04.03.2021
71. Berlinale 2021

Kompass ohne Nadel

Je suis Karl
Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wo er steht...
(Foto: Berlinale Presseservice)

Christian Schwochows Berlinale Special-Beitrag Je suis Karl bringt die Gefahr gegenwärtiger radikaler Populismuspolitik auf den Punkt und zeigt, wie gefährlich, unangreifbar und sexy die Neue Rechte sein kann – ein Film zur »rechten« Zeit

Von Axel Timo Purr

- Wusstest du, Alex, dass die islän­di­schen Fischer nicht Schwimmen lernen? – Warum? – Damit das Ertrinken nicht so lange dauert, wenn sie kentern. – Yusuf und Alex in Je suis Karl

Da wir ja so wie einst Siegfried Kracauer ahnen, dass das Kino immer mehr weiß als wir selber, sollte uns langsam Angst und Bange werden, denken wir an Europa. Und an eine offene, alles andere als iden­ti­täre Politik. Denn die Einschläge kommen näher und näher. Ganz abgesehen von den vielen kleinen, aber wichtigen »Grund­lagen-Filmen« wie Kleine Germanen, scheint sich mehr und mehr die Frage zu stellen, wie der poli­ti­schen »Triba­li­sie­rung« am besten zu begegnen ist. Julia von Heinz wusste in ihrem Und morgen die ganze Welt keine rechte Antwort und die gerade erschie­nene Netflix-Serie von Philip Koch, Tribes of Europa, hat im Grund auch resi­gniert, denn wie will man einen Kampf in der Zukunft gewinnen, der bereits in der Vergan­gen­heit verloren ging, wie den Verlust eines mora­li­schen Kompass richten, der keine Kompass­nadel mehr besitzt?

Gerade recht kommt deshalb Christian Schwo­chows dies­jäh­riger Berlinale-Beitrag Je suis Karl. Er ist gewis­ser­maßen der Antipode zu Julia von Heinz' Film, der aus dem Zentrum der Antifa berich­tete. Schwochow hingegen berichtet aus dem Zentrum der Neuen Rechten, die so »sexy«, »jung« und »innovativ« ist, wie es damals auch die NSDAP war (siehe Paula Diehl: Macht – Mythos – Utopie: Die Körper­bilder der SS-Männer), als sie ihren Siegeszug begann. Ähnlich wie in Und morgen die ganze Welt sehen wir auch in Je suis Karl einer jungen Frau in mora­li­schen Turbu­lenzen zu, sehen wir poli­ti­sche Gewalt auf private Fragi­lität treffen. Maxi (Luna Wedler) hat Mutter und zwei Geschwister bei einem Bomben­at­tentat verloren und ist so wie ihr Vater Alex (Milan Peschel) schwer trau­ma­ti­siert. Doch anders als Alex, der sich in seiner Trauer isoliert, versucht Maxie nach vorne zu schauen und hand­lungs­fähig zu bleiben. Dadurch öffnet sie sich auch Karl (Jannis Niewöhner), der mit drei Freunden eine junge, rechte pan-europäi­sche Orga­ni­sa­tion anführt, die sich »Re/Gene­ra­tion« nennt und Maxie durch eine »recht­schaf­fende« Politik gewinnt, die in Zukunft auch Täter wie die mutmaß­lich isla­mis­ti­schen Mörder ihrer Familie gerecht bestraft sehen will.

Das Drehbuch von Thomas Wendrich unterlegt dieser klas­si­schen Trau­ma­ti­sie­rung und einem Ausweg durch Radi­ka­li­sie­rung einen »roman­ti­schen« Subplot, den wir in Ansätzen aus Mariko Mino­guchis erzäh­le­risch dichtem Debüt Mein Ende. Dein Anfang. kennen, in dem sich der »Täter« ebenfalls seinem »Opfer« nähert und eine Beziehung etabliert. Doch Schwochow gibt seinem Film eine weitere wichtige »Unsi­cher­heit« mit auf den Weg, in dem er so wie Hans Wein­gartner in seinem »Wider­stands-Epos« Die fetten Jahre sind vorbei, Karl poli­ti­sche Freunde zur Seite stellt, die so jugend­lich, schön und idea­lis­tisch wie radikal sind und nichts mit den rechten »Monstern« gemein haben, die Julia von Heinz der Antifa gegen­ü­ber­stellt.

Ebenso sinnvoll (und realis­tisch) unein­deutig präsen­tiert Schwochow die »Masse«, die der Orga­ni­sa­tion folgt, die erst in dem Moment ihre Maske der jugend­li­chen Unschuld herun­ter­reißt, als die Zeit zum Handeln kommt und mit einer ähnlich dysto­pi­schen Wucht skizziert wird, wie es Philip Koch in seinen Tribes of Europa getan hat.

Diese konse­quente Entwick­lung wird durch das über­zeu­gende Ensemble, die wech­selnden europäi­schen Orte und die Musik noch einmal unter­stri­chen. Eine Musik, die so wie der Film deutlich macht, dass Links, Rechts und Multi-funda­men­ta­lis­tisch mit sehr ähnlichen Waffen kämpfen, sich am Ende dann aber doch jeder selbst entscheiden muss, auf welcher Seite er stehen will. Schwochow zeigt dabei nicht nur über­zeu­gend, wie leicht es ist, sich in diesem mora­li­schen Dickicht zu verlaufen, sondern auch wie schwer es ist, die Sprache des »richtigen« Wider­standes zu dechif­frieren. Ein Film zur »rechten« Zeit.