Keine Zeit zu sterben |
![]() |
|
Mal auf den Punkt gebracht | ||
(Foto: Karikatur: Niko B. Urger) |
Von Dunja Bialas
Über eine Millionen Besucher. In der ersten Woche. Über 800 Leinwände. Pro Leinwand fast 1500 Besucher. Sa-gen-haft! Gestatten: Sein Name ist Bond, James Bond. 007 ist die Chiffre für den ultimativen Erfolg, ja sogar für die Wiederauferstehung des Kinos. Das, was lange totgesagt war, was im Corona-Koma lag: Endlich lebt es wieder. Endlich!
Was ist das nur für ein Phänomen! Alle reden über Bond. Man kann den Film nacherzählen, den Plot sogar ohne Plotpoints, und spoilern ohne zu spoilern (Tobias Kniebe in der »Süddeutschen Zeitung«). Manche spoilern aber, was das Zeug hält (der »Rolling Stone«, begeistert: »ultimative Spoiler!«), andere kokettieren nur damit (Hanns-Georg Rodek in der »Welt«: »Der schlimmste Spoiler aller Zeiten: James Bond kehrt zurück!«). Oder aber man kann den Film kleinreden (Dirk Wagner in »M94,5« bei den »Kanalratten«: »Im Arri gab’s nur zwanzig Reservierungen«). Sogar ich kann mitreden, obwohl ich ihn gar nicht gesehen habe. Aber ich habe mich umgehört, ist ja auch unüberhörbar, denn schließlich reden ja alle darüber. Und jetzt hat auch noch unser Haus-Karikaturist Niko B. Urger diese tolle Karikatur geschickt:
Beim Umhören und Darüber-Reden kamen Fragen auf. Warum eigentlich stecken etliche Kritiken so substanzlos im Plotgefängnis fest? Ausgerechnet dort, als ginge es bei Bond noch darum, was passiert! Oder man ist auf dem Hochsitz bei der Beobachtung der Genre-Verhaltensweisen eingeschlafen. Fahle Fanzine-Filmkritik. Den Bond wollen doch eh alle sehen, warum also darüber schreiben? Filmkritik als PR-Maschine. Oder: Filmkritik in der Meisterklasse. Sich einmal am größten Franchise aller Zeiten erproben! Außerdem hat man das ja zwei Jahre lang nicht umsonst hochgejazzt: Solange Bond nicht in den Kinos läuft, ist das Kino tot. »Keine Zeit zu sterben«, der Titel gab die Steilvorlage für das Mantra.
Andere Frage: Warum eigentlich läuft der Bond auch in den Arthouse-Kinos? Man kann in München den Bond sogar im Neuen Maxim sehen, in dem Kino an der Landshuter Allee. Nichts gegen das Kino, im Gegenteil! Einst war es Hohes Haus für den politischen Dokumentarfilm, dann wurde es offen für den gepflegten und guten Arthouse-Film, und verfügt heute nur über 47 Corona-Plätze. Zwischen dem Nachbarschafts-Kino (bereits fast ausreserviert für den morgigen Donnerstag) und dem Multiplex-Mega-Saal im Mathäser nimmt es sich nicht viel, auch nicht im Eintrittspreis. Außer, man gönnt sich Bond im Mathäser-Kinosaal mit der »3D Atmos D-BOX«, frei flottierender 3D-Sound, wo an »Motion Seats« gerüttelt wird. Gerüttelt, nicht geschüttelt. Womit das jetzt auch platziert wäre.
Ein Arthouse-Kinobetreiber, mit dem ich mich unterhalte und der mit vier Häusern als Münchens Kino-Mogul gelten darf, sagt, er habe Bond auch früher schon gespielt. Dass der Film dann seine Säle verstopft, stört ihn nicht, schließlich verstopfen dann ja auch Besucher die Säle. »Besser, als wenn ich zwei Hanseln in einem Film sitzen habe, der halt unbedingt die Kinoauswertung braucht, von dem aber noch nie jemand was gehört hat!« Es geht natürlich ums Geschäft: UPI (Universal Pictures International) nimmt jetzt einfach alles, was es kriegen kann. Die Masse macht’s, all you can eat. Vorbei die Zeit der Abspiel-Zertifikate, vorbei der Vorsprung durch Technik. THX und George Lucas sehen heute ziemlich alt aus. Alles geht. Hauptsache, es bondet!
Ist das jetzt Post-Arthouse oder Post-Popcorn? Die Verabschiedung der kleinen Unterschiede? Kein Geha mehr, kein Pelikan? Stereo oder Dolby Atmos? Egal. Dokumentarfilm oder Franchise? Egal! Ziel ist, dem »Kunden«, wie Besucher im Kinobetreiber-Jargon gerne mal genannt werden, alles in einem Haus anzubieten, im Kino des Vertrauens. All in one. Dass sie bloß nicht fremdgehen. Dass sie bloß nicht entdecken, dass andere Kinos auch schöne Leinwände haben, die vielleicht anderes können. Aber: Erst wenn ein Film von Heinz Emigholz auch im Mathäser läuft, weiß ich, dass die Welt in Ordnung ist. (Sein neuer Film The Lobby läuft am kommenden Samstag in Deutschlandpremiere bei Underdox im Werkstattkino, 9.10., 19:30 Uhr. Nehmt das, Bondisten!)
Bond ist gigantisch. Sogar Kaiserschmarrndrama hat nicht die Besucherzahlen gemacht wie Bond in der ersten Woche, da fehlen in neun Wochen immer noch 100.000. In seiner ersten Woche setzte sich Kaiserschmarrndrama mit 220.000 Besuchern an die Chart-Spitze, vermeldet die AG Kino-Gilde. Wenn man berücksichtigt, dass der durchschnittliche Deutsche nur 1,4 Mal im Jahr ins Kino geht (2020: 0,4 Mal), und man annimmt, dass Leute, die sich für Kaiserschmarrndrama interessieren, auch Bond gucken, ist das Jahreskontingent jetzt wohl ausgeschöpft. Aber immerhin ist Bond an und für sich wieder Werbung fürs Kino. Darauf haben die Kinobetreiber gewartet, darauf hat auch die Kritik gewartet. Endlich wieder Stress und Embargo, Spoilerverbot und Nachtschicht. Endlich wieder vital, endlich wieder keine Zeit. Schon gar nicht zu sterben.
Cinema is dead, long live cinema.