Lieber Bauer als Ladenbesitzer |
||
»Die Seele einer Nation interessiert auch die übrige Welt, Kopien mag auf Dauer keiner sehen.« – Slamet Rahardjo | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Das Gespräch führte Axel Timo Purr
Das indonesische Kino musste sich immer wieder neu erfinden und anpassen – sei es durch die Kolonialzeit, die japanische Besetzung, den nationalistischen Kurs nach der Unabhängigkeit unter Sukarno oder der strengen Zensur unter Suhartos »New-Order«-Regime. Die nach Suharto 1998 einsetzende »Reformasi«-Bewegung belebte das einheimische Kino signifikant; bis dahin nur schwer durchsetzbare Themen wie Religion, Ethnizität und Sexualität wurden von zahlreichen
Autorenfilmern aufgenommen und umgesetzt. Doch der in den letzten Jahren die indonesische Demokratie immer wieder erschütternde Kampf zwischen islamischen Hardlinern und Reformern hat auch die Euphorie des Autorenkinos wieder gedämpft; es wurde zunehmend von skurrilen Horroproduktionen (zu denen westliche Pornostars als Mitwirkende eingeladen wurden) und indonesischen Großproduktionen verdrängt, die simple Komödien, Liebesgeschichten und historisch unbedenkliche
Stoffe verfilmen.
Slamet Rahardjo (*21. Januar 1949) hat in vielen dieser Mainstream-Produktionen in Hauptrollen mitgewirkt und gilt als einer der bedeutendsten Schauspieler seines Landes. Neben seiner Mitwirkung in Filmproduktionen leitet er das legendäre »Teater Populer« in Jakarta, tritt aber auch außerhalb Indonesiens auf, z. B. erst kürzlich in einer malayischen Adaption von Shakespeares »King Lear«, in Kuala Lumpur. Sein Wirken als Regisseur hat er nach seinem letzten
Film Marsinah (2002) aufgegeben und hat stattdessen zunehmend als Mentor junger Regisseure gewirkt.
Rahardjo lebt in Süd-Jakarta, einer von fünf Millionenstädten, aus denen sich Jakarta zusammensetzt. Für die Fahrt aus Zentral-Jakarta in das Hotel, in dem sich Rahardjo für das Interview treffen will – knapp 20 Kilometer durch ein architektonisches Kaleidoskop aus modernster Hochhausarchitektur und immer wieder kleinstädtischen Strukturen,
über verstopfte Stadtstraßen und ebenso völlig verstaute Autobahnen – braucht das Taxi mehr als zwei Stunden.
artechock: Wie überleben Sie bei diesem Verkehr hier?
Slamet Rahardjo: Ehrlich gesagt ist das Problem nicht der Verkehr, sondern die Demokratie hier. Wir sind nicht drauf vorbereitet. Freiheit bedeutet hier Grenzenlosigkeit. Damit einher geht der Bildungsstand, der nicht mit dieser Entwicklung gleichzieht.
artechock: Wirkt sich das auch auf andere Bereiche aus?
Rahardjo: Natürlich. Vor allem auf den Glauben. Die Stimmung ist feindseliger geworden. Allein schon in Glaubensfragen. Und in ideologischen. Die Lager sind klar verteilt: der Westen ist nicht mehr ein Modell, von dem man lernen kann, es ist eins, das man abzulehnen hat. Glücklicherweise sind die, die am lautesten schreien, immer noch eine Minderheit. Doch es gibt trotzdem beängstigende Entwicklungen…
artechock: Welcher Art?
Rahardjo: Denken Sie nur an die Frau, die sich kürzlich über eine zu laute Moschee in ihrer Nachbarschaft beschwert hat und deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde….
artechock: Und über dieses viel zu hohe Strafmaß haben sich dann selbst die muslimischen Führer im Land beschwert, es schade dem Ansehen des Landes usw.…
Rahardjo: Genau, was nur das stark gestörte Gleichgewicht zeigt… Ich komme aus einer religiösen Familie, mein Großvater war eine gewichtige religiöse Instanz, aber auch ein Javanese, dieser Graben ließ sich spielend überbrücken. Heute sprechen wir nur noch von arabischen Identitäten, Abstufungen des Glaubens und der Liberalität. Ein Dialog zwischen den Extremen ist jedoch sehr schwer zu bewerkstelligen, was wiederum das Bildungsdilemma ins Spiel bringt.
artechock: Nicht anders als im Westen, denke ich, nur die andere Seite der gleichen Medaille. Aber gucken wir doch mal zurück. Als Sie 1991 artechock-Kollegin Christel Strobel für die Kinder-Jugend-Film Korrespondenz zu ihrem Film interviewt hat, war das alles noch nicht vorhersehbar. Könnten Sie einen Film wie Langitku Rumahku (Der Himmel ist mein Haus, 1989), in dem es ja auch um den Graben zwischen Reich und Arm geht, auch heute wieder machen?
Rahardjo: Auf jeden Fall. Wir würden die Geldgeber finden und wir würden auch eine ähnliche Geschichte finden. Solange es Menschen gibt, wird es Reiche und Arme geben. Die Schattierungen ändern sich, nicht aber der Kern. Und gleichzeitig sind es alles Menschen und unterscheiden sich kaum voneinander. Und es ist einfach auch so, das so ein Film wieder Platz hier hätte, weil es ein Film mit einer klaren Botschaft ist. Und schon damals, unter ganz anderen Vorsätzen, ging es mir wie heute um so etwas wie die Rückgewinnung unserer Identität. In den letzten Jahren sind Filme mit einer Botschaft selten geworden. Der Einfluss des südkoreanischen Films und die Macht des amerikanischen Kinos sind einfach unübersehbar und haben viel verändert. Sie reden alle nur über sich selbst, aber nicht über die anderen, nicht über die Gesellschaft. Sie sind Individualisten geworden. Diese Entwicklung wurde natürlich auch noch einmal dadurch verstärkt, dass sich keiner an dem hier so gefährlichen Thema der Religion aufreiben will. Mach bloß keinen religiösen Film! Sonst ergeht es dir vielleicht wie dem vorletzten Gouverneur von Jakarta: wegen eines mehrdeutigen Satzes über den Koran sitzt er jetzt zwei Jahre im Gefängnis. Das zeigt den schmalen Grad, auf dem wir uns bewegen.
artechock: Da bleibt nicht viel übrig…
Rahardjo: Mehr als man denkt. Vor kurzem habe ich einen Film über Sukarno gesehen. Tolle Kamera, super Sound, alles besser als früher. Aber inhaltlich?
artechock: Warum machen Sie keine Filme mehr, warum stehen Sie stattdessen nur noch vor der Kamera?
Rahardjo: Ich habe noch Telegram (2000) und Marsinah (2002) gemacht. Aber Marsinah war ein Problem. Ich dachte damals, wir wären schon so weit, wir wären eine neue Gesellschaft und könnten politisch brisante Themen verkraften. Aber weit gefehlt. Einen Film über uns wollte keiner sehen. Die Wahrheit interessierte niemanden. Die Leute sagten mir: das ist alles zu grausam, das erträgt keiner. Wofür also dann Filme machen, in denen es um die Wahrheit geht? Aber gerade in den letzten Jahren tut sich wieder etwas. Gibt es wieder kleine Filme, die etwas wagen …
artechock: Also Filme abseits der Horrorfilme, zu denen westliche Pornostars eingeladen werden, Rollen zu spielen? Wie werden diese Filme produziert?
Rahardjo: Privat, es gibt kaum Förderung von Seiten der Regierung oder den wirklich großen Geldgebern. Es ist hier beim Filmemachen wie in unserem Schulsystem. Es gibt nur Ankreuztests, es geht nichts mehr in die Tiefe. Das ist dann der Mainstream, das ist das kopierte Kino, das ist Korea und Amerika. Aber es gibt, wie schon gesagt, neue Filme, andere Filme; Filme, die es wieder mit der Wahrheit versuchen.
artechock: Welche Filme sind das und wer zeigt sie, welche Kinos sind bereit dazu?
Rahardjo: Es gibt zunehmend privat organisierte Filmgruppen, Idealisten, die sich um eine Aufführung kümmern, im kleinen Rahmen. Und genauso sind diese Filme auch produziert. Da wird rumgegangen und Geld gesammelt: Du bist mein Freund, Du magst doch gute Filme, also gib mir ein bisschen Geld für meinen Film. Die Gemeinschaft ist hier alles. So sind inzwischen schon tolle Filme entstanden. Zum Beispiel Eddie Cahyonos Siti , in dem es einfach nur um die Unfähigkeit eines Paares geht, miteinander zu reden. Ein anderer ist Wicaksono Wisno Legowos Turah, und dann ist da Purba Negaras Ziarah. Und nicht zu vergessen Kamila Andinis Sekala Niskala Großartige Filme. Und diese Idealisten, die diese Arten von Filmen machen, in Sumatra, in Jogja, in Makassar auf Sulawesi und anderswo, die sind meine Hoffnung. Es sind Filme über sie selbst. Über Makassari und Bugis. Und sie gewinnen auch Preise, Sikala Niskala hat gleich mehrere Preise gewonnen, nicht nur in Asien, sondern auch in Berlin. Und für mich bleibt immerhin noch, ihr Mentor sein zu dürfen. Es sind meine Studenten. Denn um genau diese Filme realisieren zu können, haben wir uns entschlossen, eine Initiative zu gründen, einen informellen Verbund, der Workshops fürs Filmemachen anbietet – „Apresiasi FILM Indonesia“. Und über die dort stattfindenden Workshops geben wir ihnen eine Idee, was Cinematografie im besten Sinne ist und sein kann. Denn mal ganz ehrlich: was wir brauchen, sind Bauern, die säen, die pflanzen, um etwas ganz Neues zu schaffen, aber nicht noch weitere Läden, die alles mögliche verkaufen.
artechock: Seit wann gibt es diese Initiative?
Rahardjo: Uns gibt es zwar schon seit 2012, aber seit zwei Jahren, seit das Bildungsministerium tatsächlich begonnen hat, uns im kleinen Rahmen zu fördern, wird es zunehmend professionell, könnten wir auch die ersten Früchte wie die eben genannten Filme, ernten.
artechock: Also doch ein wenig Staat. Wie ist es denn zu der staatlichen Förderung gekommen?
Rahardjo: Na ja, der Minister für Bildung hat mich gefragt, was Sie mich gefragt haben: warum machst du keine Filme mehr? Und ich sagte: ich mache Filme, aber ich mache Filme über andere, weil ich lieber andere unterstütze, um Filme zu machen, bessere Filme, als es sie im Moment gibt, Filme, die das indonesische Kino wieder erneuern sollen. Dabei hilft mir natürlich, dass ich einer der bekanntesten Schauspieler im Land bin – erst kürzlich habe wieder einen dementsprechenden Preis erhalten. Das Verrückte dabei ist, dass ich diese Ehrungen für Filme erhalte, die ich im Grunde nicht wertschätze, damit aber gleichzeitig Filme fördern kann, die ich wertschätze. Und was ich an dieser Arbeit vor allem mag, ist das Informelle. Ich mag keine Schulen, ich mag situative Pädagogik.
artechock: Und wie konkret sehen diese pädagogischen Prozesse aus?
Rahardjo: Wir kriegen eine Anfrage von filmbegeisterten jungen Leuten und schicken dann Experten, erklären ihnen, wie eine Kamera funktioniert, und wie die Beleuchtung, wie der Sound. Das ist das eine. Und dann bieten wir Workshops an, machen wir praktische Übungen: ich sage, geht zum Markt, redet mit Leuten, schreibt die Ergebnisse auf, macht daraus Material für eure Filme. Während sie also im Markt ausschwärmen, warte ich in einem Café in der Nähe, in dem wir uns nach ihren Erkundungen treffen und drüber reden. Wir überlegen uns, wie man eine Situation, wie etwa die Frau im Markt, deren eigene Söhne ihr das Portmonee stehlen, am besten filmisch auflöst. Ich möchte dann auch keine Synopsis, sondern sie sollen gleich in die Praxis gehen, eben diese Szene umsetzen.
artechock: Wie finanzieren Ihre Studenten das?
Rahardjo: Sie müssen nichts dafür zahlen. Ich gebe ihnen mein Wissen weiter, so gut ich kann und wann ich kann. Ich versuche, sie an die Seele unserer Nation heranzuführen, an die Seele, die wir in den letzten Jahren mehr und mehr verloren haben. Denn die Seele einer Nation interessiert auch die übrige Welt, Kopien mag auf Dauer keiner sehen.
artechock: Ziemlich genau das, was Netflix in seine Produktionsabläufe integriert…
Rahardjo: Exakt. Sei kein Ladenbesitzer, sei der Bauer, sei der Hersteller. Nur dadurch kannst du den Markt am Ende beherrschen, so funktioniert doch die Marktwirtschaft.
artechock: Ich frage mich nur, wie Sie mit diesen Filmen, die ja nicht ganz so einfach wie der Mainstream zu rezipieren sind, beim großen Publikum ankommen? Leiden Sie nicht auch hier an dem Dilemma, das kleine Länder wie Rumänien und die Ukraine mit ihren Filmproduktionen haben: auf den internationalen Festivals gern gesehen, in den Kinos des eigenen Landes jedoch verschmäht?
Rahardjo: Ich sehe das Problem schon, aber die über das ganze Land verteilten Filmclubs helfen uns sehr. Und dann gewinnt auch die Bildung im Land eine immer größere Bedeutung, werden Hierarchien mehr und mehr abgebaut. Man sehe sich nur die Schlusszeremonie der gerade zu Ende gegangenen, hier in Indonesien veranstalteten „Asian Games“ an. Joko Widodo, unser Präsident, umarmte dort tatsächlich die Sieger einiger Wettbewerbe und übertrat damit Grenzen, die noch vor Jahren felsenfest eingebrannt schienen. Er vermittelte ein Bild, das wichtig ist: zusammen sind wir stark, zusammen können wir mehr erreichen, wir sind Brüder und Schwestern und das nach all den Jahren der Zerrissenheit, der Grabenkämpfe zwischen Ideologien – man denke nur an 1965!
artechock: Sie meinen den vor einigen Jahren von Joshua Oppenheimer in The Act of Killing und The Look of Silence dokumentarisch aufgearbeiteten Völkermord an den Kommunisten im Land...
Slamet Rahardjo: Ja, genau, ich meine – wir waren bezüglich unserer Ideologiefestigkeit im Grunde immer sehr kreativ, gerade auch 1965. Es ist ja bekannt, wie viele und auf welche Art und Weise vermeintliche Kommunisten getötet wurden, aber viel weniger, wie viele auch gerettet wurden: Ich denke da an ein Dorf auf Bali, dessen Dorfvorsteher die Gefahr hat kommen sehen und in einer Nacht- und Nebelaktion alle Dorfbewohner „islamisiert“ hat, so dass die Häscher, als sie dann wie erwartet im Dorf eintrafen und die Listen der Parteimitglieder einforderten, keine Parteimitglieder der Kommunisten mehr vorfanden, sondern stattdessen ein vereintes, völlig apolitisches Dörfchen. Das ist einem Fremden schwer verständlich zu machen, diese unsere Fähigkeit, Ideologien innerhalb von Minuten, Stunden einfach so zu verwerfen. Meine Mutter z.B. sprach Holländisch und kam aus einer sehr intellektuellen Familie. Und mein Vater stammt aus religiösen, staatstragenden Verhältnissen, mein Großvater war nicht nur der Gouverneur von Banten, sondern, wie vorhin schon erwähnt, auch religiöses Oberhaupt. Diese beiden Extreme sind auch in mir angelegt, ohne dass es zu allzu großen Konflikten deswegen käme. Ich kann genauso aus dem Koran rezitieren wie auch über Kunst und Literatur reden. Und beides birgt Schönheiten, die sich gerade über die Künste ausdrücken lassen. Mit dem Film ist es ähnlich. Ich akzeptiere die gute handwerkliche Qualität des seelenlosen Mainstream-Films und spiele dort meine Rolle, versuche aber gleichzeitig meine bäuerliche Aufgabe im Auge zu behalten und Keime zu fördern, die ein neues Gleichgewicht schaffen. Und damit erreiche ich, so scheint es mir, fast mehr, als wenn ich weiterhin versuchen würde, meine eigenen Filme zu realisieren. Und wenn ich dann die jungen Leute, die ich unterrichtet habe, in Jogja, auf Sulawesi und Sumatra besuche, dann sehe ich die Saat aufgehen. Sie denken nicht mehr an ein mögliches Zielpublikum, an die Quoten, haben aber trotzdem ihre Anhänger und ihre Fans. Das Kino lebt!