Reden hilft immer |
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Statt verurteilen Vorurteile widerlegen | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
»Können wir keine Ruhe finden? In diesem kurzen Leben? Papa meinte, Ruhe findet man erst im Grab. Dann scheiss halt auf dieses Leben.« – Yasin in Bir Başkadır
»Sie sagen mutig, ich sage verrückt. Dabei ist es das Gleiche.« – Meryem zu Peri in Bir Başkadır
Wie wichtig es für eine „Gesellschaft“ ist, sich auf die therapeutische Couch zu legen, und sei es auch nur als „Zuschauer“, zeigt die gerade bei arte angelaufene, französische Adaption von In Therapie. Dass man „Filmtherapie“ aber auch ganz anders angehen kann, dass man den begrenzten therapeutischen Kammerspielraum durchaus verlassen und sogar »großes Kino« machen kann, das führt exemplarisch die türkische Serie Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul vor, die seit ihrem Start im November 2020 nicht nur heftige, leidenschaftliche Debatten in der Türkei, sondern auch in den angrenzenden Ländern des mittleren Ostens ausgelöst hat.
Die Gründe dafür liegen schon nach der ersten Folge dieser achtteiligen Miniserie auf der Hand. Wie ein Dominostein, der fällt und damit alle anderen Dominosteine mit sich zieht, sehen wir Meryem (Öykü Karayel) bei ihrem Teilzeitjob als Putzfrau in Ohnmacht fallen und dann in einer Rückblende bei ihrer Therapeutin Peri (Defne Kayalar) sitzen. Verängstigt und schüchtern und mit Kopftuch erzählt sie von ihren Ohnmachtsanfällen und lässt sich auf die therapeutische Situation ein, ohne allerdings die Genehmigung ihres Hodschas, ihres „religiösen Beraters“ bzw. Imams eingeholt zu haben. Mit diesem therapeutischen Moment verändert sich aber nicht nur Meryems Leben, sondern auch das ihrer Mitmenschen, die durch ihre „Transformation“ ebenfalls zu neuen Menschen werden. Das sind jedoch nicht nur ihre nächsten Verwandten, ihr Bruder Yasin (Fatih Artman) und dessen Frau Ruhiye (Funda Eryiğit), bei denen sie etwas außerhalb von Istanbul wohnt, sondern auch ihre Therapeutin und deren Supervisorin und Freundin Gülbin (Tülin Özel), die auf der laizistischen, kemalistischen Seite der türkischen Gesellschaft stehen und sich nicht nur durch ihre offen getragenen Haare von dem devot-religiösen Umfeld von Meryem distanzieren, sondern verbittert realisieren, dass sie auf der Verliererseite stehen und sogar am therapeutischen Erfolg mit Meryem zweifeln: »Die sind völlig durchgedreht mit ihrem Hodschas. Wir können sie unmöglich verstehen«, sagt Peri fassungslos, führt die Therapie aber dennoch fort, auch um ihre eigenen Gespenster in den Griff zu bekommen.
Doch dabei bleibt die von Showrunner, Regisseur und Drehbuchautor Berkun Oya verantwortete Serie nicht stehen. Stattdessen entfaltet sie mit jeder weiteren Folge noch komplexere Beziehungsmuster, erzählt von einem Womanizer (bei dem Meryem putzt und in der Eingangsszene in Ohnmacht fällt), einer Schauspielerin in einer erfolgreichen türkischen Soap-Opera, über die Oya seine eigene Serie in schwindelerregende Doppelbödigkeit führt, wenn sich Rolle und Realität zunehmend vermischen und Oya in seine eigene Serie mit plötzlich platzierten Soap-Opera-Elementen »garniert«, gleichzeitig aber auch darüber läßt, welche gesellschaftliche – und politische – Relevanz die Serienkultur in der Türkei hat. Aber es gibt noch mehr in diesem fast bodenlosen Korb der Kreativtät. Denn Acht Menschen in Istanbul nimmt sich auch den zerrissenen Familienverhältnissen von Peris Supervisorin Gülbin und ihrer kurdischer Familie an, erzählt in düsteren, hervorragend geschriebenen Dialogen von Vergewaltigung und Missbrauch, von Hoffnungen und Träumen und vor allem von starken Frauen und schwachen, tumben und hilflosen Männern.
Das erstaunlichste an Oyas Blick auf die türkische Gesellschaft ist dabei, dass er niemanden verurteilt, sondern stattdessen Vorurteile widerlegt. Immer dann, wenn eine der dargestellten Personen den klassischen Erwartungshaltungen oder Vorurteilen zu entsprechen scheint, treibt Oya den Plot bzw. sein Psychogramm noch ein Stück in die Tiefe. So entwickelt sich etwa aus dem zu Anfangs zwar liebevollen, aber in seiner Beratungstätigkeit doch stark limitierten Hodscha ein ebenso an der Zerrissenheit der türkischen Gesellschaft leidender Mensch, der sich nur mehr über seine sich ihm religiös entfremdende Tochter und sein altes Wohnmobil so etwas wie Heimat empfinden kann.
Ihre Entsprechung finden diese immer wieder radikalen und emotionalen psychologischen »Close-Ups« in der Cinematographie von Acht Menschen in Istanbul. Immer wieder beginnt Oyas Kamera in der Ferne, um sich mehr und mehr auf Menschen und Gegenstände zu fokussieren. Sehen wir zuerst die von Baukränen übersäte Silhouette Istanbuls, ist die Kamera schon bald in ein Hochhaus versunken, sehen wir den Schatten eines der Protagonisten am Fenster stehen, und folgen ihm gleich darauf in seine privatesten Augenblicke. Manchmal sind es nur Mosaike aus alter und neuer Architektur, dann wieder Alltagsgegenstände, ein Spielzeugauto auf dem Teppich, der Hodscha allein auf einem grünen Meer von Gebetsteppichen oder Meryem, die sich in einem Fensterausschnitt osmanisch-islamischer Architektur konturiert. Und immer wieder kontrastieren die Seelenlandschaften mit den Außenlandschaften: das Wohnmobil des verzweifelten Hodscha unter einer gigantischen Autobahnbrücke, die Versunkenheit der Tochter des Hodscha beim Hören von Techno über ihre übergroßen Kopfhörer beim Abschied von ihren Eltern, Ruhiye vor den übermächtigen Felsen ihrer traumatisierten Jugend, Meryems verzweifelte Sehnsucht nach einem neuen Leben in ihrem rot geschminkten Mund, der voller Leidenschaft eine Süßigkeit verzehrt.
Jede dieser Einstellungen und noch weit mehr als die hier aufgeführten, gleichen Gemälden, übergroßen, perfekten Fotografien, deren Kern eine fast lyrische Ambiguität besitzt und die in ihrer beobachtenden Ruhe und ihrer symbolischen Stringenz an die Filme Tarkowskis erinnern.
Doch auch Tarkowski ist nur eine Facette von acht Facetten, wird der Ernst immer wieder von einem tiefgründigen Humor abgelöst, einer Leichtigkeit, Spontanität und Verspieltheit, die sich vor allem in den Enden jeder Folge zeigt. Mal werden alte Musikvideos aus den 1970er, bevorzugt von Ferdi Özbeğen abgespielt, die mit der übrigen ungewöhnlichen Songlist und Filmmusik eine Geschichte für sich bilden, dann wieder lässt Oyu eine Szene einfach weiterlaufen, lässt etwa den Hodscha und seine Tochter nach ihrem Dialog den ganzen Abspann vor dem Fernseher sitzen, bis erst er und dann sie ins Bett geht, nicht ohne zu vergessen, den Fernseher auszuschalten.
Am Ende ist bei all der wunderbaren, aufregenden, überraschenden Ambivalenz aber dann doch etwas klar geworden: Reden hilft immer und auf jeden Fall, und mag, wenn es schon das Religiöse und Alltägliche verändert, auch das Politische verändern. Und noch etwas, falls das bislang nicht deutlich geworden sein sollte: Acht Menschen in Istanbul ist wie schon der türkische Titel »Bir Başkadır« sagt – »etwas ganz Besonderes«. Und das nicht nur für Menschen aus der Türkei, dem Mittleren Osten, oder einer der vielen migrantischen oder postmigrantisch-muslimischen Blasen.
Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul ist seit dem 12. November 2020 auf Netflix abrufbar.