Netflix-Serie »Bridgerton«: Ballsaison in Barbieland |
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Der Zweck heiligt die Mittel - Daphne und der Duke of Hastings | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
I think the show really provides an incredible escape for audiences at a time where that’s exactly what’s needed. – Bridgerton-Showrunner Charles van Dusen im Deadline-Interview
Jetzt kann eigentlich nur noch eins die zweite Staffel von Bridgerton verhindern. Die Konkurrenz aus dem eigenen Haus. Denn das erfolgreichste Netflix-Serien-Debüt aller Zeiten, das Anfang Januar 2021, nur zehn Tage nach dem Start am 25. Dezember 2020, zumindest ein paar Minuten lang von 82 Millionen Haushalten gesehen wurde, es in jedem Land (einzige Ausnahme ist Japan) unter die Netflix-Top-10 und in 83 Ländern, darunter in so unterschiedlichen Kulturräumen wie den USA, Brasilien, Indien, Frankreich und Südafrika, sogar auf den ersten Platz geschafft hat, sucht händeringend englische Schlösser für die kommenden Drehs. So wie The Crown. Denn so wie The Crown mit architektonischer Authentizität historische Ungenauigkeiten entkräftet, so ist auch in Bridgerton die historische Kulisse ein wichtiger Faktor, um der erzählerischen Melange aus Gossip Girl und Downton Abbey das unerlässliche Porzellan einer eskapistischen Rahmenhandlung zu bieten.
Dabei ist es eigentlich völlig egal, wann diese Schlösser entstanden sind, ob sie wirklich Teil des »Bridgerton-Regency« oder einer davor oder danach liegenden Epoche sind. Denn den Verantwortlichen um Produzentin Shonda Rhimes und Showrunner Charles van Dusen geht es wie in ihren bisherigen Produktionen Grey’s Anatomy oder Scandal vor allem darum, ihre Protagonisten immer neuen, unvorhergesehenen Plot-Twists auszusetzen.
Diese kleinen und großen Dramen basieren in Bridgerton auf der im London des Jahres 1813 angesiedelten Bestseller-Romanreihe von Julia Quinn, in deren hier verfilmtem ersten Teil »The Duke and I« es vor allem um eins geht: um die Ballsaison des Jahres, während der die jungen, heiratsfähigen Frauen der obersten englischen Gesellschaftsschicht den entsprechenden Männern und einer Heirat mit ihnen zugeführt werden sollen. Begleitet werden diese Dramen von einer unbekannten weiblichen Stimme aus dem Off, Lady Whistledown, die, nomen est omen, nichts anderes als eine »Whistleblowerin« ist und über eine kleine Boulevard-Postille die niedrigschwelligsten Geheimnisse, also Klatsch und Tratsch, preisgibt und damit selbstverständlich für Verwirrung sorgt.
Das ist tatsächlich so banal, wie es klingt. Und wird nicht besser, wenn man sich die narrativen Details dieses Kolportage-Kuchens mit Zuckerguss etwas genauer ansieht. Wenn man in Daphne Bridgertons (Phoebe Dynevor) Charakter und ihren so dummen wie vorhersehbaren Komplott mit dem Duke of Hastings, Simon Basset (Regé-Jean Page), eintaucht; wenn man ihre Geschwister und Eltern kennenlernt und die Töchter und Eltern der befreundeten Familie Featherington und natürlich Daphnes eigene Eltern und ihre Geschwister, allen voran ihren charismatischer Bruder, den Viscount Anthony Bridgerton (Jonathan Bailey), dessen bester Freund ausgerechnet Herzog Simon ist, von dem Anthony immerhin weiß, dass eine Heirat für Simon überhaupt nicht in Frage kommt, egal mit wem.
Wir erfahren aber noch viel mehr. Von opulenten Bällen, einem preußischen Prinzen, von einer vorehelichen Schwangerschaft, und von Frauen, die, wenn adelig, von Sex keine Ahnung haben, aber dann doch sehr gern und sehr errötend Ratschläge zum Thema Selbstbefriedigung anhören, wenn sie denn vom Richtigen kommen. Wir lernen eine Königin kennen, die genauso gerne intrigiert wie Lady Whistledown, wir wohnen Boxkämpfen und einem Duell bei und wir sehen im Morgengrauen eine aufgelöste Daphne zu eben diesem Duell reiten.
Das sind Bilder, wie sie auf dem Cover jedes Groschenromans zu finden sind, die pseudo-upper-britishen Dialoge stehen dem in nichts nach. Und auch ihr Inhalt nicht. Jeder Wunsch, jede Erwartungshaltung wird dem Betrachter von seinen Augen abgelesen. Und mehr noch: manchmal scheint es sogar, als hätten die Serienmacher einen Algorithmus bedient, der ein Medley aus den beliebtesten romantischen Serienversatzstücken generiert. Das fällt umso deutlicher auf, wen man einen Blick in eine romantische Serie wie die südkoreanische Crash Landing On You wirft, die vor innovativen Ideen fast schon explodiert. Immerhin erfüllt sich in Bridgerton jede Hoffnung und jede Erwartungshaltung, vorausgesetzt sie ist nicht zu ausgefallen. Weshalb mit Überraschungen – zumindest auf der Handlungsebene – nicht gerechnet werden sollte. Doch gerade das ist in einer Krisenzeit, die vor überraschenden Virenmutationen und unvorhergesehenen Inzidenzwertentwicklungen nur so strotzt auch nicht das, was das breite Publikum sehen möchte.
Damit soll nicht gesagt sein, dass Bridgerton ganz ohne Spannung auskommt. Nicht umsonst ist Produzentin Shonda Rhimes eine der wenigen erfolgreichen afro-amerikanischen Drehbuchautorinnen und Produzentinnen, die bereits in Grey’s Anatomy mit einem äußerst diversen Cast und gegen den Mainstream-Strich gebürsteteten Plotelementen überrascht hat. In Bridgerton wird diese Herangehensweise zelebriert, wird Historie als Leerstelle interpretiert, in die man hineinwerfen kann, was man gerade so im Kopf hat und was aktuell ist, nur um der lieben Gegenwart willen, die sich bezaubert darin spiegeln kann: Vergangenheit als moralische Instanz und moralischer Zeigefinger, der andeutet, was in der Gegenwart falsch läuft, aber weit genug weg ist, um sich nicht bedroht zu fühlen.
Deshalb wirken all die »witzigen«, »überraschenden« Einfälle, die die Serie so modern machen sollen – seien es die afro-amerikanischen bzw. afrikanischen Schauspieler in wichtigen gesellschaftlichen Rollen, sei es die feministische Schwester oder Lady »Facebook« Whistledown, die Instagram zitierende, massiv nachkolorierte bonbonfarbene Filmästhetik oder sei es die mal mehr oder weniger »versteckte« moderne Musik von Maroon 5, Ariana Grande oder Billy Eilish – wirken all diese »Gags« so aufgesetzt, so zwanghaft einem Zeitgeist geschuldet, dass die Serie immer wieder ins Stocken und Schlingern gerät und zu kaum vorstellbarer Langeweile aufläuft.
Nur an einer Stelle haben die Macher nicht aufgepasst. Als Daphne in der sechsten Folge endlich genug hat vom »Coitus-Interruptus«-dominierten Sex, nimmt sie unter Jessica Vaughns aka JPOLNDs »The End« die Sache in die Hand, um dem »ein Ende« zu bereiten. Das hat dann allerdings nichts mehr mit den in Schweden und Dänemark durchgesetzten Regelungen nach einvernehmlichen Sex zu tun. Allerdings gab es zu Regency-Zeiten natürlich auch noch keine App wie iConsent, mit der man das hätte durchsetzen können.
Dennoch bleibt nach dieser Szene ein schaler Beigeschmack. Nicht jedoch, weil das »Opfer« people of color (PoC) ist, sondern weil es im erzählerischen Kontext als folgerichtig etabliert wird. Das erinnert an einen anderen, großen Netflix-Erfolg, an Barbara Białowąs und Tomasz Mandes Fifty Shades of Grey-Ableger 365 Tage, in dem wiederholter nicht einvernehmlicher Sex dann doch schließlich zu so etwas wie Liebe und Erfüllung führt.
Doch van Dusen geht über diese Szene, die auch in der literarischen Vorlage so angelegt ist wie im Film (»Daphne had aroused him in his sleep, taken advantage of him while he was still slightly intoxicated, and held him to her while he poured his seed into her.«), schnell hinweg, denn letztlich heiligt der Zweck ja so ziemlich alle Mittel.
Auch deshalb sehen wir natürlich in Bridgerton, von zwei klitzekleinen Ausnahmen abgesehen, nicht wirklich etwas von der beschriebenen Epoche, den brutalen Umwälzungen, dem Hunger, dem Elend, dem Proletariat und Parallelwelten, die die englische Gesellschaft damals fast zerrissen hätten und die nur durch einen aggressiven Kolonialismus wieder befriedet werden konnten, so wie das John und Jean Comaroff in »Ethnography and the historical imagination« überzeugend ausgeführt haben. Und wie es auch in Armando Iannuccis kongenialer David Copperfield-Verfilmung aus dem letzten Jahr angedeutet wurde – in dem übrigens ebenfalls, aber deutlich pointierter, PoC auftauchen.
Aber auch der Erfolg heiligt ja alle Mittel. Und Bridgerton hat der an Covid-19 leidenden Welt nun einmal genau die Barbie-Puppen-Gegenwelt beschert, die sie braucht, um ein wenig zu vergessen, ein wenig zu reflektieren, aber auch ein wenig erinnert zu werden, dass das Leben immer schwer ist, aber am Ende dann doch immer gut wird, selbst in einer moralischen »Lockdown-Gesellschaft« wie der englischen im Jahr 1813. Und natürlich um auf ganz neue Gedanken zu kommen, auch wenn sie noch so restaurativ sein sollten. Etwa den, dass auch Korsetts sexy und gegenwartstauglich sein können.
Bridgerton ist seit dem 25. Dezember 2020 auf Netflix abrufbar.