29.04.2021

Stupid fucking Hippies! (& Günter Netzer)

Die Schlange
Porträt des Serienmörders als junger, schöner und alter Mann
(Foto: Netflix)

Die Schlange ist weit mehr als nur eine eskapistische True-Crime-Mini-Serie, die Covid-Ersatzurlaub in Südostasien und einen doppelbödigen Serienkiller-Plot bietet. Sie stellt auch wichtige Fragen zu Rassismus und Identität.

Von Axel Timo Purr

Out of the blue and into the black
You pay for this, but they give you that
– Neil Young, Into the Black

Vor allem für fußbal­laf­fine Deutsche dürften die ersten Minuten der BBC-Netflix-Mini-Serie The Serpent (Die Schlange) ein wenig verstö­rend sein, gleicht doch der im Zentrum stehende stoische Anti-Held, der histo­risch verbürgte und von Tahar Rahim verkör­perte Charles Sobhraj, der Fußball-Legende Günter Netzer auf verblüf­fende Art und Weise. Nicht nur das Äußere in Kombi­na­tion mit der verstei­nerten Mimik und Gestik von Netzer, sondern auch das gleiche Geburts­jahr (1944) und eine eher kontro­verse, ernüch­ternde Haltung gegenüber der Hippie-Ideologie der 1970er Jahre (Netzer: »Am Samstag stehen elf Geschäfts­leute auf dem Platz, von denen jeder seine eigenen Inter­essen vertritt. Sie suchen zusammen den Erfolg.«) verleiten zu völlig uner­war­teten Gedan­ken­spielen. Völlig zu Unrecht natürlich. Denn Netzer hat inzwi­schen auch das Schweizer Bürger­recht, Sobhraj hingegen, viet­na­me­sisch-indischer Herkunft, hat zwar einen fran­zö­si­schen Pass, sitzt aber auch im Jahr 2021 mit inzwi­schen äußerst fragiler Gesund­heit weiterhin in einem nepa­le­si­schen Gefängnis seine lebens­lange Strafe ab.

Eine Strafe, die umso seltsamer anmutet, als Sobhraj sie durchaus hätte vermeiden können. Warum, wieso, weshalb, davon haben bereits die Sach­bücher »Serpen­tine« von Thomas Thompson (1979), Richard Nevilles und Julie Clarkes »The Life and Crimes of Charles Sobhraj« (1980) und Noel Barbers Kapitel »The Bikini Murders« im Reader’s Digest »Great Cases of Interpol« (1982) erzählt. Dementspre­chend sehen sich auch die filmi­schen Auskop­pe­lungen des Sach­buch­ma­te­rials an, die sich zum einen auf Nevilles und Clarkes Fakten (Shadow of the Cobra, 1989) beziehen, zum anderen mit Bollywood-Mitteln aus der indischen Perspek­tive erzählen (Main Aur Charles, 2015).

Die von Richard Warlow und Toby Finlay geschrie­bene und von Tom Shankland und Hans Herbots in Szene gesetzte Serie geht über diese Ansätze weit hinaus. Sie hat als Serie natürlich auch mehr Zeit. Sie kann sich sowohl auf Sobhraj konzen­trieren als auch auf die Vertrauten an seiner Seite, im Beson­deren auf die Franco-Kana­dierin Marie-Andrée Leclerc (Jenna Coleman) und den Inder Ajay Chowdhury (Amesh Edire­weera), die Sobhraj bei seinen Morden an Hippies und/oder Back­pa­ckern in Indien, Nepal und Thailand zur Seite standen.

Diese Morde stehen vor allem in den ersten vier Folgen im Mittel­punkt, in denen die Serie immer wieder auch mit doku­men­ta­ri­schen Aufnahmen aus den 1970er den Hippie-Trail, die Über­land­route nach Asien, doku­men­tiert. Wir sehen Bilder aus einer anderen Zeit, einer Zeit, in der Afgha­ni­stan nicht für seine Kriege, sondern für die preis­werten Drogen in hervor­ra­gender Qualität und seine atem­be­rau­benden Land­schaften bekannt war. In Thailand, in der ein Großteil von Die Schlange spielt und wo auch bis Pande­mie­be­ginn on-location gedreht wurde, sind 1975 die Nachwehen des Viet­nam­kriegs – jeden­falls in dieser Serie – nur in Ansätzen zu spüren. Vielmehr konzen­triert sich der Blick der Dreh­buch­au­toren auf das koloniale Nachspiel dieses Krieges in der Person von Sobhraj, der als Misch­lings-Kind (»A half cast boy«) aus Saigon und später in Paris immer wieder rassis­ti­schen Attacken ausge­setzt ist und verzwei­felt nach seiner Identität sucht. Als Kind eines Inders und einer Viet­na­mesin und später eines fran­zö­si­schen Stief­va­ters ist Identität für ihn noch einmal mehr ein fast schon hoff­nungs­loses Unter­fangen, was seinen Hass auf Hippies zusätz­lich nährt, schmeißen die Hippies doch ihre in die Wiege gelegten natio­nalen Iden­ti­täten nicht nur weg, sondern eignen sie sich im Drogen­rausch gleich eine neue an: »Stupid fucking Hippies! They travel only to acquire. It’s another form of impe­ria­lism.«

Diese so private wie ideo­lo­gi­sche Kritik mag dann auch der mora­li­sche Trigger gewesen sein, der Sobhraj dazu bewog, das Leben, das auch Günter Netzer so liebte (teure Autos, tolle Frauen), mit den Geldern und Ausweisen toter Hippies zu finan­zieren. Mit seinen Komplizen Marie-Andrée und Ajay gelang es ihm darüber hinaus, einen Edel­stein­handel zu etablieren und über die noch gültigen Visa in den mit eigenen Fotos gefälschten Ausweisen der Toten eine rege Reise­tä­tig­keit zu entwi­ckeln. Erst mit dem Tod eines hollän­di­schen Paares gerät das Trio dem hollän­di­schen Botschafts­mit­ar­beiter Herman Knip­pen­berg (Billy Howle) und seiner Frau Angela Knip­pen­berg (Ellie Bamber) ins Visier, die sich mit Hilfe eines ebenfalls Verdacht schöp­fenden fran­zö­si­schen Paares gegen eine träge und unter­fi­nan­zierte Polizei und die völlig desin­ter­es­sierte und dünkel­hafte Botschaf­ter­szene durch­zu­setzen versuchen.

Konzen­triert sich der erste Teil auf diese Entwick­lungen und baut sie konse­quent mit klas­si­schen Thriller-Motiven und einem bis in die kleinsten Neben­rollen hervor­ra­gend besetzten Ensemble aus, werden in den letzten drei der acht knapp eins­tün­digen Folgen die Fragen nach Identität und die Auswir­kungen eines lebens­lang erfah­renen Rassismus immer präsenter. Obwohl auch hier einige Passagen von Sobhrajs (realem) Leben fehlen bzw. der Drama­turgie wegen geopfert oder verändert werden (etwa die Rolle von Shobrajs Bruder oder seiner ersten Frau), zeigen sich aber gerade hier die Vorteile des Formats Serie. Würde ein normaler Langfilm es beim Porträt des Mörders als schöner Mann belassen müssen oder sich nur auf dessen Jugend konzen­trieren können, kann die Serie weitere Erzähl­li­nien einflechten und sogar noch mal Tempo und Stil variieren, wird im Fall von Die Schlange der Vergan­gen­heit und den psycho­gram­ma­ti­schen Hinter­gründen nun mehr Raum gegeben.

Anders als in den ersten Folgen, in denen mit stro­bo­sko­par­tigen Brüchen der linearen Erzähl­zeit expe­ri­men­tiert wird, manchmal im Minu­ten­takt Rück- und Voraus­blenden ange­strengt werden, um die Spannung zu erhöhen, wird sowohl das Coming-of-Age von Sobhraj als seine späten Jahre in ruhigeren, längeren Abschnitten erzählt. Erhalten auch die Neben­fi­guren deutlich mehr Kontu­rie­rung und werden die stark hier­ar­chi­schen Bezie­hungs­mo­delle und psychi­schen Abhän­gig­keiten auf ihre Taug­lich­keit überprüft. Dieser Wechsel vom »rockenden« Seri­en­mörder zum Mann mit Charakter, vom action- und span­nungs­ge­trie­benen »Urlaubs­film« zum ernst­zu­neh­menden Gesell­schafts­por­trät bietet dem Betrachter dann auch endlich die dringend notwen­digen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mö­g­lich­keiten, so dass am Ende sowohl Sobhraj als auch der fast ebenso besessene Knip­pen­berg zu komplexen Persön­lich­keiten werden und ein wenig so wie in Michael Manns Heat Jäger wie Gejagter, Böse wie Gut zu einem glei­cher­maßen akzep­tierten Code mensch­li­chen Seins werden.

Diese Rela­ti­vie­rung der Moral ist jedoch alles andere als eine Selig­spre­chung, passiert sie doch dediziert vor den mal mehr oder weniger zugäng­li­chen Chiffren einer Welt, in der jeder auf jeden, der ein wenig dunklere Hautfarbe hat, hinab­blickt und am Ende nicht nur Marie-Andrée Stig­ma­ti­sie­rungen gegenüber Sobhraj verfällt, sondern auch Sobhraj seinen Freund und Komplizen Ajay als »little brown thug« bezeichnet, um ihn zu »entsorgen« und gleich­zeitig damit das tut, was wir aus jüngeren Iden­ti­täts­ro­manen wie Mithu M. Sanyals Identitti, Charles Yus Interior Chinatown oder Ocean Vuongs On Earth We’re Briefly Gorgeous so gut kennen: der herr­schenden (weißen) Moral immer ein Stück voraus sein zu müssen, um dann doch nicht der bessere Mensch (Weiße) sein zu dürfen.

Immerhin begehrt Sobhraj am Ende gerade wegen dieser nicht erfüll­baren Sehnsucht noch ein letztes Mal auf, um zwar zu scheitern, aber immerhin Neil Youngs 1979 (kurz bevor der Hippie-Trail durch die Invasion der UdSSR in Afgha­ni­stan aufhörte zu exis­tieren) veröf­fent­lichtem Spät-Hippie-Punk-Song Into the Black fast schon ironisch nach­zu­ei­fern: »It’s better to burn out than to fade away«.

Das macht Sinn.

Im Film aller­dings wohl mehr als im wirk­li­chen Leben, auch wenn Sobhraj zumindest in den indischen Gefäng­nissen durch sein Edel­stein­ver­mögen ein äußerst bevor­zugtes Leben führen konnte, das wohl besser war als die fran­zö­si­sche Alter­na­tive – als Asiate in einem Pariser Gefängnis allein wegen seiner Herkunft zu landen. Ungeklärt bleibt leider, ob sich Sobhraj wie Günter Netzer aus finan­zi­ellen Gründen ebenfalls irgend­wann für die Schweiz entschieden hätte, wäre er in Mönchen­glad­bach und nicht in Saigon geboren worden.

Die Schlange ist seit dem 2. April 2021 auf Netflix abrufbar.