Der Sinn des Lebens im Kino |
||
Das Kino wird nicht überleben, wenn es die Fortsetzung einer Fernsehreportage mit anderen Mitteln ist... | ||
(Foto: Filmfestival Max Ophüls Preis) |
Das Filmfestival Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken ist seit Montag eröffnet. Normalerweise wäre ich jetzt dort und würde den ganzen Tag Filme sehen. Ich würde Filmemacher treffen, neue junge Filmemacher kennenlernen, würde Podien anhören und abends in der Garage oder dem entsprechenden Ersatz-Festivalzentrum mehr als ein Bier trinken. Und über all das würde ich hier berichten.
Saarbrücken lohnt immer eine Reise. Es ist am Anfang ein Vorbote des kommenden Filmjahres, ein leichter unterhaltsamer Frühlingshauch vor der bleiernen Berlinale im Februar.
Zu Hause am Rechner oder auch mal am größeren Bildschirm will Festival-Stimmung dagegen nicht aufkommen. Es fällt mir schwer, die Filme zu sehen, ihnen geduldig zu folgen, sich wirklich auf sie einzulassen, auch dann, wenn es keine unmittelbaren Ablenkungen gibt.
Vielleicht ist diese grundsätzliche zunehmende Lockdown-Gereiztheit das, was manche Menschen jetzt »Corona-Müdigkeit« nennen, der eigentliche Grund für einen gewissen Überdruss, für meine persönliche Unlust, für die Filme in diesem Jahr eine ähnliche Neugier zu entwickeln, wie ich sie sonst eigentlich immer habe bei den Saarbrücker Filmen. Denn das möchte ich vorab sagen: Saarbrücken ist für mich persönlich eines der allerwichtigsten Festivals. In vieler Hinsicht wichtiger als die Berlinale und auch als München, obwohl in Berlin natürlich die wichtigeren Filme laufen und München fraglos – sorry ihr Saarländer – noch der schönere Ort ist, für mich zudem noch mit persönlicher Nostalgie verbunden. Aber in Saarbrücken mache ich die meisten Entdeckungen. In Saarbrücken ist es das Tolle, dass man auch kurze Filme und mittellange sieht, und hier schon Regisseure kennenlernt, die nicht etwa morgen, sondern übermorgen wichtig werden. Das alles soll hier vermerkt werden, bevor ich jetzt auch ein bisschen über die andere Seite schreiben möchte.
+ + +
Vermerkt werden muss auch noch, dass es natürlich in diesem Jahr für die Macher bestimmt sehr viel schwieriger war als sonst. Dann klarerweise ist das Programm nicht nur deswegen mit diesmal 98 Filmen etwas schmaler als im Vorjahr, weil man es online-bedingt schlanker machen wollte. Sondern mindestens der eine oder andere Film wird mal warten wollen, Filmemacher werden ihre Filme lieber in einem Kino auf großer Leinwand und mit Menschen, denen man direkt begegnet und deren Reaktion man direkt fühlen kann, vorführen wollen, als im abstrakten isolierten Pandemie-Kino. Das ist ihnen nicht zu verdenken, das führt aber dann dazu, dass das Saarbrücker Filmfestival es schwerer hat als sonst, ein gutes Programm zusammenzustellen. Die Macher werden es öffentlich bestimmt nie sagen, wenn dem so sein sollte, denn selbstverständlich liebt man alle seine Kinder und als Festivalmacher alle seine Filme gleich. Die Wirklichkeit aber, die ist nicht so – weder bei den Filmen, noch bei den Kindern.
+ + +
Unter der Überschrift »Uns gehört die Welt!«, die mich schon gleich zu Beginn ein bisschen irritiert hat, sowohl in der Botschaft, als auch in ihrem gutgelaunten Ton, lese ich im ersten Text des Festivalkatalogs:
»Ureinwohner-innen, die um ihr Mutterland kämpfen. Berge von Wohlstandsmüll, ausgelagert vom Westen ins Anderswo. Fluchtbiografien. Das kapitalistische System ist ein nimmermüder Krake, der sich als zerstörerisches Prinzip durch eine Vielzahl von Filmen zieht.«
Dann werden einige dieser Filme vorgestellt. Einer spielt in Chile unter Indigenen. Der Zweite erzählt von Giftmüll an Somalias Küste. Der Dritte erzählt von Elektroschrott aus Europa in Ghanas Hauptstadt Accra. Der Vierte von der ISIS. Der Text, der zum Auftakt dieser Filme einen mittellangen, einen kurzen, und zwei Spielfilme sprachlich zusammentackert, tut dies zum Beispiel mit dem Satz: »In Geschichten wie diesen spiegeln sich die mannigfaltigen Ursachen, die Menschen zur Flucht nach Europa treiben: ökonomische und ökologische Gründe.« Von »Fluchtthematik« ist die Rede, vom kritischen Umgang mit dem westlichen Lebensmodell, der sich auch in anderen Programmpunkten fortsetzt. Einmal geht es um westliche Eliten beim Weltwirtschaftsforum von Davos, dann wieder um drei AktivistInnen aus Chile, Uganda und Hongkong, danach sind wir dann erstmals in Deutschland, nämlich im Erzgebirge und dann mit Investoren in einem Ostseebad, es geht auch noch um eine Alternative Gesellschaft, um Utopie – nur um das – Verzeihung! – ganz normale alltägliche Leben geht es nicht. Es geht auch nicht um Abenteuer, nicht um Glück, nicht um Liebe, nicht um Spannung, nicht um Schönheit, nicht um Verführung. Jedenfalls nicht in dem Text.
+ + +
Vor allem geht es nicht um die Filme. Also nicht um Filmsprachen. Nicht darum, warum der eine oder andere dieser Filme dem Kino irgendetwas Neues gibt, wo er es weiterbringt. Wir erfahren, was diese Filme mit dem Leitartikel einer x-beliebigen Tageszeitung zu tun haben, aber nicht, was sie mit Godard zu tun haben, mit Antonioni, mit John Ford oder mit Oshima. Oder meinetwegen wenigstens mit Wim Wenders, der immerhin seinen gefühlt zwölften Ehrenpreis in Saarbrücken bekommen
hat.
Wir erfahren nichts über Stil, über ästhetische Entscheidungen, über Kameras, nichts über Schauspieler – wenn es sie denn gibt. Wir hören nur etwas über Relevanz. Und Relevanz wird komplett inhaltistisch gedacht, sie wird in Vokabeln von Politik-Redaktionen gedacht – nicht unbedingt politisch; jedenfalls nicht in dem Sinn der berühmten Godard-Bemerkung, es komme nicht darauf an, politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen.
Das heißt: Im Kern
sind diese Filme, bzw. der Text über sie, der sich bestimmt sehr politisch und sehr relevant vorkommt, komplett unpolitisch. Aber selbst wenn er das nicht wäre, wenn er politisch wäre, wäre ich mit ihm nicht glücklich.
+ + +
Denn der ganze Text endet mit der Frage: »Wie wollen wir angesichts der Probleme der Gegenwart eigentlich in Zukunft leben?«
Ich wäre der Letzte, der bestreiten möchte, dass dies eine wichtige Frage ist. Ich möchte auch nicht bestreiten, dass Kapitalismuskritik ihren Platz haben sollte, dass sie wichtig ist, dass sie im zeitgenössischen Kino vorkommen muss und auf einem Festival repräsentiert sein sollte. Ob sie dies so ausschließlich tun muss, wie es zumindest in diesem Auftakt-Text erscheint, ist schon eine andere Frage.
Vor allem aber: Wenn sie denn da ist, und wenn sie ernst gemeint ist und nicht
nur als Engagement-Sticker auf dem Festival Plakat kleben soll, dann möchte ich doch so etwas wie Selbstkritik und Selbstreflexion in so einem Text lesen. Ich möchte gerne lesen, wie es denn eigentlich zusammenpasst, dass ein Filmfestival, das diese Programmpunkte sehr in den Fokus rückt, in einem sehr wohl kapitalistischen Land und System veranstaltet wird, dass es zur Finanzierung Sponsoren hat, und Gelder aus der öffentlichen Hand, und zwar von einem CDU-regierten
Bundesland und einer CDU-regierten Landeshauptstadt. Zu deren Corporate-Identity und Standortwert das Festival sehr wohl beiträgt. Ich möchte lesen, wie das alles zusammenpasst, oder ob die Widersprüche, die ich hier ganz offenkundig finde, auch von den Machern gesehen werden.
Dies alles ist erstmal keine Kritik an den inhaltlichen Statements in der Sache, sondern an der inhaltistischen Grundhaltung.
+ + +
Außerdem finde ich mindestens mal, dass wir alle – und da schließe ich mich persönlich mit ein – uns das mit der Kapitalismuskritik und der Kritik an den Verhältnissen, in denen wir leben, gerne ein bisschen einfach machen. Denn es ist natürlich ein Widerspruch, dass ein Festival online geht und damit viel Energie verbraucht und damit eine Technologie voraussetzt, die ziemlich viel Geld kostet und die ziemlich viel Müll produziert. Es ist natürlich ein Widerspruch, dass man den Kapitalismus kritisiert, der doch am Ende auch dieses Festival finanziert – und nicht nur das, sondern der auch die doch im Großen und Ganzen recht geglückten Verhältnisse finanziert, unter denen wir hier in der Lage sind, einen Lockdown aufrechtzuerhalten, ohne dass Leute hungern müssen oder obdachlos werden, und ein Gesundheitssystem zu finanzieren, das viele Menschen am Leben hält, die mit einer Corona-Erkrankung in anderen Ländern sterben würden oder viel schwerere Gesundheitsschäden erlitten.
Das sind die ernsten, bitteren und nicht leicht zu beantwortenden Anfragen, die so ein Text und die im besten Fall auch solche Filme aufwerfen. Nur daran, wie es sich solchen Fragen stellt, bemisst sich auch die Relevanz eines Filmfestivals.
+ + +
Hinzu kommt: Ich gehe nicht nur ins Kino, um mich dort über die schrecklichen Seiten der Welt zu grämen, über böse Menschen und den schlimmen Kapitalismus zu entrüsten; sondern ich gehe auch ins Kino, um dort glücklich zu sein. Ich gehe ins Kino, weil ich immer wieder eine ganz unmittelbare Form von Glück im Hier und Jetzt empfinde, wenn ich Filme sehe – auch Filme mit den beschriebenen Inhalten.
Aber am Ende geht es nicht um diese Inhalte, sonst es geht um Schönheit, um
Flow, um Musik, es geht um Form und Ästhetik. Ich finde es vollkommen legitim, dass man ins Kino geht, um einem möglicherweise tristen Alltag zu entfliehen. Eskapismus ist einer der vielen Gründe, wegen der man auch ins Kino gehen kann und darf. Auch – selbstverständlich nicht nur – solche Gefühle sollten ihren Platz auf einem Filmfestival haben.
Die Debatte über diese Fragen ist wichtig, denn das, was ich Inhaltismus nenne, und diese Themenfixiertheit zeitgenössischer Filme ist aus meiner Sicht eine riesengroße Gefahr für das Kino insgesamt.
Das Kino wird nicht überleben, wenn es die Fortsetzung einer Fernsehreportage mit anderen Mitteln ist, egal ob in Spielfilm-Form oder als Dokumentarfilm. Dann werden auch Festivals nicht überleben.
Das Kino wird nur dann überleben, wenn es die Zuschauer glücklich macht. Wenn es den Zuschauern eine sinnliche Erfahrung vermittelt, die sie woanders nicht haben können. Insofern ist ein Film nicht deswegen besser, weil er das Elend dieser Welt darstellt, weil er uns hässliche Verhältnisse zeigt, weil er sich möglicherweise darin gefällt, uns als Wohlstandsbürgern, die wir sind, ein möglichst schlechtes Gefühl und schlechtes Gewissen zu vermitteln, indem er uns mit der Nase direkt in unsere ganzen Sünden und Probleme hineinstößt. Das Kino ist für mich kein moralisches Erziehungslager.
Es ist sicher auch eine moralische Anstalt – aber schon Friedrich Schiller hat beschrieben, warum es mit der moralischen Anstalt ein bisschen komplizierter ist, als möglichst viele Filme über die Dritte Welt und über Flüchtlinge und über Müllhalden zu machen.
Zum Beispiel würde ich sehr gerne wenigstens einen Film sehen – und es gibt solche Filme –, der aus einem Land des globalen Südens kommt, oder von ihm erzählt, und reiche Menschen von dort zeigt. Klimasünder und Modefreaks, Amoralisten und normal korrupte Alltagsverhältnisse. Oder der ein Beispiel fürs Krimigenre ist, es aber eben nicht in Saarbrücken, Mannheim oder Münster spielt, sondern zum Beispiel in Dacca oder Buenos Aires. Ich würde auch gerne eine Romantic Comedy aus Somalia sehen – aber auch nur dann, wenn sie halbwegs gut gemacht ist. Tatsächlich bin ich davon überzeugt, dass die Erfahrung einer Romantic Comedy aus Somalia mir und vielleicht noch vielen anderen Menschen die Verhältnisse in Somalia näher bringen würde, als die Fortsetzung einer Fernsehelendsreportage mit anderen Mitteln.
Nochmal: Es geht hier um die Haltung und den Blick auf die Filme, der in solchen Texten eingeübt wird, nicht um die Filme selbst. Zu den Filmen selbst kann ich noch nichts sagen, denn nur einen davon habe ich gesehen; den, der in Ghana spielt, und den finde ich auch ästhetisch ganz hervorragend, darüber werde ich nächste Woche auch etwas schreiben.
+ + +
Für mich zumindest ist aber am und im Kino nicht nur wichtig, wie »wir« »angesichts der Probleme der Gegenwart« »eigentlich« »in Zukunft« »leben wollen.«
Sondern wie ich und meine geliebten und befreundeten Menschen jetzt, hier und heute leben. Wie sie leben können, und leben sollen. Früher hätte man das den Sinn des Lebens genannt. Davon handelt die Kunst.