28.01.2021

Eichhörnchen der Vergesslichkeit

Borga
Wer will, sieht hier nur das Thema. Alle anderen: einen guten Film. Borga räumt fast alle Preise ab
(Foto: FFMOP / Tobias von dem Borne)

Notizen aus der Provinz: Stiere und Frauen, Handwerk und Handschrift, Mannheim und Accra – das diesjährige Filmfestival Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken

Von Rüdiger Suchsland

»Es findet Betrug statt, wenn ein Autor seiner Gesinnung wegen gelobt wird, ihm die Form verziehen oder diese nicht gewürdigt wird.«
Heinrich Böll

»Beim Umzug ins Digitale bleibt vieles auf der Strecke, was ein Festival ausmacht.«
Svenja Böttger, Festi­val­di­rek­torin

»Es ist alles so sinnlos.«
»Was ist sinnlos?«
»Alles«
»Eh.«
Aus: »Fische«, Gewinner Max-Ophüls-Kurz­film­preis

Gibt es etwas, das noch span­nender ist, als Wim Wenders einen Ehren­preis zu geben? Wahr­schein­lich schon. Blicken wir also besser auf die neuen Filme bei diesem Nach­wuchs­fes­tival.

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Man sieht es gleich. Schon die ersten Bilder erlauben keinen Zweifel, dass sie es kann, dass wir von dieser Regis­seurin noch hören werden. Nicht alles klappt auf Anhieb, aber sie hat unbändige Lust drauf, und diese überträgt sich aufs Publikum. Und das genügt für den Anfang dieser ersten Versuche einer jungen Frau mit dem Neuen – das gilt für Magda, aber auch für Lisa Hasen­hüttl, die Regis­seurin und Autorin, die sie erfunden hat. Magda ist gerade von ihrem Freund verlassen worden, seine Umzugs­kisten stehen noch herum in der gemein­samen Wohnung, und nerven langsam. Jetzt hat Magda sich, wie zum Ausgleich, in den Kopf gesetzt, Motor­rad­fahren zu lernen. Wir sehen ihr ein paar Tage beim Leben und beim Arbeiten zu und bei den Fahr­stunden. Es ist eine schwie­rige Phase, vieles ist etwas unklar, es gibt peinliche Momente, aber am Ende des Films geht es ihr besser als am Anfang.
Erwach­sen­werden ist schwer. So kann man die Story zusam­men­fassen – aber wie Hasen­hüttl das zeigt, wie sie lakonisch in prägnanten Szenen aus Beiläu­figem Univer­sales gewinnt, ohne ihm zuviel Gewicht zu geben, es zu »schwer« zu machen, ist bewun­derns­wert. Hasen­hüttls an der Wiener Film­aka­demie entstan­dener Film Magda fährt Motorrad ist mehr als die übliche Visi­ten­karte einer Film­stu­dentin: Dies ist ein ganzer und guter Langfilm »in der Nuss­schale« – nicht zu streng, aber nie beliebig.

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Ganz anders, aber ähnlich gut ist Fische von Raphaela Schmid, der den Kurz­film­preis gewann. Ein Durch­ein­ander schon in den bunten Unter­ti­teln. China-Klischees im China-Restau­rant. Durchs Aquarium getrübte Bilder. »Wir ham schon länger keine Nummern mehr«, sagt die Bedienung. Von den Tischen Gesprächs­fetzen: »Grad so ein Chaos...« Und: »Es ist alles so sinnlos.« – »Was ist sinnlos?« – »Alles.« – »Eh.«
Dramen im Kleinen.
Zwei entfrem­dete Geschwister treffen sich nach dem Selbst­mord der Mutter und erkennen, dass sie so entfremdet gar nicht sind.
Auch hier: Großes in der Nuss­schale. Diesmal mehr Robert Altman als Barbara Albert.

Aber vor allem muss man hier fort­wäh­rend denken: Beide Filme, Fische und Magda fährt Motorrad, kriegt kein deutscher Regisseur auch nur ansatz­weise so hin.

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Man kennt das von Festivals, besonders von Kurz­film­pro­grammen. Irgend­wann fällt einem auf: In allen Filmen kommen Sofas vor. Oder rote Koch­geräte. Ein Leitmotiv. Und man fragt sich, ob das nur der Zufall der persön­li­chen Auswahl war, oder ob hier viel­leicht ein ganzer Film­hoch­schul­jahr­gang eine Vorgabe bekommen hatte: »Macht, was ihr wollt, aber ein grüner Garten­zwerg muss vorkommen.«
Diesmal war es der Stier: Einmal ist er verschlafen und lebendig, aber pott­wal­groß. So wird er aus dem Meer gezogen. Einmal ist er tot, eine Rodeo-Reit­ma­schine auf der Schwä­bi­schen Alb, die hier aussieht wie eine Western­land­schaft in Nevada.
Aber immer der Stier. Irgend­wann fällt es einem auf, und das entpuppt sich als die Lösung, dass in allen diesen Stier­filmen das Auswär­tige Amt gefördert hat, und die »Deutsche Film­aka­demie Produk­tion« produ­ziert hat (Hä? Produ­zieren die jetzt auch noch? Ich wusste gar nicht, dass es sowas gibt, und dass das geht, aber das recher­chieren wir ein andermal), und die Euro­päi­sche Union dazu angeregt hat: »Europe in Films« heißt die dazu­gehö­rige Initia­tive. Und der Stier ist natürlich – das Wappen­tier Europas!

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Was dabei heraus­kommt, das sieht dann wie folgt aus: In Götter­däm­me­rung zeigen David Uzochukwu und Faraz Shariat ein schönes altes Schiff, das in der Adria für eine Urnen­be­stat­tung unterwegs ist. Symbole lösen einander ab. Eine Mischung aus Visconti-Dekadenz und Beschwö­rung alten Holly­woods, wie bei Peter Bogd­a­no­vich. »Freude schöner Götter­funken« wird gesungen, dann kentert das Schiff. Es ist auf Grund gelaufen, genau gesagt auf den Stier.
Welt­un­ter­gang, Apoka­lypse, Metaphern und grund­sätz­liche Über­wäl­ti­gung auf Breitwand machen dem Dechif­frier­syn­dikat viel Arbeit und belegen, dass dieser Film immerhin etwas will, und einen Begriff von Größe hat. Das ist viel unter den Maul­wurfs­hü­geln des Film­hoch­schul­durch­schnitts.

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Einer der schönsten Filme ist Handbook for a Privi­ledged European Woman von Alma Buddecke. Die Leitfrage der Regis­seurin lautete offen­kundig: Wo finde ich Hollywood auf der Schwä­bi­schen Alb? Sie zeigt schöne Menschen, schöne Autos, schöne Bilder, zur guten Musik von »Hot Chocolate«. Gespro­chen wird Englisch, nicht Schwä­bisch.
Retro auch sonst. Rodeo. Frau­en­phan­ta­sien. Bissi gewollt. Aber immerhin etwas gewollt.

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Jeden­falls gut gemacht ist Auto von Jakob Grunert. Der Film schreit von Anfang an: »Ich will auch mal 'Dark' machen!«
Autoland Deutsch­land. Ein Paar fährt durch den Wald, zerfleischt sich, doofe Dialoge, ange­spannt, künstlich ausge­dacht. Typisch deutscher Film. Aber ein schönes Auto.
Und dann plötzlich Horror: Oh weh, oh weh, das Auto lebt. Und das Auto hat dann eine Poesie, wo die Menschen diese nicht haben. Autoland Deutsch­land eben.

Und zum Schluss der beste Dialog­satz, nicht nur weil er uns hier plötzlich und sehr unver­mit­telt den V-Effekt vor den Latz knallt: »Was war das für Musik?«

Das macht den Film rund. Die Musik war übrigens von »Siriusmo«. Muss ich die kennen? Ja, jetzt schon.

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Schön und inter­es­sant ist auch Hitzig von der Münch­nerin Katharina Bischoff. Frauen in der Sauna. Die meisten jünger, gutaus­se­hend. Die beiden, die hier Kurse geben, sind Männer. Dragan, der Sauna-Animateur, labert von Aufguss und Klang­schale, die Regis­seurin zeigt neben absurden Sauna­ri­tualen den Alltag. Sie macht das geschickt: Wir nehmen mit einer der Frauen, der offenbar Neuen, an den Sauna­gängen teil, und beob­achten die anderen Frauen. Besonders eine.
Aber so richtig weiß man dann viel­leicht auch nicht, was dies wirklich soll, außer zu zeigen, was die Regis­seurin alles kann.

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Ziemlich gut und unge­wöhn­lich und sehr inter­es­sant ist Hasen auf der Wiese von Leonie Kellein. Schanelec und die Folgen – so könnte man den Film beschreiben. Aber er ist eine sehr schöne Folge. Auf den Einfluss der Profes­sorin an der HfbK kommt man auch, ohne im Nachspann die Dank­sa­gung zu lesen. Vignetten einer Familie auf dem Land, eine Drohne und Musik, schöne bewegte Kame­ra­fahrten, Surfen im Netz, Kinder­bilder, die in den Erwach­senen Horror wecken. Pure Schön­heits­mo­mente, die keine Handlung stört, in die man wohl länger einsinken könnte.

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»Chanel Eck« pinselte das Recht­schreib­pro­gramm. Auch gut.

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Die einzelnen Filme wider­legen den vergan­gene Woche bewusst zuge­spitzten Eindruck des allge­meinen Inhal­tismus im Programm – der trotzdem nicht falsch oder unzu­tref­fend ist, blickt man auf die Zusam­men­fas­sung der Geschichten, blickt man auch auf die Iden­ti­täten der Filme­ma­cher.
Dass dieser Blick überhaupt statt­findet, ist bereits der größte Fehler, es ist aber ein Fehler, den das Festival durch seine Program­mie­rung und die Betonung bestimmter Merkmale erst herstellt. Wenn jetzt mancher­orts die Rede von »Color­blind Casting« ist, dann könnte man viel­leicht mal über »Color­blind Curating« nach­denken. Also übers Kura­tieren einer Auswahl, das bewusst keinerlei Rücksicht darauf nimmt, und auch nicht in den Programmen damit wirbt, welches Geschlecht die Filme­ma­cher haben, welche sexuelle Identität, wo sie herkommen, wo die Geschichten spielen, und wovon sie handeln. Wenn man einfach nur die Filme für ihre wunder­baren Einstel­lungen anpreisen würde, ihre virtuose Montage, ihr schönes Blau, ihr wunder­bares Gelb. Oder so ähnlich.
Die Fallen, in die man ansonsten tappen kann, zeigte nämlich nicht etwa der Sieger­film Borga, sehr wohl aber der große Zuspruch für ihn.

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Eine Geschichte der Träume. Der Tagträume, der Geschichten, die man glauben will, mit ihren erfüllten Hoff­nungen auf Reichtum und Glück. Und der Albträume, die einen heim­su­chen bei Nacht.

Borga heißt der erste Spielfilm von Yorck-Fabian Raabe, der an der Berliner DFFB Film studierte, für den der Regisseur am Woche­n­ende nicht nur den dies­jäh­rigen Max-Ophüls-Preis gewann, nicht nur einen oder zwei Preise, sondern insgesamt gleich vier: Den Publi­kums­preis, den Kirchen­jury-Preis und den in der blödesten Kategorie, für den, wie es heißt: »rele­vanten Film des Jahres« – was immer das genau eigent­lich sein soll.
Ein Triumph.

In den Slums von Accra, der Haupt­stadt Ghanas, geht es los. Wir lernen eine Familie kennen, die auto­ri­tären Struk­turen und archai­schen Ehrvor­stel­lungen von Verhält­nissen, in denen Gewalt, Krimi­na­lität, Drogen immer nahe sind, und der einzige Ausweg fern: Geld verdienen im Norden, in Europa. Auf den Kindern lasten die Erwar­tungen der Eltern, denen sie zugleich zu gehorchen haben.

Die Haupt­figur ist der jüngere Sohn, Kojo. In schnellen Schritten und knappen skiz­zen­haften Szenen erzählt der Film wie in einem Statio­nen­drama zuerst aus seiner Kindheit, um dann den Weg des jungen Mannes zu zeigen, der es nach Europa schafft, genau gesagt ins kurpfäl­zi­sche Mannheim, aber dort weiter ausge­beutet wird, nur unter neuen Vorzei­chen – und nicht nur von Deutschen, auch von anderen Flücht­lingen.
Irgend­wann setzt er sich zur Wehr – er wird kriminell, aber er hat Erfolg. Und eine Weile ist er für seine Familie der Held, der, der es geschafft hat. Aber wie Armut, so hat auch Reichtum Konse­quenzen, der Traum von einem radikal anderen Leben ist nicht zum Nulltarif zu haben – wie immer im Kapi­ta­lismus.

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Die Gefahr bei diesem Film liegt offen zutage. Sie besteht darin, dass man ihn auf sein Thema reduziert. Dann dass man viele Worte darüber verliert, dass er eine schwarze Haupt­figur hat, dass er zum Teil in Afrika spielt, dass er von Migration erzählt, von Armut, von Unter­drü­ckung und Ausbeu­tung. Und von allem, was noch so in manchen Leit­ar­ti­keln zu lesen ist. Das stimmt irgendwie, und doch geht es an der Substanz dieses Films vorbei. Denn alles das wäre egal, wäre Borga kein guter Film.

Dies ist er aber. Ein schöner Film, der im großen Bogen erzählt, der im guten Sinn rau ist. Er ist keines­wegs ohne Fehler – vor allem die Musik ist zu oft und zu kommen­tie­rend einge­setzt, anstatt mal der Ruhe und der Phantasie der Zuschauer zu vertrauen.
Aber die Bilder sind ruhig. Nicht nur illus­trativ. Sie sprechen auch für sich selbst.

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Bei aller Qualität scheinen Borga und die Preise für ihn auch die offen benannte Absicht des Festivals zu bestä­tigen, im Programm vermeint­lich relevante und unter­re­prä­sen­tierte Themen zu zeigen.

Aber Filme, erst recht die des Nachwuchs, sind keine verfilmten Zeitungs­re­por­tagen und Leit­ar­tikel. Sie sollten es auch nicht sein.

Themen verschwinden aus dem Gedächtnis des Publikums so schnell wie der Schnee im Frühling. Was bleibt, sind Film­spra­chen und Stile, Handwerk und Hand­schrift.

Das belegten besonders die anderen Preise des Woche­n­endes, die nicht mal den Verdacht aufkommen ließen, es handle sich um Thesen­filme.

Ob der – ebenfalls an der Berliner DFFB entstan­dene – Nico (über den ich noch schreibe, verspro­chen!) oder der Doku­mentar-Film-Gewinner Stollen.

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Unsere auf sank­tio­nierte Formen von Enga­ge­ment und poli­ti­schen Haltungen kondi­tio­nierte Film­kritik wie die Jurys übersehen in der Regel die wirklich inter­es­santen Filme, und das Inter­es­sante an vielen Filmen.

So hätte Das Massaker von Anröchte den Preis mindes­tens genauso verdient. Für viele, auch für mich, war dies der beste Film im Wett­be­werb.

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Zugleich erschien mir zumindest das Programm in diesem Jahr auffällig schwächer als in den letzten Jahren. Gerade in den Lang­film­wett­be­werben. Das ist bestimmt der spezi­ellen Situation der Corona-Lage geschuldet und daher ein Einzel­fall. Und die allge­meine Fest­stel­lung ändert nichts daran, dass es natürlich einzelne Perlen und sehr gute Filme gab.

Seit langem schon ist Saar­brü­cken ein Ort der Entde­ckungen und der Zukunft des Kinos. Neben den Spiel- und Doku­men­tar­filmen gibt es hier auch Wett­be­werbe für Kurzfilme und – eine Spezia­lität – für soge­nannte »mittel­lange« Filme zwischen 30 und 60 Minuten. Gerade hier finden sich oft die mutigsten, im guten Sinne riskan­testen Filme des Festivals.

Besonders schwach schien mir in diesem Jahr der Doku­men­tar­film­wett­be­werb zu sein. Im Doku­men­tar­film fällt besonders auf, wie oft das Verhältnis der Genera­tion zum Thema wird. Auch hier ein Aufstand der Kinder. Das ist manchmal etwas schwarz-weiß darstellt, die Jungen sind die Guten; die Alten die Bösen – das entspricht den Schemata der poli­ti­schen Diskurse, die wir auch sonst kennen. Ebenso wie der allzu einfache Gegensatz zwischen bösem Millionär und guten Akti­visten, die gegen Millionäre kämpfen. Oder das böse Welt­wirt­schafts­forum, oder ein Blick aufs Wendtland.

Wieder bekamen viele öster­rei­chi­sche Filme die Preise. Auch dies bestä­tigte: Saar­brü­cken war auch in diesem so schwie­rigen Filmjahr allen Problemen zum Trotz immer noch das bedeu­tendste Film­fes­tival für den deutsch­spra­chigen Film­nach­wuchs.