagram.
Ich selbst nenne die Texte für mich »simultanistisch«, man hätte sie auch »situationistisch« oder »dynamistisch« nennen können. Worum es mir aber geht, ist auch an den Geist der Futuristen anzuknüpfen, und an deren Idee, »befreiter Wörter« und »drahtloser Vorstellungskraft.« Der Begriff des »Simultanismus« bringt das noch besser auf den Punkt: Es geht darum, die Gleichzeitigkeit der Eindrücke auszudrücken und
darum das Bruchstückhafte, Fragmentarische ihres Nebeneinanders zu erfassen.
Ich werde mir also noch mehr Mühe geben müssen, der konventionellen »Kurzkritik« zu entkommen.
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Manche, die schwer von Begriff sind, oder nicht begreifen wollen, haben unseren zweiten Blog erwartbar missverstanden: Denn wenn ich das Konzept eines »Publikumsfestivals«, mit dem mancher Festivalleiter hausieren geht, für erstens falsch, und zweitens in den meisten Fälle eine verlogene reine Marketingpropagandabehauptung halte, dann ja nicht aus Verachtung fürs Publikum. Im Gegenteil. Das Publikum ist nicht nur wichtig, ohne Publikum wäre alles nichts.
Was ich nur
glaube, ist: Festivals sind auch in sich verändernden Kinomärkten in erster Linie für die Profis da, wie eine Messe. Auch auf Buch- oder Automessen gibt es bestenfalls Publikumstage, aber keinen uneingeschränkten Zugang. Und wenn es den bei weniger wichtigen Filmfestivals angeblich gibt, dann vor allem, weil das Festival damit Geld verdient. Ist das gut? Gut für die Kinos? Das genau ist die Frage. Der derzeitige Festivalboom schadet nämlich dem normalen Kinobetrieb. Zugespitzt
könnte man formulieren: Die Filmförderung subventioniert mit den Festivalsubventionen das Sterben der Arthouse- und Programmkinos. Wer deren Autonomie und Überlebensfähigkeit verteidigen will, muss den Publikumszugang bei Festivals begrenzen.
Interessanterweise sind Festivals dann auch weltweit um so wichtiger, je schwieriger es fürs allgemeine Publikum ist, deren Filmprogramm sofort zu sehen. Nur Knappheit schafft Lust und Spannung und Hype und Event. Was alle
sehen können, ist weniger wert.
Festivals sind dazu da, Lust aufs Kino zu machen, und pointiert schwer Sichtbares zu zeigen. Sie sind nicht dazu da, Salven von Filmen zu verfeuern, und das Ereignis eines Kinostarts vor Ort vorwegzunehmen. Sie sind dazu da, Grundlagen für Berichte und Interviews zu schaffen, Fotos der Stars auf dem Roten Teppich zu generieren, nicht Selfies von Krethi und Plethi.
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Frage aus Deutschland, vor dem heutigen Samstag, ob ich denn auf ein Wunder hoffte, beim Bundesligafinale am Nachmittag. Meine Antwort war: »Ich hoffe immer auf ein Wunder, im Kino, im Leben, also auch im Fußball.« Ich hätte auch antworten können, dass es ein Wunder, also den Einbruch des Göttlichen ins Weltgeschehen, gar nicht gebraucht hätte, Gerechtigkeit hätte schon genügt, um Borussia Dortmund doch noch diesjähriger Bundesligameister werden zu lassen; oder auch eigensüchtige Anstrengungen der Frankfurter Eintracht. Aber Frankfurt war fertig und Gerechtigkeit ist in der Welt noch seltener, als ein Wunder, daher konnte man den Ausgang ahnen.
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Ansonsten waren meine Gedanken auch heute woanders, nämlich im Kino. Das Wetter machte es einem leicht, und meinte es schon mal nicht gut mit den Deutschen in diesem Jahr. Denn an diesem Samstag war der »deutsche Tag«, wie ihn zumindest die Deutschen nennen, nicht obwohl, sondern weil es ein wenig kolonialistisch klingt. Zunächst Medienboard-Empfang, dann German-Films-Empfang und damit auch zum ersten großen Auftritt von Simone Baumann, der neuen Geschäftsführerin von »German Films«.
Ich ging da nicht hin, sondern, so wie die meisten deutschen Journalisten, lieber ins Kino, und dann vielleicht einfach in Frieden was essen. Denn abgesehen davon, dass man die Deutschen auch in Deutschland treffen kann, geht es auch um Stilfragen. Ein Redakteur brachte es auf den Punkt, als er berichtete, ihn habe »das Schwachsinnsprozedere« genervt, dass er angeben sollte, wo er denn berichten wolle: »Entweder sollen sie mich einladen, oder eben nicht.«
Aber bevor es jetzt
irgendwer in München bleiben lässt, erinnern wir uns: Vor Jahren hatte einmal Tobias Kniebe in der SZ den damaligen German-Films-Chef regelrecht abgeschossen, indem er einfach wahrheitsgetreu berichtete, wie sich drittrangige Knallchargen und »Sicherheitsleute« am Eingang zum German-Films-Empfang aufgeführt hatten.
Keine Deutschen einzuladen, ist also auch keine Lösung.
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Am Wetter lag es allerdings nicht, eher schon an den Fotografen und der Bildauswahl, dass die flugs veröffentlichten Bilder des Medienboard-Treffens unsäglich bescheiden und unfreiwillig peinlich aussehen, einfach zum Fremdschämen. Hinzu kommt, dass gerade die, die es sich nicht leisten können, aussehen, wie in einen Farbtopf gefallen. Und dann noch diese schiefen, betont gutgelaunten und verkrampft heiteren Bilder – zusammengenommen wirken sie vor allem würdelos. Da
lässt sich gut erkennen, woran es mangelt: An Gelassenheit, an angemessenem Ernst, denn andere Künste würden sich auch in Deutschland nicht als derartiger Kindergarten öffentlich entblößen – nur hält man in Deutschland ja das Kino irrtümlicherweise nicht für eine vollwertige Kunst.
Es fehlt auch an Marketing-Fähigkeiten. Das können nämlich die Franzosen wie die Amerikaner, so gegensätzlich sie auch sonst sein mögen. Man muss schon die richtigen Bilder auswählen, und
den jeweiligen Chefs, auch wenn sie Frauen sind, vielleicht sagen, wenn eine Rede nicht wirklich gelungen ist, oder man das mit Kleidungseinfall doch besser lassen sollte.
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Der (deutsche) Redakteur eines Kultursenders erzählt mir vor einem Wettbewerbsscreening, mit Cannes gehe es jetzt ja endgültig bergab. Begründung: Man zeige fast nur noch französische Koproduktionen. 12 von 21 Filmen. Mag ja sein. Mein dezenter Hinweis, das Berlinale-Programm erkläre sich auch am besten aus dem Studium des – von Dieter Kosslick in Printform abgeschafften – Katalogs, und Stephen Frears sei doch auch nur auf der Berlinale, wenn eine deutsche Förderung, im Zweifel NRW mit eingestiegen sei, wurde abgeschmettert. Zweiter dezenter Hinweis: Das Medienboard Berlin-Brandenburg allein hat hier jetzt in Cannes auch fünf Co-Produktionen – das ist ja die Perversion der europäischen und besonders deutschen Filmförderung, dass alle überall dabei sind, und sein müssen.
Die Sprache dieser Fördermitteilungen ist übrigens auch eine Sache für sich. Immer sind es »hochkarätige« Filmemacher, die »an der Croisette vertreten« sind. Und die Meldung aus Hamburg von der FFHSH behauptet, dass sich die Produzentin Nurhan Şekerci-Porst, »hochverdient einen der begehrten Juryposten in Cannes schnappen konnte«, als ob das ein Erfolg der Filmförderung wäre! In so eine Jury wird man übrigens ganz formell eingeladen – aktiv zuschnappen kann man da nicht. Aber da spricht das Unterbewusstsein, da verrät sich die Denke: Man »schnappt« sich was, ergattert was, sticht andere aus.
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Der tiefste Abgrund des diesjährigen deutschen Auftretens in Cannes bezieht sich mal wieder auf die Berlinale, hoffentlich zum letzten Mal. Alle naheliegenden Zombie- und Gespensterwitze weglassend, muss man einfach nur für diejenigen, die nicht gut genug informiert sind, noch einmal erinnern, dass Dieter Kosslick nach wie vor als Berlinale-Chef im Amt ist – bis zum 31. Mai. Also auch hier in Cannes. Gleichzeitig gibt es ja die beiden neuen Chefs, Carlo Chatrian und
Mariette Rissenbeek. Die Berlinale ist also in Cannes mit drei Chefs vertreten. Denn beide neuen sind zwar bereits unter Vertrag, aber noch nicht voll im Amt.
Nach allem, was man hört – ja, ich muss mich hier auf glaubwürdige Informationen Dritter beziehen – gibt sich Dieter Kosslick auch alle Mühe, dass das bis zu seinem letzten Tag im Amt so bleibt. So hat die zukünftige Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek bislang noch keinen Einblick in die »Bücher« und
Haushaltsbilanzen erhalten, offenbar sollen die Büros auch in dieser Hinsicht besenrein übergeben werden.
Weitaus kleinkarierter: Bislang haben die neuen Leiter noch keine Berlinale-Visitenkarten mit ihren neuen Funktionen erhalten – denn über den Druck entscheidet ja derjenige, der die Berlinale noch bis zum 31. Mai als Geschäftsführer und künstlerischer Leiter in Personalunion nach Art einer orientalischen Despotie führt.
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Um jetzt aber doch mit etwas richtig Schönem abzuschließen: Am Donnerstag saßen wir im »Le Crillon« und irgendwann tauchte Udo Kier auf, allein, bestellte sich einen Rotwein, und setzte sich an einen Tisch. Weil er wirkte, als ob er gern Gesellschaft hätte, und wir uns schon mal länger unterhalten hatten, ging ich hin, sagte Hallo und fragte ihn nach ein paar Sätzen, ob er sich nicht zu uns setzen wollte. Er wollte. Und dann gab es eine Stunde lang amüsante Anekdoten aus seinem Leben und ein paar Zusatzinfos zum brasilianischen Film Bacurau, in dem Kier eine Hauptrolle spielt. Zum deutschen Empfang war Kier übrigens schon wieder abgereist. Auch solche Begegnungen sind Cannes.
(to be continued)