Film als subversive Kunst |
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2551.01 – adrenalintreibende Gore-Groteske von Norbert Pfaffenbichler | ||
(Foto: Sixpackfilm) |
Von Dunja Bialas
Die großen Festivals Berlinale und Filmfest München geben sich derzeit größte Mühe, sich zu verkünsteln und als Open-Air-Crowd-Pleaser ihre Bestimmung zu finden. Mariette Rissenbeck und Carlos Chatrian haben zwar ein anspruchsvolles Programm zusammengestellt, setzen jetzt aber doch auf den Eventcharakter. Diana Iljine, die für Glamour zuständige Münchner Leiterin, lädt dieses Jahr gar zur »Beergarden Convention« ein. Die Berliner und Münchner Festivalleiter nehmen dafür billigend Einschränkungen in Kauf, die ihnen Corona nicht eingebrockt hat, denn die Kinos können bereits öffnen. So beginnen alle Vorstellungen gleichzeitig bei Einbruch der Dunkelheit (mit wenigen früheren Abspielmöglichkeiten), Open Air Spaces sind extrem teuer, Leinwände müssen hochgezogen werden, die Technik muss installiert, Liegestühle herangekarrt werden. Man verbiegt sich über Maßen, um sich und anderen zu beweisen: Schaut her, Kultur ist wieder möglich! Dabei könnte das auch ohne viel Tamtam und mit einem echten Bekenntnis zur Kultur über die Bühne gehen – wie Österreich es gerade vormacht.
Im Nachbarland herrschen cineastische Zustände. In Graz findet noch bis zum 13. Juni die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, statt, ein konzentrierter Think Tank über dokumentarische Formen und die Erneuerungen der filmischen Sprachen, das mit zahlreichen Diskussionen zu Kino und Film aufwartet. Die beiden Festivalleiter Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger haben sich letztes Jahr, als das DOK.fest München und die Kurzfilmtage Oberhausen über die neuen Möglichkeiten des Online-Formats schwärmten und die »Zukunft des Kinos« ausriefen, dezidiert dem Kino zugewandt.
Damit stehen sie in Österreich aber nicht alleine da oder sind etwa als Kulturkonservative verschrien, wie es in Deutschland Menschen ergeht, die am Kino festhalten und den Stream nur als behelfsmäßige Krücke verstehen. In Österreich gibt es eine Urbegeisterung am Kino, die das kleine Land zu einer Kaderschmiede der Subversion à la Amos Vogel (»Film as a Subversive Art«) werden ließ. Keine andere deutschsprachige Filmnation feiert mit seinen Filmen so beständig internationale Erfolge wie Österreich. Auch im Line-up von Cannes finden sich in der Sektion »Un Certain Regard« mit Moneyboys von CB Yi und Great Freedom von Sebastian Meise zwei österreichische Produktionen – aber wieder mal keine deutschen.
Auch das erst 2004 von Kinobetreiber Wolfgang Steininger gegründete Crossing Europe in Linz feierte vor wenigen Tagen das Kino – und zwar im Kino. 50 Prozent Saal-Auslastung sind in Österreich möglich, weil das Publikum die drei Gs – getestet, geimpft oder genesen – nachweisen und FFP2-Masken im Kinosaal tragen muss. Im Gegenzug muss nur ein Platz Abstand zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern gehalten werden, keine einzige Reihe bleibt frei. Das ist das in Deutschland vergeblich von den Kinoverbänden geforderte Schachbrettmuster. Man hat so tatsächlich das Gefühl, zusammen mit anderen einen Film zu sehen und nicht wie in einer Hygienekapsel einsame Kinotraurigkeit erleben zu müssen. Die einzige Hürde des Festivalbesuchs war die bis Sonntag immer noch geltende frühe Sperrstunde von 22 Uhr. Wenn man also aus dem Abendfilm rauskam, gab’s keine Erfrischungsgetränke mehr – dafür Speakeasys, in denen man sich mit Dosenbier eindeckte.
Letztes Jahr fiel Crossing Europe komplett aus, dieses Jahr fiel sich die Festivalgemeinde zumindest verbal um den Hals, so glücklich war man über die erste Reise nach dem langen Shutdown. Crossing Europe ging als eines der ersten Festivals in Europa physisch über die Bühne und konnte trotz reduziertem Programm an sechs Tagen knapp 10.000 Filmbegeisterte ins Kino locken. Ein letzter Erfolg für Festivalleiterin Christine Dollhofer, die im Geburtsjahr des Festivals als Intendantin von der Diagonale zum Crossing Europe wechselte und auch den Namen mitbrachte. Sie feierte dieses Jahr ihre letzte Ausgabe. Dollhofer wechselt in die österreichische Filmförderung, und wenn man sich die diesjährige Programmauswahl des Festivals vor Augen führt, kann man nur sagen: Wahrlich, in Österreich herrschen paradiesische Zustände. Zumindest, was den Film und das Kino anbelangt. Der Blick in die »Local Artists«-Reihe ließ staunen.
Weil das so ist, war auch eine der attraktiven Reihen die mit den anderswo immer mit Vorsicht zu genießenden Local Artists. Ein wuchtiges Experimentalfilm-Double-Feature sah man mit Siegfried A. Fruhauf und Norbert Pfaffenbichler. Fruhaufs Dissolution Prologue (Extended Version) ist ein absoluter Film, fast »Film without Film« der nur mit den puren Mitteln des Kinos arbeitet, eine filmische Einlassung über Be- und Entgrenzungen, die das Öffnen und Schließen – zwei wesentliche Merkmale der analogen Filmbelichtung – inszeniert. Wie der Cache der Filmbühne, die das analoge Filmmaterial bei der Projektion transportiert – zieht sich bei Fruhauf das auf die Leinwand projizierte Bild auf und zu, im Wechsel von Weiß (belichtet) zu Schwarz (unbelichtet), während auf der Tonspur Sinustöne an- und abschwellen. Das wird auf einer symbolischen Ebene verhandelt, Fruhauf hat für seine Meditation über die Erweiterung unterschiedlich strukturiertes Papier, das ihm die gewünschte Textur bot, auf 16mm-Film gefilmt. Zur Hälfte des Films öffnet sich der physische Cache im Kinosaal vom Academy-Format auf das Querformat 16:9, und die neu entstehenden seitlichen Flächen füllen sich mit dem digitalen Licht-Beam. Für ihn seien analog und digital keine Gegensätze oder gar Widersprüche, erklärt Fruhauf nach der Projektion seinen Film, der in Linz seine Kinopremiere erlebte.
Und dann kam 2551.01. Diesen Absatz muss man mit einem anhebenden »Und« beginnen, denn was folgte, war mit Abstand die aufwühlendste und grässlichste Horror-Gore-Groteske, die man sich nur ausdenken kann. Der für seine streng-strukturellen Filme bekannte Film-Avantgardist Norbert Pfaffenbichler leitet mit seiner barocken Film-Apokalypse eine neue, narrative und dennoch auch serielle Werksphase ein – die sich auch schon in seinem früheren Werk wie mit A Messenger From The Shadows (Notes on Film 06 A/Monologue 01) (2013) über die Horror-Stummfilmikone Lon Chaney angekündigt hatte.
Pfaffenbichler inszeniert einen Stummfilm in Schwarzweiß, der sich Charlie Chaplins The Kid vornimmt und dorthin geht, wo Fritz Langs Metropolis wegsieht: zum Lumpenproletariat, im wahrsten Sinne. Die Gestalten in 2551.01 (der numerische Titel ist ein für Pfaffenbichler typischer Spleen) sind Kreaturen, apokalyptische Überbietungen von Tod Brownings Freaks. Sie hausen im Untergrund, haben vor dem Zugriff der despotischen Macht Zuflucht in einem verschachtelten Kanalsystem gefunden. Alles ist dreckig, kahl, kalt, abgeranzt, aber mehr noch sind die Menschen nicht nur in Lumpen »gekleidet«, ihre Körper zerfallen geradezu in Fetzen. Sie sind geflüchtete Opfer von Augenamputationen, die die Herrschaftsriege für Versuchszwecke vornimmt. Ihre entstellten Gesichter verbergen sie hinter Masken, und wenn es mal etwas zu essen gibt, dann ist es eine schleimige Suppe aus Fingern, Zungen, Penissen, Gebärmüttern, Embryonen und anderen, höchsten Ekel hervorrufenden menschlichen Körperteilen.
Der Film ist lupenreiner Gore, der auf die Abstoßung setzt und den menschlichen Geist in eine wilde Geisterbahnfahrt versetzt, bei der man sich am liebsten die Augen (!) zuhalten würde, sie aber mit begeistertem Schrecken aufreißt, weil die Schauwerte des Hässlichen und Ekelhaften einfach nur phänomenal sind.
Pfaffenbichler hat für den Film auf seine private Maskensammlung zurückgegriffen, den Film selbst wie eine Serie angelegt – 2551.01 ist die erste Episode, übertitelt mit »The Kid«. Mit seinem alle Sinne herausfordernden Werk hat er den eindringlichsten und durch das freigesetzte Adrenalin euphorisierendsten Film des diesjährigen Crossing Europe vorgelegt, und bekam prompt den »Local Artists«-Preis, eine für deutsche Verhältnisse undenkbare Kombination. Einen Plot, der durch die verschiedenen Stationen dieser Vorhölle geht, hat der Film natürlich auch, mit Cliffhanger. Wir fürchten uns jetzt schon mit Vorfreude vor der Episode 2: »Orgy of the Damned«.
Wieder den Ruhepuls spüren konnte man bei Bernhard Sallmanns Über Deutschland. In Linz gebürtig, lebt Sallmann seit langem in Berlin. Er hat sich dem schwierigen Genre der von Straub/Huillet tradierten Sprech- und Kunstfilme verschrieben, während die starren Einstellungen seiner unbewegten Kamera auf die meist panoramatische Landschaft an die Filme von James Benning erinnern. Sallmann ist ein literarischer Perlentaucher, der bekannte oder unbekannte Texte in ruhigen Filmbetrachtungen zu inszenieren weiß und ihnen so neues Leben und Aktualität gibt.
Nach seinem vierteiligen Werkzyklus zu Theodor Fontane (2016-2019) hat sich Sallmann nun in Über Deutschland den Tagebuchaufzeichnungen der russischen Dichterin Marina Zwetajewa zugewandt. Diese schrieb sie, als sie mit 17 Jahren nach Dresden kam. Sallmann lässt Zwetajewa unvermittelt in der malerischen Stadt an der Elbe auftauchen, als wäre sie mit dem Ufo gelandet, er vermeidet die Dichterbiographie und das Bildungsfernsehen. Zwetajewa beschreibt sich selbst als Fremde, die wundersamerweise Stöckelschuhe trägt, während die Einheimischen »mit Sandalen geboren« zu sein scheinen. Ihr romantisch eingefärbter Blick auf das Deutschland von 1919 gibt komische und erhabene Einsichten: da ist die Kette der Eifersucht unter den Dichtern und Denkern (»nur Goethe war auf niemanden eifersüchtig«), die skurillen und bodenständigen Eigenheiten der Deutschen, das frühe Europa, der gerade zu Ende gegangene Krieg, aber auch die Phase des Coming of Age der jungen, gerade erst aufstrebenden Dichterin.
Judica Albrecht spricht die Texte, wie auch schon in Sallmanns Fontane-Filmen. Zum ersten Mal jedoch versteckt sie sich nicht im Off. Wir sehen sie im Bild, während sie auswendig die literarischen Texte von Zwetajewa vorträgt, ein sprechender Körper in den von erhöhter Position gefilmten Landschaften – »über Deutschland«, das ist auch ganz buchstäblich gemeint. Im Hintergrund sieht man oft die Elbe fließen, und die malerische Silhouette des landschaftlichen Weltkulturerbes.
Über Deutschland ist ein ruhiger, nachdenklicher und besonnener Film, der den Puls absenkt, und der es als Film zwischen den Sparten Kino und Literatur leider auch ein wenig schwer hat. Wer sich jedoch auf die sprachlich virtuosen Einsichten und inneren Einkehrungen von Zwetajewa einlässt, wer sich dem Klangkörper von Albrechts Stimme anvertraut, wer die entschleunigende Zeitreise sucht, der wird mit Sallmanns Film reich belohnt. Alles Bodenständige fällt schon im Kinosaal ab, freigestetzt wird das Serotonin, das Wohlfühlhormon, das uns im Sessel schweben lässt.