19.05.2019
72. Filmfestspiele Cannes 2019

Deutsche Gespenster

Udo Kier in Bacurau
Udo Kier in Bacurau
(Foto: Arte France Cinema)

Erste Eindrücke statt letzte Wahrheiten, und alle Jahre wieder: Kein deutscher Film, aber viele Deutsche in Cannes. Unter anderem drei amtierende Berlinale-Chefs – Cannes-Notizen, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wie heiter im Tuile­rien­schloß/ Blinken die Spie­gel­fenster,
Und dennoch dort am hellen Tag/ Gehn um die alten Gespenster.
Es spukt im Pavillon de Flor'/ Maria Antoi­nette;
Sie hält dort morgens ihr Lever/ Mit strenger Etikette.
Die Taille ist schmal, der Reifrock bauscht,/ Darunter lauschen die netten
Hoch­ha­ckigen Füßchen so klug hervor -/ Ach, wenn sie nur Köpfe hätten!
Wohl durch die verhängten Fenster wirft/ Die Sonne neugie­rige Blicke,
Doch wie sie gewahrt den alten Spuk,/ Prallt sie erschro­cken zurücke.«

Heinrich Heine

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Kritiker kriti­sieren, was sonst? Auf die Schnelle vergibt man aber auch Punkte, denn bei einem Festival wie diesem kann man gar nicht zu allen Filmen die man sieht – es sind für viele, vier bis fünf am Tag – vernünf­tige Kritiken schreiben.
Also vergeben wir Punkte. Die inter­es­san­teste, beste, reprä­sen­ta­tivste Kriti­ker­punk­te­ta­belle ist seit Jahren »Todas las Criticas«, eine inter­na­tio­nale Stim­men­samm­lung mit hispano­ame­ri­ka­ni­schem Schwer­punkt, bei der ich auch dabei bin. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alle Filme und Sektionen vorkommen, dass man relativ diffe­ren­ziert bewerten kann, und dass die Kollegen nicht beliebig ausge­wählt sind. Belie­big­keit ist nämlich der Feind aller guten Kritik.

Ebenfalls dabei bin ich bei der kleineren deutschen Variante: Dem Kriti­ker­spiegel von critic.de. Auch das macht Spaß und die Kollegen sind nett – auch wenn ich bis heute nicht verstanden habe, warum man dort nicht ein paar mehr Kate­go­rien einführen kann: Zum Beispiel gibt es für mich viele Filme, die ich »Sehens­wert, aber zwie­spältig« finde, oder »nicht gelungen, aber inter­es­sant«. Da hätte ich gern mehr »aesthetic diversity«.

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Bleiben wir noch einen Moment bei »auf die Schnelle«. »Cannes in real time« (»Cannes en tiempo real«) heißt das Konzept von »Caiman«, das für alle, die Spanisch verstehen, ein Muss ist. Das Prinzip ist schnell und kurz, möglichst innerhalb von einer Stunde nach der Vorfüh­rung zu schreiben. Dabei entstehen manchmal kleine Wunder­werke der Minia­tur­kritik. Besonders Angel Quintana lohnt in seiner Art, kurz und schmerz­haft zu schreiben. »Caiman« ist der Nach­folger der spani­schen Ausgabe der »Cahiers de Cinéma«.
Es geht bei alldem nicht um letzte Wahr­heiten, sondern darum, aus der Hüfte geschossen erste Eindrücke zu formu­lieren, und Gefühle zum Sprechen zu bringen.

»Cannes en tiempo real« habe ich mir zum Vorbild genommen beim Versuch, in diesem Jahr diesen artechock-Blog hier noch durch kleine kurz­kri­ti­sche Schnell­schüsse zu ergänzen. Es sind Vorweg­nahmen, keine »Ersatz­kri­tiken« oder »Alter­na­tiv­kri­tiken«. Sondern dem Blogtext geht ja die schnelle Notiz voraus, ein kleines Textstück. Genau das ist diese Textform, die man »Kritik auf Speed« nennen kann: Maximal 2000 Zeichen, mit Mut zur Lücke, noch subjek­tiver als sonst und vor allem viel viel schneller, darin tauglich für Facebook und Instagram.
Ich selbst nenne die Texte für mich »simul­ta­nis­tisch«, man hätte sie auch »situa­tio­nis­tisch« oder »dyna­mis­tisch« nennen können. Worum es mir aber geht, ist auch an den Geist der Futu­risten anzu­knüpfen, und an deren Idee, »befreiter Wörter« und »draht­loser Vorstel­lungs­kraft.« Der Begriff des »Simul­ta­nismus« bringt das noch besser auf den Punkt: Es geht darum, die Gleich­zei­tig­keit der Eindrücke auszu­drü­cken und darum das Bruchs­tück­hafte, Frag­men­ta­ri­sche ihres Neben­ein­an­ders zu erfassen.
Ich werde mir also noch mehr Mühe geben müssen, der konven­tio­nellen »Kurz­kritik« zu entkommen.

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Manche, die schwer von Begriff sind, oder nicht begreifen wollen, haben unseren zweiten Blog erwartbar miss­ver­standen: Denn wenn ich das Konzept eines »Publi­kums­fes­ti­vals«, mit dem mancher Festi­val­leiter hausieren geht, für erstens falsch, und zweitens in den meisten Fälle eine verlogene reine Marke­ting­pro­pa­gan­da­be­haup­tung halte, dann ja nicht aus Verach­tung fürs Publikum. Im Gegenteil. Das Publikum ist nicht nur wichtig, ohne Publikum wäre alles nichts.
Was ich nur glaube, ist: Festivals sind auch in sich verän­dernden Kinomärkten in erster Linie für die Profis da, wie eine Messe. Auch auf Buch- oder Auto­messen gibt es besten­falls Publi­kums­tage, aber keinen unein­ge­schränkten Zugang. Und wenn es den bei weniger wichtigen Film­fes­ti­vals angeblich gibt, dann vor allem, weil das Festival damit Geld verdient. Ist das gut? Gut für die Kinos? Das genau ist die Frage. Der derzei­tige Festi­val­boom schadet nämlich dem normalen Kino­be­trieb. Zuge­spitzt könnte man formu­lieren: Die Film­för­de­rung subven­tio­niert mit den Festi­valsub­ven­tionen das Sterben der Arthouse- und Programm­kinos. Wer deren Autonomie und Über­le­bens­fähig­keit vertei­digen will, muss den Publi­kums­zu­gang bei Festivals begrenzen.
Inter­es­san­ter­weise sind Festivals dann auch weltweit um so wichtiger, je schwie­riger es fürs allge­meine Publikum ist, deren Film­pro­gramm sofort zu sehen. Nur Knappheit schafft Lust und Spannung und Hype und Event. Was alle sehen können, ist weniger wert.
Festivals sind dazu da, Lust aufs Kino zu machen, und pointiert schwer Sicht­bares zu zeigen. Sie sind nicht dazu da, Salven von Filmen zu verfeuern, und das Ereignis eines Kinostarts vor Ort vorweg­zu­nehmen. Sie sind dazu da, Grund­lagen für Berichte und Inter­views zu schaffen, Fotos der Stars auf dem Roten Teppich zu gene­rieren, nicht Selfies von Krethi und Plethi.

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Frage aus Deutsch­land, vor dem heutigen Samstag, ob ich denn auf ein Wunder hoffte, beim Bundes­li­ga­fi­nale am Nach­mittag. Meine Antwort war: »Ich hoffe immer auf ein Wunder, im Kino, im Leben, also auch im Fußball.« Ich hätte auch antworten können, dass es ein Wunder, also den Einbruch des Gött­li­chen ins Welt­ge­schehen, gar nicht gebraucht hätte, Gerech­tig­keit hätte schon genügt, um Borussia Dortmund doch noch dies­jäh­riger Bundes­li­ga­meister werden zu lassen; oder auch eigen­süch­tige Anstren­gungen der Frank­furter Eintracht. Aber Frankfurt war fertig und Gerech­tig­keit ist in der Welt noch seltener, als ein Wunder, daher konnte man den Ausgang ahnen.

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Ansonsten waren meine Gedanken auch heute woanders, nämlich im Kino. Das Wetter machte es einem leicht, und meinte es schon mal nicht gut mit den Deutschen in diesem Jahr. Denn an diesem Samstag war der »deutsche Tag«, wie ihn zumindest die Deutschen nennen, nicht obwohl, sondern weil es ein wenig kolo­nia­lis­tisch klingt. Zunächst Medi­en­board-Empfang, dann German-Films-Empfang und damit auch zum ersten großen Auftritt von Simone Baumann, der neuen Geschäfts­füh­rerin von »German Films«.

Ich ging da nicht hin, sondern, so wie die meisten deutschen Jour­na­listen, lieber ins Kino, und dann viel­leicht einfach in Frieden was essen. Denn abgesehen davon, dass man die Deutschen auch in Deutsch­land treffen kann, geht es auch um Stil­fragen. Ein Redakteur brachte es auf den Punkt, als er berich­tete, ihn habe »das Schwach­sinns­pro­ze­dere« genervt, dass er angeben sollte, wo er denn berichten wolle: »Entweder sollen sie mich einladen, oder eben nicht.«
Aber bevor es jetzt irgendwer in München bleiben lässt, erinnern wir uns: Vor Jahren hatte einmal Tobias Kniebe in der SZ den damaligen German-Films-Chef regel­recht abge­schossen, indem er einfach wahr­heits­ge­treu berich­tete, wie sich dritt­ran­gige Knall­chargen und »Sicher­heits­leute« am Eingang zum German-Films-Empfang aufge­führt hatten.

Keine Deutschen einzu­laden, ist also auch keine Lösung.

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Am Wetter lag es aller­dings nicht, eher schon an den Foto­grafen und der Bild­aus­wahl, dass die flugs veröf­fent­lichten Bilder des Medi­en­board-Treffens unsäglich bescheiden und unfrei­willig peinlich aussehen, einfach zum Fremd­schämen. Hinzu kommt, dass gerade die, die es sich nicht leisten können, aussehen, wie in einen Farbtopf gefallen. Und dann noch diese schiefen, betont gutge­launten und verkrampft heiteren Bilder – zusam­men­ge­nommen wirken sie vor allem würdelos. Da lässt sich gut erkennen, woran es mangelt: An Gelas­sen­heit, an ange­mes­senem Ernst, denn andere Künste würden sich auch in Deutsch­land nicht als derar­tiger Kinder­garten öffent­lich entblößen – nur hält man in Deutsch­land ja das Kino irrtüm­li­cher­weise nicht für eine voll­wer­tige Kunst.
Es fehlt auch an Marketing-Fähig­keiten. Das können nämlich die Franzosen wie die Ameri­kaner, so gegen­sätz­lich sie auch sonst sein mögen. Man muss schon die richtigen Bilder auswählen, und den jewei­ligen Chefs, auch wenn sie Frauen sind, viel­leicht sagen, wenn eine Rede nicht wirklich gelungen ist, oder man das mit Klei­dungs­ein­fall doch besser lassen sollte.

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Der (deutsche) Redakteur eines Kultur­sen­ders erzählt mir vor einem Wett­be­werbs­scree­ning, mit Cannes gehe es jetzt ja endgültig bergab. Begrün­dung: Man zeige fast nur noch fran­zö­si­sche Kopro­duk­tionen. 12 von 21 Filmen. Mag ja sein. Mein dezenter Hinweis, das Berlinale-Programm erkläre sich auch am besten aus dem Studium des – von Dieter Kosslick in Printform abge­schafften – Katalogs, und Stephen Frears sei doch auch nur auf der Berlinale, wenn eine deutsche Förderung, im Zweifel NRW mit einge­stiegen sei, wurde abge­schmet­tert. Zweiter dezenter Hinweis: Das Medi­en­board Berlin-Bran­den­burg allein hat hier jetzt in Cannes auch fünf Co-Produk­tionen – das ist ja die Perver­sion der europäi­schen und besonders deutschen Film­för­de­rung, dass alle überall dabei sind, und sein müssen.

Die Sprache dieser Förder­mit­tei­lungen ist übrigens auch eine Sache für sich. Immer sind es »hoch­karä­tige« Filme­ma­cher, die »an der Croisette vertreten« sind. Und die Meldung aus Hamburg von der FFHSH behauptet, dass sich die Produ­zentin Nurhan Şekerci-Porst, »hoch­ver­dient einen der begehrten Jury­posten in Cannes schnappen konnte«, als ob das ein Erfolg der Film­för­de­rung wäre! In so eine Jury wird man übrigens ganz formell einge­laden – aktiv zuschnappen kann man da nicht. Aber da spricht das Unter­be­wusst­sein, da verrät sich die Denke: Man »schnappt« sich was, ergattert was, sticht andere aus.

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Der tiefste Abgrund des dies­jäh­rigen deutschen Auftre­tens in Cannes bezieht sich mal wieder auf die Berlinale, hoffent­lich zum letzten Mal. Alle nahe­lie­genden Zombie- und Gespens­ter­witze weglas­send, muss man einfach nur für dieje­nigen, die nicht gut genug infor­miert sind, noch einmal erinnern, dass Dieter Kosslick nach wie vor als Berlinale-Chef im Amt ist – bis zum 31. Mai. Also auch hier in Cannes. Gleich­zeitig gibt es ja die beiden neuen Chefs, Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek. Die Berlinale ist also in Cannes mit drei Chefs vertreten. Denn beide neuen sind zwar bereits unter Vertrag, aber noch nicht voll im Amt.
Nach allem, was man hört – ja, ich muss mich hier auf glaub­wür­dige Infor­ma­tionen Dritter beziehen – gibt sich Dieter Kosslick auch alle Mühe, dass das bis zu seinem letzten Tag im Amt so bleibt. So hat die zukünf­tige Geschäfts­füh­rerin Mariette Rissen­beek bislang noch keinen Einblick in die »Bücher« und Haus­halts­bi­lanzen erhalten, offenbar sollen die Büros auch in dieser Hinsicht besenrein übergeben werden.
Weitaus klein­ka­rierter: Bislang haben die neuen Leiter noch keine Berlinale-Visi­ten­karten mit ihren neuen Funk­tionen erhalten – denn über den Druck entscheidet ja derjenige, der die Berlinale noch bis zum 31. Mai als Geschäfts­führer und künst­le­ri­scher Leiter in Perso­nal­union nach Art einer orien­ta­li­schen Despotie führt.

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Um jetzt aber doch mit etwas richtig Schönem abzu­schließen: Am Donnerstag saßen wir im »Le Crillon« und irgend­wann tauchte Udo Kier auf, allein, bestellte sich einen Rotwein, und setzte sich an einen Tisch. Weil er wirkte, als ob er gern Gesell­schaft hätte, und wir uns schon mal länger unter­halten hatten, ging ich hin, sagte Hallo und fragte ihn nach ein paar Sätzen, ob er sich nicht zu uns setzen wollte. Er wollte. Und dann gab es eine Stunde lang amüsante Anekdoten aus seinem Leben und ein paar Zusatz­infos zum brasi­lia­ni­schen Film Bacurau, in dem Kier eine Haupt­rolle spielt. Zum deutschen Empfang war Kier übrigens schon wieder abgereist. Auch solche Begeg­nungen sind Cannes.

(to be continued)