28.06.2021

Kino als Reibungsfläche

The Trouble with Being Born
»Die Fiktion ist mein Zuhause.«
(Foto: eksystent)

Regisseurin Sandra Wollner stellt mit formalem Eigensinn unsere Wahrnehmung und klassische Erzählmodi auf den Kopf. Ihr zweiter Film, The Trouble with Being Born, wurde in der Berlinale Sektion Encounters mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Ein Portrait

Von Jens Balkenborg

»Ich habe das Gefühl, dass das Kino genau dafür da ist: Formen und Erzäh­lungen in Frage zu stellen.«

– Sandra Wollner

Immer, wenn ganz selbst­ver­s­tänd­liche Dinge plötzlich verschwinden, geht es los: das große Erinnern, das sehn­süch­tige Sich-daran-Abar­beiten, was diese Dinge ausmacht. So geschehen im letzten Jahr auch mit dem Kino, das nun endlich, begleitet von hoffent­lich allen medialen Pauken und Trompeten, zurück­kehrt.

Was also macht das Kino aus? Der Antwort, die Regis­seurin Sandra Wollner im Video-Interview gibt, möchte man beipflichten: Entgegen jenes »narra­tiven Denkens«, dem sich die Flut an Filmen und Serien der Streamer verschrieben zu haben scheint – darunter natürlich auch groß­ar­tige –, sei das Kino der Ort für »formale Ausein­an­der­set­zungen«: »Große Fragen lassen sich besser in einer Form abar­beiten, weil dadurch Reibung entsteht. Ich habe das Gefühl, dass das Kino genau dafür da ist: Formen und Erzäh­lungen in Frage zu stellen«, so Wollner, die aus dem Haus ihres Bruders im öster­rei­chi­schen Gloggnitz zuge­schaltet ist.

Diesem Anspruch wird die in Berlin lebende, 1983 in Leoben in der öster­rei­chi­schen Stei­er­mark geborene Regis­seurin mehr als gerecht. Davon dürfen sich die geneigten Kino­be­su­cher:innen bereits in den ersten Sekunden ihres zweiten Spiel­films, The Trouble with Being Born, der in dieser Woche zum Kino-Neustart anläuft, über­zeugen: Unde­fi­nier­bare Stimmen sind zu hören, ein mecha­ni­sches Fiepsen, das von zirpenden Grillen abgelöst wird. Aus einem Wabern heraus schält sich die Dunkel­heit eines Waldes, Gewusel aus Licht und Schatten, beinahe haptisch, betörend, beängs­ti­gend. Die Kamera (großartig: Timm Kröger), eine eigen­s­tän­dige Instanz in diesem vers­tö­renden, in alle Rich­tungen offenen Film, gleitet durch den Raum, vorwärts, seitwärts.

Wollner erzählt in The Trouble with being born, der in der Berlinale Sektion Encoun­ters den Spezi­al­preis der Jury erhielt, von einem Androiden-Mädchen, das den Menschen als Projek­ti­ons­fläche für Erin­ne­rungen und familiäre Perver­sionen dient: einem Vater als künst­liche Ersatz­tochter und Lust­ob­jekt, »Du riechst wie immer, nach Ziga­retten und Sonnen­creme«, spult das Mädchen mit dem zu glatten Gesicht immer wieder ab; und einer alten Frau als ihr vor 60 Jahren verstor­bener Bruder. In diesem Film, den die Regis­seurin im Gespräch als »eine Art Anti-Pinocchio« bezeichnet, werden Fragen gestellt wie: Was macht den Mensch mensch­lich und was bedeuten Familie und Erin­ne­rungen? Letzteres ist eins der Kern­themen, an denen sich Wollner abar­beitet. »Offenbar habe ich einen Fetisch für Erin­ne­rungen« lächelt die Regis­seurin in die Kamera.

Während sie an einem Drehbuch über ein Mädchen schrieb, »den letzten Sommer einer Kindheit, den Tod«, habe sie die Sehnsucht dieser Figur nach einer Einfach­heit gespürt. »Einfach sein, was bedeutet das? Ich hatte das Bedürfnis, aus der mensch­li­chen Perspek­tive auszu­steigen, und eine Art constant Now zu betreten.« Ihr Co-Autor Roderick Warich hat unab­hängig davon an einem Film über einen kind­li­chen Roboter gear­beitet. Aus einer Fusion ist schließ­lich die Idee entstanden, den Film aus der Perspek­tive eines Androiden zu drehen. Darin steckt ein Potential, das Wollner inter­es­siert: der Wunsch, »die Welt durch die Augen eines Gegen­standes zu betrachten«. The Trouble with Being Born ist eine kine­ma­to­gra­fi­sche Suche nach etwas jenseits der unmit­tel­baren Lebens­rea­lität – eine Suche, der sich die Regis­seurin mit weiteren Kolleg:innen im Kollektiv »Funeral Casino« widmet.

In ihren Filmen spielt Wollner mit unserer Wahr­neh­mung. Was bedeutet Realität und was genau ist das eigent­lich, was das Kame­ra­auge einfängt? Ihrem ersten Spielfilm, Das unmög­liche Bild, der in Hof mit dem Förder­preis Neues Deutsches Kino ausge­zeichnet wurde und den Preis der Deutschen Film­kritik als bester Spielfilm erhielt, sind diese Refle­xionen formal einge­schrieben: Gefilmt auf 16mm Material, wirkt der Film, als sei er ein Homevideo aus den 1950er Jahren. Der Vater stirbt, fällt vor der Kamera einfach um, die Tochter, die mit der Mutter und der Schwester zur Groß­mutter zieht, übernimmt seine Kamera und hält das Treiben in den holz­ver­tä­felten und ziga­ret­ten­qualm-geschwän­gerten vier Wänden fest: Fami­li­en­feste, jungen Frauen in der Küche, viele Kippen und Schnaps. Langsam schält sich eine Narration um Engel­ma­che­rinnen heraus aus diesem Film, der das pseu­do­do­ku­men­ta­ri­sche nutzt, um das Bild in Frage zu stellen. Wer filmt hier eigent­lich und wie verläss­lich sind die Bilder als Erin­ne­rungs­spei­cher? »So war’s halt, oder, wie man sagt: So wird’s gewesen sein«, heißt es einmal aus dem Off.

Wollner erklärt, Das unmög­liche Bild sei ein »Befrei­ungs­schlag« gewesen aus den Restrik­tionen des Doku­men­tar­films, dem sie sich zunächst verschrieben hatte. Der Film entstand während ihres Studiums der Doku­men­tar­film­regie an der Film­aka­demie Baden-Würt­tem­berg, das die Regis­seurin und Dreh­buch­au­torin nach einem nicht beendeten Studium der Theater-, Film- und Medi­en­wis­sen­schaften und verschie­denen Jobs als Editorin für Werbe­filme, Nach­richten und Tätig­keiten in der Post­pro­duk­tion begonnen hat. Mit The Trouble with Being Born schloss sie das Studium ab.

»Ich kam hungrig ins Studium«, sagt Wollner. Ludwigs­burg sei eine »Spiel­wiese« gewesen, auf der man auch im doku­men­ta­ri­schen Bereich alles machen durfte und dafür alles bekam, was man braucht. Dennoch sei sie mit ihren formalen Ansprüchen schnell an Grenzen gestoßen. Auch wenn der Doku­men­tar­film kein »Menschen­fresser« sei, so bestehe doch eine Bürde darin, einer Person gerecht werden zu müssen. Es gehe immer wieder um die alte Frage: »Was darf der Doku­men­tar­film?« Durch den Skandal um die nicht kenntlich gemachten Insze­nie­rungen in Elke Lehren­krauss’ Lovemobil hat es diese Frage erst im März in gefühlt alle deutsch­spra­chigen Medien geschafft (umfang­reiche »artechock«-Debatte dazu hier).

Wollner hat sich gar nicht erst auf solches Glatteis begeben. »Ich liebe es aus Menschen zu schöpfen, aber meine eigenen formalen Ansätze sind zu viel für echte Menschen. Deswegen war klar, dass die Fiktion mein Zuhause ist.« Bei der Regis­seurin wird die Kamera zu einem Instru­ment, das uns durch andere Augen auf Welten blicken lässt, die viel erzählen über uns selbst: das Kino als Asso­zia­ti­ons­ma­schine, als formal zuge­spitzte, audio­vi­su­elle Reibungs­fläche, selbst­re­flexiv, technik- und bild­kri­tisch. »Was ist die Verant­wor­tung des Mediums, was kann es« fragt die Regis­seurin in die Kamera. Wer sich in dieser Woche ins schwarze Dunkel des lange vermissten und dennoch nicht verges­senen Kinosaals begibt, um The Trouble with Being Born zu schauen, wird sehen: das Kino von Sandra Wollner kann sehr viel.