Kino als Reibungsfläche |
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»Die Fiktion ist mein Zuhause.« | ||
(Foto: eksystent) |
Von Jens Balkenborg
»Ich habe das Gefühl, dass das Kino genau dafür da ist: Formen und Erzählungen in Frage zu stellen.«
– Sandra Wollner
Immer, wenn ganz selbstverständliche Dinge plötzlich verschwinden, geht es los: das große Erinnern, das sehnsüchtige Sich-daran-Abarbeiten, was diese Dinge ausmacht. So geschehen im letzten Jahr auch mit dem Kino, das nun endlich, begleitet von hoffentlich allen medialen Pauken und Trompeten, zurückkehrt.
Was also macht das Kino aus? Der Antwort, die Regisseurin Sandra Wollner im Video-Interview gibt, möchte man beipflichten: Entgegen jenes »narrativen Denkens«, dem sich die Flut an Filmen und Serien der Streamer verschrieben zu haben scheint – darunter natürlich auch großartige –, sei das Kino der Ort für »formale Auseinandersetzungen«: »Große Fragen lassen sich besser in einer Form abarbeiten, weil dadurch Reibung entsteht. Ich habe das Gefühl, dass das Kino genau dafür da ist: Formen und Erzählungen in Frage zu stellen«, so Wollner, die aus dem Haus ihres Bruders im österreichischen Gloggnitz zugeschaltet ist.
Diesem Anspruch wird die in Berlin lebende, 1983 in Leoben in der österreichischen Steiermark geborene Regisseurin mehr als gerecht. Davon dürfen sich die geneigten Kinobesucher:innen bereits in den ersten Sekunden ihres zweiten Spielfilms, The Trouble with Being Born, der in dieser Woche zum Kino-Neustart anläuft, überzeugen: Undefinierbare Stimmen sind zu hören, ein mechanisches Fiepsen, das von zirpenden Grillen abgelöst wird. Aus einem Wabern heraus schält sich die Dunkelheit eines Waldes, Gewusel aus Licht und Schatten, beinahe haptisch, betörend, beängstigend. Die Kamera (großartig: Timm Kröger), eine eigenständige Instanz in diesem verstörenden, in alle Richtungen offenen Film, gleitet durch den Raum, vorwärts, seitwärts.
Wollner erzählt in The Trouble with being born, der in der Berlinale Sektion Encounters den Spezialpreis der Jury erhielt, von einem Androiden-Mädchen, das den Menschen als Projektionsfläche für Erinnerungen und familiäre Perversionen dient: einem Vater als künstliche Ersatztochter und Lustobjekt, »Du riechst wie immer, nach Zigaretten und Sonnencreme«, spult das Mädchen mit dem zu glatten Gesicht immer wieder ab; und einer alten Frau als ihr vor 60 Jahren verstorbener Bruder. In diesem Film, den die Regisseurin im Gespräch als »eine Art Anti-Pinocchio« bezeichnet, werden Fragen gestellt wie: Was macht den Mensch menschlich und was bedeuten Familie und Erinnerungen? Letzteres ist eins der Kernthemen, an denen sich Wollner abarbeitet. »Offenbar habe ich einen Fetisch für Erinnerungen« lächelt die Regisseurin in die Kamera.
Während sie an einem Drehbuch über ein Mädchen schrieb, »den letzten Sommer einer Kindheit, den Tod«, habe sie die Sehnsucht dieser Figur nach einer Einfachheit gespürt. »Einfach sein, was bedeutet das? Ich hatte das Bedürfnis, aus der menschlichen Perspektive auszusteigen, und eine Art constant Now zu betreten.« Ihr Co-Autor Roderick Warich hat unabhängig davon an einem Film über einen kindlichen Roboter gearbeitet. Aus einer Fusion ist schließlich die Idee entstanden, den Film aus der Perspektive eines Androiden zu drehen. Darin steckt ein Potential, das Wollner interessiert: der Wunsch, »die Welt durch die Augen eines Gegenstandes zu betrachten«. The Trouble with Being Born ist eine kinematografische Suche nach etwas jenseits der unmittelbaren Lebensrealität – eine Suche, der sich die Regisseurin mit weiteren Kolleg:innen im Kollektiv »Funeral Casino« widmet.
In ihren Filmen spielt Wollner mit unserer Wahrnehmung. Was bedeutet Realität und was genau ist das eigentlich, was das Kameraauge einfängt? Ihrem ersten Spielfilm, Das unmögliche Bild, der in Hof mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet wurde und den Preis der Deutschen Filmkritik als bester Spielfilm erhielt, sind diese Reflexionen formal eingeschrieben: Gefilmt auf 16mm Material, wirkt der Film, als sei er ein Homevideo aus den 1950er Jahren. Der Vater stirbt, fällt vor der Kamera einfach um, die Tochter, die mit der Mutter und der Schwester zur Großmutter zieht, übernimmt seine Kamera und hält das Treiben in den holzvertäfelten und zigarettenqualm-geschwängerten vier Wänden fest: Familienfeste, jungen Frauen in der Küche, viele Kippen und Schnaps. Langsam schält sich eine Narration um Engelmacherinnen heraus aus diesem Film, der das pseudodokumentarische nutzt, um das Bild in Frage zu stellen. Wer filmt hier eigentlich und wie verlässlich sind die Bilder als Erinnerungsspeicher? »So war’s halt, oder, wie man sagt: So wird’s gewesen sein«, heißt es einmal aus dem Off.
Wollner erklärt, Das unmögliche Bild sei ein »Befreiungsschlag« gewesen aus den Restriktionen des Dokumentarfilms, dem sie sich zunächst verschrieben hatte. Der Film entstand während ihres Studiums der Dokumentarfilmregie an der Filmakademie Baden-Württemberg, das die Regisseurin und Drehbuchautorin nach einem nicht beendeten Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften und verschiedenen Jobs als Editorin für Werbefilme, Nachrichten und Tätigkeiten in der Postproduktion begonnen hat. Mit The Trouble with Being Born schloss sie das Studium ab.
»Ich kam hungrig ins Studium«, sagt Wollner. Ludwigsburg sei eine »Spielwiese« gewesen, auf der man auch im dokumentarischen Bereich alles machen durfte und dafür alles bekam, was man braucht. Dennoch sei sie mit ihren formalen Ansprüchen schnell an Grenzen gestoßen. Auch wenn der Dokumentarfilm kein »Menschenfresser« sei, so bestehe doch eine Bürde darin, einer Person gerecht werden zu müssen. Es gehe immer wieder um die alte Frage: »Was darf der Dokumentarfilm?« Durch den Skandal um die nicht kenntlich gemachten Inszenierungen in Elke Lehrenkrauss’ Lovemobil hat es diese Frage erst im März in gefühlt alle deutschsprachigen Medien geschafft (umfangreiche »artechock«-Debatte dazu hier).
Wollner hat sich gar nicht erst auf solches Glatteis begeben. »Ich liebe es aus Menschen zu schöpfen, aber meine eigenen formalen Ansätze sind zu viel für echte Menschen. Deswegen war klar, dass die Fiktion mein Zuhause ist.« Bei der Regisseurin wird die Kamera zu einem Instrument, das uns durch andere Augen auf Welten blicken lässt, die viel erzählen über uns selbst: das Kino als Assoziationsmaschine, als formal zugespitzte, audiovisuelle Reibungsfläche, selbstreflexiv, technik- und bildkritisch. »Was ist die Verantwortung des Mediums, was kann es« fragt die Regisseurin in die Kamera. Wer sich in dieser Woche ins schwarze Dunkel des lange vermissten und dennoch nicht vergessenen Kinosaals begibt, um The Trouble with Being Born zu schauen, wird sehen: das Kino von Sandra Wollner kann sehr viel.