Wovon träumt die Wirklichkeit? |
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Faya Dayi: ein Bild für das Licht des Tages | ||
(Foto: @ Visions du Réel 2021) |
Von Dunja Bialas
Es geht wieder um die Wirklichkeit. Seit Lovemobil steht die puristische Forderung an den Dokumentarfilm im Raum, die Wirklichkeit und nichts als die Wirklichkeit zu zeigen. Das aber war – jenseits von ungekennzeichneten Inszenierungen wie in Lovemobil – schon länger für den sogenannten künstlerischen Dokumentarfilm nicht mehr zwingend. Eine Entwicklung, die Anja Reschke, NDR-Programmleiterin für Kultur und Dokumentation, in der hauseigenen Talkrunde »Zapp« zum Lovemobil-Fall nach Luft schnappen ließ. Offensichtlich hatte sie davon noch nichts mitbekommen.
Zu beobachten ist vielmehr schon seit mehreren Jahrzehnten, dass sich im Dokumentarfilm neben Filmen von Meisterbeobachtern wie Frederick Wiseman die Sparte der starken Protagonisten entwickelt. Es sind Filme, die die Wirklichkeit wie eine Geschichte wirken lassen, die uns wie in einer gelungenen Fiktion illusorisch umfangen und eins werden lassen mit der gefilmten Welt. Das Geheimnis für die Kraft der Illusion ist der oder die starke Protagonistin. Der starke Protagonist ist das Vehikel der fiktiven oder eben auch wahren Geschichte. Die Wirklichkeit wird in diesen Dokumentarfilmen auf »Geschichten« heruntergebrochen, so wie wir es selbst auch kennen, wenn wir über unser Leben erzählen: in Geschichten. Die wahr sind, oder auch angereichert sein können von unseren Wünschen, Interpretationen, (falschen) Erinnerungen oder Träumen.
Wenn man akzeptiert, dass von der Wirklichkeit nur in Verschiebungen erzählt werden kann, kann man in die reichsten und schönsten Sphären des Dokumentarischen eintauchen. Dann entfaltet der Dokumentarfilm seine ganze Kraft, und sogar seine Überlegenheit über den Spielfilm. Denn nichts ist so spannend wie die Wirklichkeit, und keine Geschichte so wahr wie die, die das Leben schrieb.
Das Filmfestival von Nyon heißt »Visions du Réel«, deutsch etwa »Ansichten von der Wirklichkeit«, im Titel schwingen aber auch die »Wirklichkeitsvisionen«, also die imaginäre Sphäre des Wirklichen mit. Das Festival von Nyon wurde 1969 von Moritz de Hadeln, dem späteren Festivalleiter von Locarno, Berlin, Venedig und Montréal, gegründet. Wichtig wurde der Nachfolger Jean Perret. Er kam 1995 von der Semaine de la Critique Locarno nach Nyon, prägte das Festival in seiner heutigen Ausrichtung und verpasste ihm vor allem auch seinen visionären – und von dokumentarischen Zwängen befreienden – Namen.
In dem kleinen Schweizer Ort am Genfer See ist »Nyon« das drittälteste Dokumentarfilmfestival und gilt wegen seiner künstlerischen Ausrichtung als internationales Mekka. Hier wird die filmische Form in den Vordergrund gerückt, nicht zuerst das Thema, das zweifellos all die in Nyon gezeigten Filme haben.
Auch unter der künstlerischen Leitung von Émilie Bujès (seit 2018) treffen sich in Nyon Filme und Filmemacher, die im politischen Dokumentarfilm vor allem eine künstlerische Herausforderung sehen. Und dieses Jahr war das reale Treffen wieder möglich: »Visions du Réel« profitierte von der Schweizer Politik, trotz relativ hoher Corona-Inzidenzzahl die Kultur zu öffnen, und spielte ab dem 22. April im Kino. Auch das eine Vision unserer derzeitigen Wirklichkeit: Filme wieder auf der großen Leinwand sehen. Nicht nur allein und abgelenkt von eintreffenden Mails, sondern konzentriert und gebannt von der Illusion des anderen Lebens.
Die Vorstellung, dass sich in Nyon die Kinosäle wieder mit Dokumentarfilmbesessenen füllen würden, konnte bei der Sichtung am heimischen Laptop trösten. Die Filme waren insgesamt alle sehr bilderstark, auf der Leinwand würde sich das große Kino entfalten, die Kraft der starken Erzählungen. Dokumentarfilme, die auch imaginäre Welten entstehen lassen.
Faya Dayi, der den Grand Prix von Nyon und den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik gewann, ist so ein Film. Regisseurin Jessica Beshir hat ihr Langfilmdebüt in ihrer äthiopischen Heimat am Lake Haramaya gedreht. Die Harari-Region ist bekannt für ihre riesigen Felder, auf denen Khat angebaut wird, eine haschischähnliche Droge, die in den Sufi-Ritualen ihren festen Platz hat. Beshir filmt in Schwarzweiß, das wirkt elegisch, die Landschaft liegt schwer und träge unter den Schattenwürfen der Sonne. Der Lake Haramaya ist darin nicht mehr als eine riesige Schlammpfütze, in der die Jugendlichen planschen oder sich auf dem trüben Wasser treiben lassen, wie in Barry Jenkins Coming-of-Age-Saga Moonlight. Einer von ihnen ist Mohammed, sein Vater ist Khat-süchtig, seine Mutter hat Äthiopien über das Meer in Richtung Saudi-Arabien verlassen, er will ihr folgen. Auch er arbeitet mit den Khat-Bauern, oft sieht man ihn an der Mauer eines Lehmhauses gelehnt, apathisch, wie im Schlaf. Oder wie ein Zombie, nicht ganz da, wie aus einer anderen Sphäre. Hat ihn das Khat schon im Griff?
Beshir inszeniert. Neben dokumentarischen Aufnahmen von der Khat-Ernte – die Qualität der Blätter wird getestet, Zweige werden zu Bündeln und Ballen geschnürt, in Folie verpackt und verladen – lässt Beshir eine imaginäre Erzählung vom Leben der Menschen entstehen. Die Harari-Region ist von Migration geprägt. Auch die Eltern der Filmemacherin verließen die Heimat und gingen nach Mexiko. In den USA hat Beshir dann Film studiert, ist zum Filmen aber immer in ihre Heimat zurückgekehrt. Diese zeigt sie zwar leicht, aber niemals leichtfertig überhöht. Beshir erzählt von Harari als einer Art Traum, oder Trance. Sie inzeniert unumwunden eine Vision der Menschen, wie sie sie sieht, nicht wie sie wirklich sind. Das kann man ein verzerrtes Heimatbild nennen, noch dazu legt sich darüber als Erzählspur aus dem Off die »Legende von Azurkherlaini«. Diese durchzieht und trägt den Film, enthebt ihn der realen Sphäre, verlagert ins Mythische. Wie ein heiliger Gral sucht Azurkherlaini das Moul Hayt, das Wasser des ewigen Lebens. Wer es als klares Wasser trinkt, wird zum Licht des Tages. Wer es als schlammiges Wasser trinkt, wird zur Dunkelheit der Nacht. Als dann Azurkherlaini, so etwas wie der Legendenheilige der Region, Moul Hayt findet, ist es ausgetrocknet. Er beginnt zu beten, und Gott lässt für ihn das Khat wachsen.
Faya Dayi ist ein Film der großen Landschaftsaufnahmen, der ewigen Sonne, der armen, aber schönen Menschen. Er erzählt wenig von den realen Hintergründen des Khat-Anbaus, das alles lässt sich auf Wikipedia nachlesen. Ist das verwerflich: Keine Texttafel, die einem die soziale Brisanz des Dokumentierten erläutert? Faya Dayi lässt ein Gefühl entstehen, eines Zustands, eines Lebens, der Ausweglosigkeit. Den Protagonisten wird dabei Schönheit und Mystik verliehen, und das überlässt ihnen die Würde von starken Protagonisten, von Akteuren in ihrem Leben, vielleicht mehr als ein »puristischer« Dokumentarfilm. Der narrative Taktgeber, die Legende, ist in Faya Dayi ein deutliches Zeichen für die Fiktionalisierung des Dokumentierten. In diesem Film, der fast traumhaft vom Dokumentarischen ins Fiktionale hinübergleitet, spielen die Menschen ihre eigene traumwandelnde Imago.
Auch Holgut der Belgierin Liesbeth De Ceulaer (internationaler Wettbewerb) befindet sich in diesem Zwischenreich von Fiktion und Dokumentation. Der Film, der in Nyon Weltpremiere zusammen mit dem wichtigen CPH:Dox-Festival feierte (was von einer interessanten Offenheit beider Festivals zeugt), spielt in der sibirischen Tundra. Ein Vater weiht seinen Sohn in die Geheimnisse der Jagd ein, Ziel ist das wilde Rentier – das sie aber nicht finden können. Stattdessen stoßen sie auf eine neue Sorte Goldgräber, die im allmählich auftauenden Permafrost nach alten Mammut-Knochen und –Stoßzähnen suchen, um sie zu Geld zu machen. Das Treiben der Männer ist dysphorischer Science-Fiction, diese Mammut-Funde gibt es nicht, sie könnte es aber geben. Überhöht wird auch hier alles von einer mystifizierenden Legende. (In München demnächst auf dem DOK.fest zu sehen.)
Eine ganz persönliche Suche erzählt der meisterliche marokkanische Dokumentarfilm The Postcard der Regisseurin Asmae El Moudir. Asmae El Moudir kommt vom »Higher Institute of Audiovisual and Cinema Crafts« in Rabat, einer renommierten Filmhochschule, die es seit 2012 gibt. The Postcard ist ein nahezu perfekter Film. Er erzählt die persönliche Reise der Filmemacherin an den Heimatort ihrer Mutter, an dem sie noch nie war, das kleine abgelegene Dorf Zawia in den marokkanischen Bergen kennt sie nur von einer Postkarte. Die Reise nach ihren Wurzeln führt sie zu der immer guten Frage »Was wäre, wenn?«. Wenn ihre Mutter den Ort, an dem die Zeit stehengeblieben ist, nicht verlassen hätte? Sie selbst dort groß geworden wäre? El Moudir projiziert ihre mögliche Geschichte in die Mädchen von Zawia, die sie als kleine Asmae sieht, und in die im Cinemascope gefilmte postkartenwürdige Landschaft. The Postcard ist ein lupenreiner Dokumentarfilm, der jedoch durch die Überlegungen der Filmemacherin aus dem Off in imaginäre Sphäre hineingleitet.
Nyon hat auch kurze und mittellange Dokumentarfilme im Programm, ebenfalls eine sehr lohnenswerte Sektion. Zum Beispiel dort der argentinische Diarios del margen. Notas sobre el miedo al fuego y el agua von Ileana Dell'Unti. Wie der Titel sagt, ist der Film ein Tagebuch, diesmal ein stummes, in dem sich die Notizen der Regisseurin wie Untertitel über die Landschaft des Campo del Cielo in Formosa legen. Erzählt wird von einer Rückkehr in einen Landstrich, der von Wasser und Feuer geprägt ist. Wovor die Regisseurin Angst hat. Ein stummes, bildermächtiges und ganz einfaches Geständnis.
Seltsamerweise sind während des Verfassens dieses Berichts die beiden letzten Filme nicht mehr auf der Website von »Visions du Réel« aufzufinden. Vielleicht sind sie mir auf meinem Laptop nur als Ephemere eines nicht wahrhaftigen Zwischenreichs erschienen, um danach wieder für immer zu verschwinden …