Abgründig breiter |
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»Wenn ich tot bin, zeig deinen Film auf meiner Beerdigung!« Father hat die Goldene Taube in Leipzig gewonnen | ||
(Foto: DOK Leipzig / Wei Deng) |
Das letzte Jahr, 2020 sei für ihn »das nullte Festival« gewesen, sagte Direktor Christoph Terhechte zur Eröffnung, jetzt sei sein erstes.
Den Eröffnungsfilm Der Rhein fließt ins Mittelmeer vom Israeli Offer Avnon hatte er im Katalog selbst kommentiert: »Der Rhein fließt ins Mittelmeer betreibt die Sisyphusarbeit einer Verortung zwischen Philo- und Antisemiten, Bemühten und Gleichgültigen, Erinnerern und Ausblendern. Kein Bild, kein Satz, der nicht mannigfaltige Assoziationen auslöste. Der Teufel steckt im Detail – dafür öffnet dieser Film die Augen. Durch welche Traumata lebt der Holocaust fort, den der Filmemacher, Sohn eines polnischen Überlebenden, in all den Jahren in Deutschland 'nie, auch nicht für einen einzigen Tag' vergessen konnte? Welche Mechanismen der Verdrängung wirken bei den Angehörigen der Täter, bei denen der Opfer? Wie ist die Wahrnehmung, das Bewusstsein, die Erinnerung des Einzelnen geprägt durch seine Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Religion oder politischen Gruppierung? Offer Avnon gibt Antworten in fragmentarischer Form, und jede wirft weitere Fragen auf. Die Suche nach jenem 'Unheimlichen', auf die er sich mit seinem Film begeben hat, ist längst nicht abgeschlossen.«
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Weder beim Wort Rhein noch bei Mittelmeer denkt man auch nur entfernt an Leipzig. Auch darum, weil dieser Film vielen früheren Leipziger Eröffnungsfilmen denkbar fern stand, war es eine ausgezeichnete, eine wunderbare Wahl.
Der Film ist schwer zusammenzufassen. Also muss man erzählen und beschreiben, was er macht. Offer Avnon lebte zehn Jahre in Deutschland, dem Land, das seine Familie ermordete oder vertrieb. Er trifft in diesem Film Menschen aus Deutschland, aus Haifa, wo er wieder lebt, und aus Polen, wo seine Familie herstammt. In einer komplexen Montage hat alles einen doppelten Boden und eine mehrfache Bedeutung. Ein zutiefst pessimistischer Film.
Wir sehen einen Juden, der die Lieder, die er als Kind hörte, nicht aus dem Kopf bekommt, und vor der Kamera singt – »Die Straße frei den braunen Batallionen« – und kommentiert: »Powerful. Die Luft war voll von ihnen.«
Wir sehen den Sohn vertriebener Deutscher, der auf alten Schwarzweiß-Fotografien seinen Vater als Kind betrachtet, wie der mit seinem Vater, dem Großvater, spielt. Der Großvater trägt eine Wehrmachtsuniform. Und der Enkel erzählt, sein Vater habe den Großvater nie gefragt, was denn war im Krieg. Der Enkel spricht von Kollektivschuld, die nie anerkannt worden sei in der Familie. Zögernd sucht er um Worte. »Man hatte das Gefühl, selber sehr ungerecht behandelt worden zu sein.«
Wir sehen eine arrogante alte Polin, die ihre Abneigung gegen Juden formuliert. Sie hätte Briefe aus dem Ghetto von Krakau geschmuggelt. Sie hatte diese aber geöffnet, um zu wissen, ob sie sich nicht gefährdet. Darin hätten Jüdinnen ihre Freunde und Bekannten unter anderem um Make-up und Schminke gebeten, »um für die Deutschen schöner auszusehen«. Dafür habe sie sich geschämt, und danach die Briefe sämtlich weggeworfen. In ihrem harten Blick sieht man die Härte der jungen Frau.
Wir sehen eine alte Israelin, die als Kind im Ghetto von Krakau lebte und fliehen konnte. Sie erzählt, wie schwer es ihr fiel zu fliehen, wie sie um ein Haar zu ihrer Familie ins Ghetto zurück gerannt wäre. Nur die Tante hielt sie davon ab, mit dem flehenden Satz: »Deine Mutter hier im Ghetto braucht etwas, worauf sie hoffen kann, um zu überleben.« Ob es ihr gelang, erfahren wir nicht. Wir ahnen nur.
Dann kam das Mädchen bei Polen unter und wurde versteckt. Drei Jahre lang durfte sie
nicht ans Fenster gehen. »Aber vor wem wurden wir versteckt? Wer durfte uns nicht sehen? Nicht die Deutschen, die hätten hier gar nicht nach uns gesucht. Sondern aus Angst der Polen vor den Polen, vor der Denunziation durch Landsleute.« Und später: »I never liked the Polish, but I love their culture, I love their poetry. But I truly dislike the Polish people. I never believe them.«
All das ist atemberaubend. Es sind atemberaubende schockierende, in ihrer Ehrlichkeit. In allem stecken auch wunderschöne Zeugnisse.
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Alles ist assoziativ, subjektiv. Israelis sagen: »We have no friends nowhere in the world.« Und: »The Holocaust cannot become a story with a certain moral. This would be a sacrileg.«
Dieser Film ist wie der Rhein: Er fängt langsam und unscheinbar an, ich musste mich erst zurechtfinden in ihm, hatte echte Probleme, nicht innerlich auszusteigen, doch von Minute zu Minute wurde er besser, also zwingender, interessanter, abgründiger, breiter, riss mich mit.
Manche reden sich um Kopf und Kragen.
Wie gesagt: Ein abgründiger toller Film!
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Ein alter italienischer Film, schwarzweiß, aus den 1950er Jahren. Auch damals war die Welt nicht in Ordnung. Darauf folgen schöne, fast touristische Bilder von der ligurischen Küste, genauer gesagt Porto Maurizio, dem kleinen Dorf am Meer, wo der Regisseur Fabrizio Polpettini aufgewachsen ist. Von diesem Ausgangspunkt ausgehend, umkreist sein Film A Custom of the Sea die Geschichte einer Region im Mittelmeer, mit der man heute oft nur noch Flucht und Menschen in Not verbindet, und grundiert sie kulturhistorisch. Scheinbar lose erzählte Anekdoten, Zufallsbegegnungen und Referenzen aus Kino, Literatur, Malerei und Geschichte fügen sich zu einem zusammenhängenden Ganzen. Sie bilden ein geopolitisches Koordinatensystem rund um das Mittelmeer. Dieser Film, einer von einem guten Dutzend, die beim diesjährigen DOK Leipzig von Flucht und Fluchtbewegungen handelten, erzählt seinen Gegenstand indirekt, durch das Entfalten einer Gegengeschichte.
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Flucht – man glaubt darüber vieles zu wissen. Unmengen von Geschichten hat man zum Thema gehört, unzählige Bilder hat man dazu gesehen. Es ist die Herausforderung für neue Dokumentarfilme, bekannte Bildklischees nicht einfach zu reproduzieren, sie möglichst zu brechen, oder ihnen zumindest etwas Neues abzuringen.
Das ist gerade in diesem Fall nicht einfach. Viele Filme in Leipzig bleiben vor allem durch die Wege, die sie beschreiben, in Erinnerung. Denn Flucht, das ist
erst einmal ein Aufbruch ins Nirgendwo, ein Zurücklassen des Vertrauten und eine lange Wegstrecke, die darauf folgt. Selten sind die Wege gradlinig; zumeist sind sie labyrinthisch verschlungen.
Etwa in dem Film Die Odyssee von der in Frankreich lebenden Florence Miailhe, ein Animationswerk, in dem Fakten und Fiktion in strahlenden, farbkräftigen Bildern verschwimmen, die uns im Übrigen daran erinnern, dass DOK Leipzig auch (manchmal, dem Anspruch nach) ein Animationsfilmfestival ist. Es beginnt alles an einem schönen Sommertag, als sich das Leben der Geschwister Kyona und Adriel für immer verändert. Ihr Dorf wird überfallen, verwüstet und in Brand gesteckt. Die ganze Familie muss fliehen. Eine Reise über einen ganzen Kontinent, bei der sich viele reale und surreale Situationen ereignen. Erst spät begreifen die Geschwister überhaupt, dass sie Flüchtlinge sind. Ein rasantes Wechselspiel zwischen Fantasie und Realität, das die Flucht, das Exil, das Sich-auf-den-Weg-Machen als universelle Erfahrung zeigt.
Eine andere Facette des Themas Flucht rückt ein deutsch-mexikanischer Film ins Zentrum. Lo que queda en el camino von Jakob Krese und Danilo Do Carmo erzählt von einer alleinerziehenden Mutter und ihren vier Kindern, die sich zusammen mit Tausenden aus Lateinamerika auf den Weg Richtung USA macht. Keine Reise des Geldes wegen, sondern eine Flucht vor Perspektivlosigkeit, Armut und Gewalt. 4.000 Kilometer per Anhalter oder auf Güterzügen sind lebensgefährlich. Dieser Film setzt der medialen Berichterstattung eine konkrete, auf eine Familie konzentrierte Perspektive entgegen. Dabei mischt der Film eine Leichtigkeit, die alles – zumindest manchmal – wie eine lange Abenteuerreise wirken lässt, mit unfassbaren Härten. Am Ende ist die Angst einem neuen Selbstbewusstsein gewichen.
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Blasse Grautöne, pastellige Farben, unscharfe schwierige Bilder – dies ist kein Fehler, sondern System. Denn Zuogui, eine der beiden Hauptfiguren des Dokumentarfilms Father, der am letzten Samstag bei DOK Leipzig den Hauptpreis, die »Goldene Taube« gewann, ist seit seiner Kindheit blind. Sein Enkel, der Regisseur Wei Deng, hat zwischendurch in seinem im Prinzip sehr nüchtern-naturalistischen Dokumentarfilm Bilder gefunden, die uns Zuschauern eine
Ahnung davon geben, was das heißt.
Zuogui ist fast 90 Jahre alt und von Beruf Wahrsager – denn in den Augen seiner Mitmenschen sieht er mehr und tiefer als andere. Die zweite Hauptfigur des Films ist Donggu, ein Bauunternehmer, also durchaus ein Boomberuf in China von heute. Zugleich ist er der Sohn von Zuogui und der Vater des Regisseurs.
Father ist in seinem Kern ein persönliches Doppelportrait, das auch das Portrait zweier entscheidender Generationen des chinesischen 20. Jahrhunderts ist, und das einer dritten Generation, die sich im Blick des Regisseurs manifestiert, den er auf die beiden Älteren wirft.
Doch dieser Film ist zugleich ein Porträt der gesamten chinesischen Gegenwartsgesellschaft, in der jahrhundertealte Tradition – in der Kunst des Wahrsagens – und klassische Hochmoderne aus Stahl und Beton – im Beruf des Bauunternehmers – zusammenfallen. In der Gewalt und Entfremdung genauso einen Platz haben wie Liebe und Zärtlichkeit. Wenn der blinde Großvater sich einerseits in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wie ein Sehender
zurechtfindet und sich mit sicherer Hand an den Fassaden entlang tastet, dieses Sich-Orientieren aber zugleich immer schwerer wird, weil Bauunternehmer wie sein Sohn das alte China abreißen und kein Stein auf dem anderen bleibt, dann ist diese sinnliche Erfahrung zugleich ein Sinnbild für den Strukturwandel und die neue Unübersichtlichkeit im China von heute.
Ein verdienter Preis für einen hochinteressanten Film.
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Weitere Preise gingen dann an Filme aus Polen, Syrien, und Äthiopien – womit die Jury so ziemlich alle Problemregionen der aktuellen Weltpolitik bedacht hatte, und das Gesamttableau der Preise inhaltistischer, eher an Themen orientiert ausfiel als der insgesamt stilistisch sehr interessante, formal extrem variable Wettbewerb.
Da waren die Entscheidungen der Jury im Deutschen Wettbewerb zwingender, in dem Rebecca Zehrs A Sound of my Own, ein
in Schwarzweiß gehaltener Musikfilm, den Hauptpreis bekam.
Mit diesen Preisverleihungen am Samstagabend ging das 64. DOK Leipzig zu Ende. Es war noch nicht ganz das Festival, das es vor Corona gewesen ist, aber doch in vieler Hinsicht schon wieder normal. Vor allem aber war es eine gelungene Festival-Ausgabe. In sehr kurzer Zeit und unter erschwerten Bedingungen ist es dem neuen Direktor Christoph Terhechte geglückt, das Festival neu aufzustellen. Unter seiner Vorgängerin hatte sich vieles zum Schlechten entwickelt, und auch unabhängig von
Personalien hat es DOK Leipzig nicht leicht: Im internationalen Vergleich gibt es nicht nur das nach wie vor führende Dokumentarfilmfestival IDFA in Amsterdam, sondern in der Festivallandschaft machen auch andere starke Player von sich reden: Die Dokumentarfilmfestivals von Nyon und Kopenhagen. Nicht nur gegenüber diesen Konkurrenten muss sich Leipzig behaupten, sondern auch innerhalb Deutschlands gegen die Konkurrenz aus Duisburg und München (das die Pandemie genutzt hat,
um durch aktive Online- und Hybrid-Versionen aus der Not eine Tugend und Terrain gut zu machen).
Terhechte hat das Festival wieder auf das Wesentliche konzentriert, die Zahl der Filme ausgerechnet in Zeiten der Bilderinflation reduziert und zugleich die Perspektive ästhetisch und stilistisch erweitert.
Viel ging es um Flucht, allerdings überraschend wenig konkret um Politik. Vor allem die Abwesenheit der aktuell brennendsten Debatten unserer westlichen demokratischen Wohlstandstaaten, etwa um Rechtsextremismus und Populismus, um Corona und um den menschengemachten Klimawandel, fielen auf.
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Die stärksten und besten Filme in diesem Jahr waren essayistische, und zum Teil auch auch Arbeiten mit Archivmaterial (wie der oben erwähnte A Custom of the Sea).
Wenn im nächsten Jahr die Coronabeschränkungen fallen und man noch eine Jury findet, die die Vielfalt der Filme auch in ihren Preisverleihungen berücksichtigt, statt Themen auszuzeichnen, dann wäre Leipzig ein perfektes Dokumentarfilmfestival.