71. Berlinale 2021
Kompass ohne Nadel |
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Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wo er steht... | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
Von Axel Timo Purr
- Wusstest du, Alex, dass die isländischen Fischer nicht Schwimmen lernen? – Warum? – Damit das Ertrinken nicht so lange dauert, wenn sie kentern. – Yusuf und Alex in Je suis Karl
Da wir ja so wie einst Siegfried Kracauer ahnen, dass das Kino immer mehr weiß als wir selber, sollte uns langsam Angst und Bange werden, denken wir an Europa. Und an eine offene, alles andere als identitäre Politik. Denn die Einschläge kommen näher und näher. Ganz abgesehen von den vielen kleinen, aber wichtigen »Grundlagen-Filmen« wie Kleine Germanen, scheint sich mehr und mehr die Frage zu stellen, wie der politischen »Tribalisierung« am besten zu begegnen ist. Julia von Heinz wusste in ihrem Und morgen die ganze Welt keine rechte Antwort und die gerade erschienene Netflix-Serie von Philip Koch, Tribes of Europa, hat im Grund auch resigniert, denn wie will man einen Kampf in der Zukunft gewinnen, der bereits in der Vergangenheit verloren ging, wie den Verlust eines moralischen Kompass richten, der keine Kompassnadel mehr besitzt?
Gerade recht kommt deshalb Christian Schwochows diesjähriger Berlinale-Beitrag Je suis Karl. Er ist gewissermaßen der Antipode zu Julia von Heinz' Film, der aus dem Zentrum der Antifa berichtete. Schwochow hingegen berichtet aus dem Zentrum der Neuen Rechten, die so »sexy«, »jung« und »innovativ« ist, wie es damals auch die NSDAP war (siehe Paula Diehl: Macht – Mythos – Utopie: Die Körperbilder der SS-Männer), als sie ihren Siegeszug begann. Ähnlich wie in Und morgen die ganze Welt sehen wir auch in Je suis Karl einer jungen Frau in moralischen Turbulenzen zu, sehen wir politische Gewalt auf private Fragilität treffen. Maxi (Luna Wedler) hat Mutter und zwei Geschwister bei einem Bombenattentat verloren und ist so wie ihr Vater Alex (Milan Peschel) schwer traumatisiert. Doch anders als Alex, der sich in seiner Trauer isoliert, versucht Maxie nach vorne zu schauen und handlungsfähig zu bleiben. Dadurch öffnet sie sich auch Karl (Jannis Niewöhner), der mit drei Freunden eine junge, rechte pan-europäische Organisation anführt, die sich »Re/Generation« nennt und Maxie durch eine »rechtschaffende« Politik gewinnt, die in Zukunft auch Täter wie die mutmaßlich islamistischen Mörder ihrer Familie gerecht bestraft sehen will.
Das Drehbuch von Thomas Wendrich unterlegt dieser klassischen Traumatisierung und einem Ausweg durch Radikalisierung einen »romantischen« Subplot, den wir in Ansätzen aus Mariko Minoguchis erzählerisch dichtem Debüt Mein Ende. Dein Anfang. kennen, in dem sich der »Täter« ebenfalls seinem »Opfer« nähert und eine Beziehung etabliert. Doch Schwochow gibt seinem Film eine weitere wichtige »Unsicherheit« mit auf den Weg, in dem er so wie Hans Weingartner in seinem »Widerstands-Epos« Die fetten Jahre sind vorbei, Karl politische Freunde zur Seite stellt, die so jugendlich, schön und idealistisch wie radikal sind und nichts mit den rechten »Monstern« gemein haben, die Julia von Heinz der Antifa gegenüberstellt.
Ebenso sinnvoll (und realistisch) uneindeutig präsentiert Schwochow die »Masse«, die der Organisation folgt, die erst in dem Moment ihre Maske der jugendlichen Unschuld herunterreißt, als die Zeit zum Handeln kommt und mit einer ähnlich dystopischen Wucht skizziert wird, wie es Philip Koch in seinen Tribes of Europa getan hat.
Diese konsequente Entwicklung wird durch das überzeugende Ensemble, die wechselnden europäischen Orte und die Musik noch einmal unterstrichen. Eine Musik, die so wie der Film deutlich macht, dass Links, Rechts und Multi-fundamentalistisch mit sehr ähnlichen Waffen kämpfen, sich am Ende dann aber doch jeder selbst entscheiden muss, auf welcher Seite er stehen will. Schwochow zeigt dabei nicht nur überzeugend, wie leicht es ist, sich in diesem moralischen Dickicht zu verlaufen, sondern auch wie schwer es ist, die Sprache des »richtigen« Widerstandes zu dechiffrieren. Ein Film zur »rechten« Zeit.