Lovemobil-Debatte
Worüber sprechen wir eigentlich? |
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52 von 100: Film als Fenster in eine „andere“ Welt. | ||
(Foto: Lehrenkrauss / NDR) |
Von Anne Küper
Die Lovemobil-Debatte habe ich in den letzten Wochen ausschließlich als Leserin verfolgt, und das ist gleich schon die erste Behauptung in diesem Text. Denn ich bin nie nur Leserin, kann ich ja gar nicht sein, sondern immer zugleich Filmkritikerin, Kulturwissenschaftlerin, freischaffende Theatermacherin und damit selbst Künstlerin (die Aufzählung könnte noch weitergehen, doch ich will hier
stoppen). Aus den genannten Perspektiven habe ich also aufmerksam herumgelesen, und zunehmend den Eindruck gewonnen, dass bei aller Freude, wieder über etwas diskutieren zu können, das nicht mit einfältigen Begriffen wie „Brücken-Lockdown“ zu tun hat, doch allmählich in der Causa Lovemobil die Punkte verschwimmen, über die gerade gesprochen und geschrieben werden.
Mit anderen Worten: Ich bin verwirrt. Komplett. Und ein bisschen genervt auch.
Um diesen Gefühlen der Ratlosigkeit entgegenzutreten, probiere ich mich jetzt an einer Liste. Die Liste ist ein autoritäres Format des Schreibens, das die Welt brutal in ein Nacheinander oder Untereinander überführt. Ich will mich dieses Formats dennoch bedienen und eine subjektive Ordnung der Dinge entwerfen, die Angelegenheiten sortieren, über die nach meiner Wahrnehmung in Bezug auf den Film von Elke Lehrenkrauss geredet wird; teils zu viel (Punkt 1), teils zu wenig (Punkt 3). Womöglich werde ich im Folgenden auch Themen behaupten, von denen ich mir wünschen würde, dass sie eine größere Aufmerksamkeit bekämen. So ist meine Liste Fabulation wie Bestandsaufnahme, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr will sie in ihrer Zusammenstellung genau auf das verweisen, was fehlt, und Gesprächsangebot sein. Für weitere Verwirrte und weitere Verwirrung.
1. Elke Lehrenkrauss als Privatperson.
2. Elke Lehrenkrauss als freie und prekär beschäftigte Filmemacherin.
3. Ab wann prekäre Beschäftigung anfängt, ganz konkret, mit Zahlen, und wie sie sich verhindern lässt.
4. Wer sich prekäres Filmemachen leisten kann.
5. Wie viel eigentlich so ein Dokumentarfilm kostet.
6. Ob ich als festangestellte Redakteurin, sagen wir mal beim NDR, wissen würde, wie freies und prekäres Filmemachen aussieht.
7.
Innovationsdruck.
8. Selbstausbeutung.
9. Selbstermächtigung.
10. Selbstbewusstsein.
11. Ob 90.000 Euro Etat für einen Debütfilm jetzt viel sind oder wenig.
12. Die Fliege an der Wand.
13. Wie Sexarbeit in Lovemobil gezeigt wird, und was daran problematisch ist.
14. Verträge für Sendeminuten. Anzahl variiert.
15. Den Unterschied von Wirklichkeit
und Realität, und ob es den überhaupt gibt.
16. Darstellbarkeit.
17. Natürlich Godard.
18. Klaus Wildenhahn.
19. Direct Cinema.
20. Wer die bescheuerte Wort-Kombi „Direct Cinema Polizei“ erfunden hat, und ob sie wirklich auf Grit Lemke zurückzuführen ist.
21. Den Umgang mit Zitaten.
22. Warum es einen Beitrag von STRG_F braucht, damit Strategien des zeitgenössischen Dokumentarfilms öffentlich diskutiert werden.
23. Wen dieser Beitrag von
STRG_F erreicht und der zeitgenössische Dokumentarfilm nicht.
24. Moral.
25. Geilheit.
26. Falsche Erwartungen.
27. Dass die Beschreibungsfloskel „nah dran“ mehr als eine Einstellungsgröße ist.
28. Was in abgelegenen Wohnmobilen passiert.
29. Was es heißt, auf der Straße für einen Zuhälter gehalten zu werden, wenn du eigentlich als Schauspieler und Hausmeister arbeitest.
30. Was es heißt, Filmemacherin und Mutter zu sein.
31. Was es heißt,
dass ein Reportage-Format des NDR wiederum über die Strukturen der NDR-Dokumentarfilmredaktion berichtet.
32. Was es heißt, dass über einen Film gesprochen wird, den viele gar nicht oder nur ausschnitthaft gesehen haben.
33. Was Realität im künstlerischen Dokumentarfilm zu suchen hat.
34. Dokumentarfilme.
35. Dokumentationen.
36. Dokus.
37. Reportagen.
38. Scripted Reality.
39. Fernsehjournalismus, und der Unterschied zum künstlerischen
Dokumentarfilm.
40. Claas Relotius.
41. Authentizität, und dass sie immer nur der Effekt von einer Inszenierung ist. Etwas kann authentisch wirken – authentisch sein aber eben nicht.
42. Wie „Inszenierungsverbote“ aussehen, und wer sie dann durchsetzen will.
43. Freud und Leid beim Schreiben von Projektanträgen.
44. Kontrolle.
45. Ambition.
46. Scheitern.
47. Wie sich Scheitern anfühlt.
48. Was für eine Art von (Dokumentar-)Filmen
häufig Preise gewinnt.
49. Wie Jurys besetzt sind.
50. Wer einen Film über Sex Worker drehen will, und schon am Anfang davon ausgeht, dass die Kamera an diesem Arbeitsort nicht zum Problem werden könnte.
51. Die Faszination am Fremden.
52. Film als Fenster in eine »andere« Welt.
53. Niedersachsen.
54. Voyeurismus.
55. Die Art und Weise, wie Timo Großpietsch, der für Lovemobil zuständige Redakteur beim NDR, im Beitrag von STRG_F über die Verpflichtung zur Wahrheit und Realität spricht.
56. Die lange Pause, die Großpietsch macht, als ihm die Reporterin im Beitrag von STRG_F die Frage stellt: »Also hat die Redaktion alles richtig gemacht?«.
57. Wann ich was hätte merken können und müssen.
58. Wo es den Anfangsverdacht hätte geben müssen.
59. Wo eigentlich das Problem dabei gewesen wäre, die Darstellenden einfach im Abspann als
Darstellende anzugeben.
60. Weitere Strategien, mit denen Lehrenkrauss ihre Anweisungen beim Dreh im Schnitt hätte kenntlich machen können.
61. Verabredungen auf Vertrauensbasis, und was es heißt, nichtprofessionelle Darstellende ernst zu nehmen.
62. Wie Sex-Worker während einer Pandemie vom Staat unterstützt werden.
63. Wie wir aufhören können, den Produktionsapparat zu beliefern.
64. Netflix, Netflix, Netflix.
65. Wie sich Vorstellungen von dem, was
dokumentarisch ist, ausdifferenziert haben.
66. Echtheit.
67. Realness.
68. Verantwortung, und dass sie im Fall von Lovemobil niemand so recht übernehmen will.
69. Dass es keinen objektiven Blick gibt.
70. Die Liebe zur Lüge.
71. Was es bedeutet, auf der Straße für einen Rassisten gehalten zu werden, wenn du eigentlich als Schauspieler und Hausmeister
arbeitest.
72. Dass über Personen in Dokumentarfilmen als „Helden“ und „Heldinnen“ gesprochen wird.
73. Dass Personen für Dokumentarfilme als „Helden“ und „Heldinnen“ gecastet werden.
74. Dass Förderinstitutionen und Sendeanstalten im Exposé wissen wollen, wie die Reise der „Helden“ und „Heldinnen“ in einem Dokumentarfilm endet, bevor der offene Rechercheprozess begonnen hat.
75. Dass
Redaktionen Dokumentarfilme mögen, die nachvollziehbare Spielfilm-Dramaturgien verfolgen.
76. Dass Dokumentarfilme nice aussehen müssen (Stichwort: schönes Licht).
77. Dass die einen „rüberkommen“, um die anderen »abzuholen«.
78. Reenactment als Konvention des Dokumentarischen.
79. Wissen um die Geschichte des deutschsprachigen Dokumentarfilms.
80. Wer weiß, was Wildenhahn eigentlich außer Emden geht nach USA gedreht
hat.
81. Aktuelle Debattenkultur, und welche Personen daran teilhaben können.
82. Aktuelle Debattenkultur, die in erster Linie digital stattfindet, und welche Personen daran teilhaben können.
83. Höflichkeit.
84. Anstand.
85. Die Moral von der Geschicht'.
86. Cancel Culture, und dass es sie in Deutschland gar nicht in der Form gibt, wie sie zurzeit medial besprochen wird.
87. Wieso ein Dokumentarfilm, der eine breite Öffentlichkeit erreicht und eine Debatte
angestoßen hat über das, was wir von ihm erwarten, nicht mehr in der NDR-Mediathek verfügbar ist.
88. Was es eben bedeutet, dass über einen Film gesprochen wird, den viele gar nicht oder nur ausschnitthaft gesehen haben.
89. Wie eine Gesellschaft einen Film im Sprechen darüber selbst herstellt.
90. Wie eine Gesellschaft sich selbst im Sprechen herstellt.
91. Worin die Offensichtlichkeit einer Inszenierung besteht.
92. Ab wann eine Inszenierung als solche erkennbar
wird.
93. Wie ich als festangestellte Redakteurin, zum Beispiel beim NDR, eine vertrauensvolle, inhaltliche, tolle Betreuung von Filmemachenden garantieren kann.
94. Die Virtuosität im Faking.
95. Wann jene „Abbildung von Realität“ erfolgen soll, die das Dokumentarfilm-Verständnis des NDR dem Beitrag von STRG_F zufolge immer noch prägt.
96. Wie eigentlich der Beitrag von STRG_F dramaturgisch aufgebaut ist, und wer die ganz mysteriös reindröhnende
Musik gemacht hat. Hey, das würde mich interessieren!
97. Was STRG_F da enthüllt.
98. Wie in dem Beitrag von STRG_F eine Frau für eine andere Frau Partei ergreift.
99. Die Konstruktivität von Reue.
100. Wie schwer es sein kann, sich zu entschuldigen.