Phantasma des Dokumentarischen |
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A Sound of My Own: Gewinner der Goldenen Taube | ||
(Foto: DOK Leipzig / Rebecca Zehr) |
Von Dunja Bialas
Fast unter dem Radar begann Christoph Terhechte, ehemals Leiter des Forums der Berlinale, letztes Jahr seinen Job als neuer Festivaldirektor von DOK Leipzig. Pandemiebedingt fand das Festival, außer für wenige Locals, die vor Ort in die Kinos durften, ausschließlich im Internet statt. Für ein Festival der A-Klasse mit Weltpremieren und Co-Produktions-Markt eine mittlere bis große Katastrophe, lebt es doch von den anreisenden internationalen Gästen und nicht von den gezeigten Filmen allein.
Wenn man nicht wie das Münchner DOK.fest eine große Summe für bundesweite Marketingmaßnahmen in die Hand nimmt, mit denen man sich auch im World Wide Web (oder zumindest German Wide Web) gegen die Konkurrenz der Streaming-Angebote zu behaupten versucht, bleibt einem bei einer Online-Ausgabe nur ein schmales Stück Torte übrig. Terhechte machte sich so auch im Vorfeld keine Illusionen, als er sich über die geplante hybride Ausgabe – zunächst regulär eine Festivalwoche im Kino vor Ort, anschließend eine Nachspielzeit im Netz (bis einschließlich 14.11.21) – äußerte. Sie sei eine Möglichkeit, das Festival noch etwas länger im Gespräch zu halten, auch natürlich, es bundesweit bekannt zu machen. Eine signifikante Publikumssteigerung wie beim Münchner DOK.fest aber sei nicht das Ziel.
Terhechte misstraut dem Streamen als Tool der Reichweitensteigerung. Ihm geht es seit jeher um Qualität, weniger um die Quantität, das hat er auch schon mit seiner Programmierung zu Forumszeiten bewiesen, als er auf die Angabe von Produktionsländern und die Unterscheidung von Dokumentar- und Spielfilm im Programmheft bewusst verzichtete – und damit auch auf ein nicht unerhebliches Kriterium der Zielgruppenansprache. Für Terhechte ist wichtig, dass die Filme selbst wirken dürfen, ohne zwingend das Marketing-Framing zu durchlaufen.
Dem Nachdenken über den grundsätzlichen Charakter des Dokumentarischen kam DOK Leipzig in diversen Panels nach, die nicht alle nur die Branche ansprachen, sondern auch an allgemeinere Diskurse und aktuelle Debatten anschlossen. »Mit anderen Augen sehen« beispielsweise umkreiste, grob gefasst, das alte Thema des ethnologischen Blicks. Dokumentarfilmer*innen finden ihre Sujets und Themen oftmals außerhalb ihres Herkunftslands, kommen als Außenseiter an fremde Orte, die sie sich neu erarbeiten müssen. »Wie vermeidet man es, das Protraitrierte als fremdartig darzustellen?« war die Leitfrage des entsprechenden Panels.
Eine der Antworteten lautete: Indem man öfter hinfährt, die Orte kennenlernt und vor allem auch die Protagonisten. Jakob Krese hat sich für What Remains on the Way (Lo que queda en el camino) mit dem Brasilianer Danilo do Carmo zusammengetan und filmt nun zum zweiten Mal an der mexikanischen Grenze. Erzählt wird von Lilian mit ihren vier Kindern, die die Regisseure auf der Flucht von Guatemala begleiten. Mit ihnen steht das Filmteam am Straßenrand inmitten des Lärms schreiender Kinder und umgeben von den Flüchtenden und ihrem Gepäck, während die Autos unberührt vorbeifahren. Dann hält ein Transporter. Die Menschen erklimmen die freie, ungesicherte Ladefläche, die Kamera und die Filmemacher mit ihnen, »embedded« wie Kriegs- oder zumindest Krisenreporter. Eigentlich eine unmögliche Situation ungleicher Verhältnisse (das Filmteam kommt aus dem Westen und wird sich auch wieder dorthin zurückziehen), die auch Fragen nach den Grenzen und der Ethik des Dokumentarischen nach sich zieht.
Dem entkommt man nur, indem man selbst Teil der gefilmten Welt ist, was auch heißt, zu den Protagonisten zu gehören. Der bei Visions du Réel letztes Jahr gezeigte Purple Sea des syrischen Filmemacherpaars Amel Alzakout und Khaled Abdulwahed ist ein seltenes Beispiel dafür. »Ich habe meinen Weg von Anfang an gefilmt – ab Istanbul, im Büro der Schmuggler, die Fahrt an die Küste«, erzählt Amel Alzakout im Interview, um den Blick von außen zu vermeiden und um die eigene Version der Erlebnisse zu erzählen. »Ich habe kein Recht, [die Menschen] direkt zu zeigen, nur weil ich dort mit ihnen im Wasser war. In den Medien gibt es jede Menge Bildmaterial, das ohne Respekt entsteht, ohne Nachdenken, wie die Menschen darin gezeigt werden oder wie sie gesehen werden wollen.« Das Ergebnis ist schockierend, fast obszön, als das Boot sinkt und die Kamera immer entfesselter wird.
Jakob Krese und Danilo do Carmo hingegen behalten immer festen Boden unter den Füßen. Die Art, wie sie Lilian und ihre Kinder filmen, zeugt von einer großen Vertrautheit und dem von Amel Alzakout eingeforderten Respekt, wenn sie sie als Mensch hervortreten lassen. Die Objektivierung durch den ordnenden Blick von außen mag weniger authentisch wirken – vermeidet aber auch, dass der westliche Zuschauer unfreiwillig in die Position des Voyeurs gerät. Ein Aspekt, den Purple Sea unmittelbar konfrontieren muss.
Leichter ist es, wenn man seinen eigenen Geschichten nachgeht. Ein beliebtes Genre im aktuellen Dokumentarfilm ist die Suche nach sich selbst oder zumindest seinen Wurzeln. Juliane Henrich reist in Vor Zeit nach Schlesien, woher der Großvater ihrer Protagonistin stammt. Fern jeglicher Heimatvertriebenen-Ideologie besucht sie die alten Bewohner des Ortes, befragt sie nach dem ehemaligen Organisten von Krasiejów und blättert mit ihnen in Fotoalben. Das Intersubjektive der persönlichen Erinnerung ist die Region, die von Migration geprägt ist und von der Zerreißprobe zwischen deutsch- und polnischsprachigen (und -nationalen) Kräften. Der Ansatz der Filmemacherin enthebt ihren Film der persönlichen Befangenheit, wenn sie ein Alter Ego zwischen sich und den Film schiebt: die Schriftstellerin Nannina Matz, die einen unübersehbaren Hang zum Imaginären pflegt. Sie stellt sich die Vergangenheit als eine versunkene Vorzeit vor, ähnlich dem schlesischen Dinosaurier, dem Silesaurus opolensis, der im ortsansässigen Museum zu besuchen ist. Geschichte als Phantasma ist ein ungewöhnlicher Ansatz für die beliebte dokumentarische Erinnerungsform und enthebt das Genre seiner historischen Schwere und oftmals betulichen Betroffenheitsrhetorik.
Formal eher experimentell, dabei in der Tradition großer Musikfilme wie Step Across the Border (1990) von Werner Penzel und Nicolas Humbert (der beratend beim Film mitgewirkt hat) war A Sound of My Own der Münchner HFF-Studentin Rebecca Zehr, der mit der Goldenen Taube des Deutschen Wettbewerbs ausgezeichnet wurde. Zehr nähert sich dem Imaginären des legendären Jazzrock-Ensembles »Embryo«. In Schwarzweiß gefilmt, übernimmt der Film die Perspektive von Marja Burchard, Tochter des vor kurzem Verstorbenen Band-Gründers Christian Burchard, die seit ihrem 11. Lebensjahr mit der Band auftrat. Marja managt heute die Band und ist auch deren Leaderin. Gleichzeitig arbeitet in ihr noch die Erinnerung, die Trauer, immer wieder entzündet sich diese an der Sichtung des umfangreichen und im großen Chaos hinterlassenen Archivs. Ordnung und Objektivierung geben Animationssequenzen aus Lehrfilmen, die illustrieren, wie der Schall auf das Trommelfell des Ohres trifft und dort Reize auslöst. Korrespondenzen in der realen Welt – wie etwa eine Wespe am Fenster oder eine Baumkrone, was auch an Jörg Adolphs Notwist-Film On/Off the Record (2002) erinnert – erden im wahrsten Sinne den sphärischen Embryo-Sound. Zehrs Film vermeidet das Biopic und verzichtet auf Informationshappen. A Sound of My Own ist vielmehr: eine berückend stille Einkehr und mit dem Klang von Embryo einsgewordene Synästhesie.