Ein Fall aus Dunkel-Deutschland |
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Der Fall Peggy jetzt auch als True-Crime-Story | ||
(Foto: obs/ZDF/ZDF/Alexander Gheorghiu) |
Der Tod kommt aus den Wäldern: Im deutschen Wald, da liegen im Film wie in der Realität der Deutschen die Geheimnisse und die Rätsel, da liegen die Leichen, die uns nachts und manchmal auch bei Tage heimsuchen. »Das Geheimnis des Totenwaldes« – so hieß vor wenigen Wochen eine ziemlich gelungene ARD-Serie, die hochkarätig mit Darstellern wie Matthias Brandt und Karoline Schuch besetzt war. Die Handlung basierte auf den tatsächlichen Ereignissen der »Göhrde-Morde« bei Lüneburg im Jahr 1989 und der Geschichte des Serienmörders Kurt-Werner Wichmann, sowie jener Aufklärer und Ermittler, die in ihrer Freizeit, gegen den aktiven Widerstand der Ermittlungsbehörden, den Fall nicht ad acta legten, Fragen wiederaufrollten, kalte Spuren weiterverfolgten – aber er tat dies noch als Fiktion, mit Schauspielern und einiger Phantasie der Autoren und Macher.
Einen großen Schritt weiter hin zum realen Geschehen unternimmt jetzt die als Dokumentarfilmerin versierte Regisseuren Marie Wilke (Staatsdiener, 2010; Aggregat, 2017). »Höllental« heißt nun ihr Sechsteiler über die rätselhafte Geschichte vom Verschwinden und Mord an der neunjährigen Peggy Knobloch – es ist die erste deutsche True-Crime-Serie im deutschen Fernsehens. Vorreiter ist diesmal das ZDF, das »Höllental« am vergangenen Wochenende startete und am kommenden Wochenende fortsetzen wird. Alle sechs Folgen sind bereits jetzt in der Mediathek zu sehen.
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Sie hatte strahlend-blaue Augen. Und sie lebte in einem in fröhlichem Hellblau gestrichenen Haus. Wer hat das neunjährige Mädchen mit den blauen Augen getötet? Das ist seit 20 Jahren die Frage im Fall »Peggy Knobloch«.
Dieser rätselhafte Kriminalfall aus dem fränkischen Grenzgebiet unmittelbar zu Thüringen und neben der tschechischen Grenze beschäftigt, seitdem er sich im Jahr 2001 ereignet hat, nicht nur die Kriminalisten und Ermittlungsbehörden, nicht nur die Milieu-Forscher und regionalen Hobby-Experten, sondern auch die Filmemacher. Bereits im Jahr 2011 erzählte Dominik Graf in seinem schönen Film »Das unbekannte Mädchen« eine fiktionale und sehr behördenkritische, freie Version des Falls.
Näher dran an den Fakten ist jetzt Marie Wilke. Ihre Serie »Höllental« rollt diesen nach wie vor ungelösten Fall wieder auf, und erweitert ihn zugleich zu einer Sozial- und Kulturgeschichte einer gottverlassenen Region und ihrer Milieus.
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»Lichtenberg ist die kleinste Stadt im Landkreis Hof, 1200 Einwohner ungefähr, und liegt direkt am Höllental, einem tiefen Tal-Einschnitt im Frankenwald...« – das Höllental heißt nicht nur so seit dem zum Mordfall gewordenen Verschwinden des Mädchens. Es gibt tatsächlich ein Flusstal mit diesem furchteinflößenden Namen im Frankenwald, an das die kleine Stadt Lichtenberg direkt angrenzt.
»Wenn man zum ersten Mal nach Lichtenberg kommt«, so erzählt der seinerzeit aus München dort extra angereiste SZ-Reporter Uwe Ritzer, »dann ist es natürlich Hinterwald. Das war der hinterste Zipfel Bayerns, eine Gegend mitten im Wald, an der unmittelbaren ehemaligen Grenze zur DDR. Da kommst du normalerweise nicht hin, wenn du dann nicht irgendetwas zu tun hast oder dort aufgewachsen bist.«
Während immer wieder die Kamera-Drohne langsam über die schwarz-grünen Wälder schwebt, erlaubt Wilkes ZDF-Serie aber nun tatsächlich einen Blick in die Hölle.
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Der Fall fasziniert schnell die Medien und wird bundesweit bekannt. Theorien überlagern sich. Lange wird, da keinerlei Leichenspuren zu ermitteln sind, von einer Entführung ausgegangen. Es heißt, Peggy sei noch am Leben, sei in ein tschechisches Bordell entführt worden, sei für Kinder-Pornos missbraucht worden; Peggy sei hier gesehen worden und dort gesehen worden; ein Familien-Delikt wird ebenso vermutet. Es gab vor dem Verschwinden Anrufe eines Unbekannten, auf die das Mädchen
fixiert war. Und der kleine Ort zerfleischt sich selbst: Ein Lichtenberger Gastwirts-Sohn gerät in den Fokus der Ermittlungen, er gesteht, doch bald ist klar: Es gibt alle möglichen Widersprüche, und der Verdächtige ist geistig behindert. Trotzdem wird dieser behinderte junge Mann angeklagt, verurteilt, und muss zehn Jahre im Gefängnis sitzen, allen möglichen Zweifeln zum Trotz, bevor er durch ein Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wird. Andere aus Polizei und Medien erklären
den Misserfolg der Ermittler damit, dass ganz Lichtenberg den Täter kenne, ihn aber decke.
Sonderkommissionen werden gebildet und durch andere abgelöst – der Fall Peggy ist auch ein weiterer von vielen Polizeiermittlungs-Skandalen. Das Urteil Außenstehender fällt für die Polizei vernichtend aus.
2016 kommt es dann zu einer Sensation: Peggys Leichnam wird von einem Pilzsammler in einem Waldstück gefunden, und am Fundort des Skeletts finden sich DNA-Spuren des gestorbenen rechtsextremen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt – eine weitere Wendung, die in manchen Details auch hartgesottene Ermittler empört. Ein atemberaubender Fall!
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Die sehr kleinteilige, genaue dokumentarische Spurensuche, zeichnet den Fall nach. Stück für Stück wird man mit Indizien und zusätzlichen Informationen konfrontiert, und kann für sich selbst das nie vollständige Puzzle der Fakten und Ereignisse zusammensetzen.
Ein Beispiel für investigativen Dokumentarfilm – nicht »Dokumentation«! –, der den Zuschauer miteinbezieht, und nicht nur nüchtern draufblickt.
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Wenn reale Gewalttaten verfilmt werden, ist keine falsche Pietät gefordert.
»Lichtenberg und seine 1200 Einwohner, auch das wird in den Statements von Bürgermeister und Bürgern offenkundig, wird der Fall der ermordeten Peggy Knobloch weiter und weiter beschäftigen. Der Ort, gelegen in einem vergessenen Winkel von Bayern und von überschaubarer Attraktivität, ist markiert, um das böse Wort 'stigmatisiert' zu vermeiden.«
Jochen Huber, »Der Tagesspiegel«
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Nach bald 20 Jahren zieht ein MDR-Reporter, der den Fall von Anfang an begleitet hat, ein nüchternes Fazit: »Dieser Fall beschäftigt mich jetzt mein halbes Berufsleben. Es gab da Drehungen und Wendungen, die kann man einfach nur als irre bezeichnen. Als völlig absurd teilweise. Aber immer noch ist er halt nicht gelöst, dieser Fall...«
Eine spannende, in ihren Details auch überraschende Geschichte – Fernsehen mal nicht als Eskapismus, sondern als Blick in den Spiegel, als Konfrontation mit uns selbst und einem Dunkeldeutschland, das man allzu gern verdrängt.
Es sind keine schönen Orte, es sind keine Heimat-Idyllen, mit denen man hier konfrontiert wird, auch wenn manches Naturpanorama, das eine oder andere Fachwerkhaus solche Sichtweisen nahelegt. Bei den Menschen aus Lichtenberg und Umgebung ist die Serie darum auch nicht besonders gut angekommen. Weil sie sich in dem Bild des trüben grauen traurigen Ortes nicht wiederfinden wollen.
Marie Wilke gelingt es, alldem trotzdem ein zusätzliches Flair zu geben, die Aura eines Mystery-Krimis, eines deutschen »Twin Peaks«, und damit eine eher fiktionale Herangehensweise – was nie der Authentizität der Fakten und der Würde des Geschehens wie der Beteiligten Abbruch tut.