Spurensuche und Exkursionen |
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Die doxs!-Gang ist gar nicht XS, sondern mega! | ||
(Foto: doxs! Duisburg) |
Von Christel Strobel
Das Jubiläumsprogramm in diesem Jahr bot nicht nur ein Wiedersehen ausgewählter Filme früherer Jahrgänge, sondern auch eine Exkursion auf den Spuren von »doxs! ruhr«. So lernten die auswärtigen Gäste die »Schauburg« in Gelsenkirchen kennen, ein gut erhaltenes, elegantes Filmtheater aus den 20er Jahren, Schauplatz der diesjährigen offiziellen doxs!-Festivaleröffnung unter dem Motto »Wir zeigen es allen« mit fünf Filmen – von Skip Day über eine Gruppe junger Afroamerikaner, die unbekümmert an den traumhaften Strand vor ihrem Viertel ziehen, während die Kamera nebenbei beobachtet, wie weiße Badegäste den Strand verlassen, bis zum aktuellen, konsequenten Experimentalfilm Sehr gepflegt und gut gelegen des anwesenden jungen österreichischen Filmemachers Lukas Marxt und Jakub Vrba. Zum Auftakt gehörte auch ein Filmprogramm für die jüngsten Kinogänger: »Dokus für Kitas« mit drei kleineren Beiträgen »zum Staunen und Schmunzeln«, über die danach mit den Kindern gesprochen wurde, wobei es immer wieder erstaunt, welche Einzelheiten kleine Kinder wahrnehmen.
Eine weitere Station war der zum Kulturbahnhof umgestaltete S-Bahnhof Bochum-Langendreer, in dessen Kino »Endstation« der französische Dokumentarist Robert-Jan Lacombe seine beiden sehr persönlichen Filme, Auf Wiedersehen Mandima und Retour À Mandima, vorstellte. Lacombe wuchs in Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, auf und erinnert sich anhand von Fotos an die Zeit seiner Kindheit in Mandima, das er als Zehnjähriger verließ, um mit der Familie zurück nach Frankreich zu gehen. Nach fünfzehn Jahren kehrte er in das Dorf zurück, suchte seine Kindheitsfreunde und fand einige wieder. Es war ein erstauntes und freudiges Wiedersehen, nur einer, der heute beim staatlichen Rundfunk arbeitet, wurde ernst und sprach aus, was ihn wohl die ganze Zeit beschäftigt hat: Nachdem es einen Monat nach dem Verlassen der Familie Lacombe in Zaire zu gewalttätigen Überfällen des Militärs kam, die auch in Mandima viele Tote hinterließen, wurde er den Verdacht nicht los, dass Lacombes davon gewusst haben und die Freunde hätten warnen können. Auch wenn die Vermutung des Freundes nicht zutreffend war, wird davon das fröhliche Treffen doch überschattet. Zwei Dokumentationen, die bewegen und nachdenklich machen.
»doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche« findet seit 2002 jährlich im Rahmen der Duisburger Filmwoche in der Trägerschaft der Stadt Duisburg statt und wird u.a. von der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen und dem Familienministerium NRW gefördert. Unter dem Motto »Ganz nah dran« wurde seinerzeit – in Kooperation mit der Filmothek der Jugend NRW und der Dokumentarfilminitiative (dfi) – für Kinder von sechs bis zehn Jahren ein Dokumentarfilmprogramm als Alternative zum fiktional geprägten Fernsehalltag angeboten. Unter dem außergewöhnlichen Label »doxs!« – das sich zusammensetzt aus 'do' (für Dokumentarfilm) und 'xs' (für die kleinste Kleidergröße) – hat es sich in den zwanzig Jahren zu einer festen Größe entwickelt. An den verschiedenen Programm-Schwerpunkten ist auch die Entwicklung des Kinderdokumentarfilms gut nachzuverfolgen.
Zunächst stand die Produktion eines Landes im Mittelpunkt. Die Niederlande mit ihrem schon damals vielfältigen Dokumentarfilmangebot für Kinder machten den Anfang, gefolgt von polnischen, tschechischen, ungarischen und estnischen Produktionen. Weitere Länderschwerpunkte waren Dänemark, Frankreich, Schweden und Großbritannien. Eine Programmerweiterung war schließlich auch die neue Zielgruppe der Jugendlichen mit Filmen ab 14 Jahren.
Zum zehnjährigen Bestehen, 2011, wurde mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung ein Preis für den europäischen Wettbewerb ausgeschrieben und wird seitdem jährlich von einer Jugendjury verliehen: die »GROSSE KLAPPE« – Filmpreis für politischen Kinder- und Jugenddokumentarfilm. Mit diesem Filmpreis werden Produktionen ausgezeichnet, die in besonderem Maße die ästhetische und politische Auseinandersetzung mit Dokumentarfilm fördern. Zur Teilnahme eingeladen sind dokumentarische Produktionen aus Deutschland und Europa, die laut Ausschreibung »mit Fantasie und Intelligenz die Lebenswelt von jungen Menschen aufgreifen und adressieren«. Der Preis ist mit 5.000 Euro für die Regieleistung dotiert, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Preisträgerfilme erscheinen beim Partner Methode Film jeweils in einer speziell für den Schulunterricht aufbereiteten, deutsch untertitelten Fassung samt Begleitmaterial auf DVD.
Unter der engagierten Leitung von Gudrun Sommer hat das Festival nach und nach größere Kreise gezogen, indem es unter dem Label »doxs! ruhr« seit 2013 in weiteren Standorten eine Auswahl des Duisburger Programms für Grund- und weiterführende Schulen präsentiert und mit dem jungen Publikum diskutiert. Inzwischen gehören Kinos in Bochum, Bottrop, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Moers zu diesem Verbund.
Mit einem ausgewählten Dokumentarfilmprogramm ist doxs! jährlich auf nationalen wie internationalen Filmfestivals zu Gast, z.B.: Steirischer Herbst in Graz, Kölner Kinderfilmfest Cinepänz, Goethe-Institut in Lille, Kultur & Spielraum e.V. in München, Festival International du Film d’Arras/Frankreich, Tate Britain in London, Zoom Kindermuseum in Wien, Dokument Art Neubrandenburg, Reykjavík International Film Festival, Lucas Filmfestival in Frankfurt.
»doxs! schule« ist ein Projekt seit 2004 für alle Schultypen und Altersklassen mit dem Ziel einer elementaren Medienerziehung und Filmbildung, anhand von Dokumentarfilmen und mit Hilfe ausgebildeter Moderatoren. Die einzelnen Projekte variieren je nach Alter der Schüler sowie Schultyp und werden individuell mit der Schule abgesprochen, auch speziell für die Lehrerfortbildung gibt es Angebote. Was diese medienpädagogische »Basisarbeit« zur Förderung der medialen Kompetenz bewirkt, lässt sich jährlich am doxs! Festival in den lebhaften und von der langjährigen Moderatorin Aisha Riffi klug geführten Filmgesprächen nach jeder Vorführung beobachten.
Zurück ins Filmforum Duisburg, das Festivalkino seit 20 Jahren. Beim Blick aufs Programm fällt einem das Statement der Festivalmacher ein: »Auf einem fliegenden Teppich nach Finnland und mit dem Skateboard durch Marokko. Im Jeep zum Beach und auf einem Bein übers Balkongeländer. Wie bellt ein Hund auf Chinesisch? Wie hört sich Hören an? doxs! hat Geburtstag und feiert mit alten und mit neuen Filmen. Wir bieten: Wirklichkeit und echte Wunder. Unser Versprechen: Wir bleiben beweglich.«
Das 20-jährige Bestehen wurde mit einem Jubiläumsprogramm gewürdigt mit Filmen, an die man sich noch gut erinnert, wie Die Götter von Molenbeek (doxs 2019), Ednas Tag (2009), Naomis Geheimnis (2017).
Stärkster Film in diesem Programm und größter Publikumserfolg, d.h. eine Zusatzvorstellung wegen des großen Interesses von Schulklassen, war Duisburg City Hochfeld (doxs 2007) von Volker Köster mit neun Schülerinnen und Schülern, die vor der Mittleren Reife ein Praktikum absolvieren. Viele Bewohner des Stadtteils Hochfeld haben einen migrantischen Hintergrund, dementsprechend hoch ist der Anteil in der Schulklasse, aber auch der pädagogischen Projekte. Eine dieser wichtigen Maßnahmen ist das Praktikum, hier müssen sich die Jugendlichen entscheiden – etwas Handwerkliches oder Büroarbeit, soll die Arbeit Spaß machen oder vor allem Geld bringen... Überraschend nach dieser Phase ist bei etlichen Jungen die Erkenntnis, lieber noch weiter in die Schule zu gehen als schon körperlich durch die Arbeit gefordert zu sein. In den 18 Minuten dieses dynamischen Porträts mit rasantem Rap über Alltägliches, was die Jungen bewegt, nimmt man zunehmend Anteil und hofft, dass so eine offene Aussage wie des Jungen aus dem Kosovo »Als Deutscher sehe ich mich nicht, aber Deutschland ist meine Heimat« weiterhin gültig ist. Für die Schulklassen im Kino gab es noch eine besondere Begegnung mit dem seinerzeit 16-jährigen Burhan, heute 30 und erfolgreich im technischen Beruf, der sich damals nach dem Praktikum zur Fortsetzung der Schule entschlossen hatte und den jungen Leuten heute von seinen Erfahrungen erzählen konnte.
Für den Preis der Jugendjury, die GROSSE KLAPPE, waren sieben Beiträge nominiert, mit sehr unterschiedlichen Themen und somit ein Abbild unterschiedlicher Lebensbedingungen und Wünsche der jungen Generation. In Meine Wunderkammern (DE 2021, R: Susanne Kim, 79 Min.) zum Beispiel wird mit Kindern, die sich oft schwerer tun als andere, mit viel Fantasie und allegorischen Figuren eine Welt entworfen, in der es weder Mobbing noch Rassismus und auch kein Geld gibt, in der Katzenmenschen, Meerjungfrauen und Sonnenkinder agieren, und wo sich jede/r eine Wunderkammer erschaffen und sich zurückziehen kann. Diese Utopie gipfelt in der Aussage: »Du bist nicht komisch oder anders, du bist einzigartig, zeig’ das!«
Seepferdchen (DE 2020, R: Nele Dehnenkamp, 16 Min.), die Erzählung des jesidischen Mädchens Hanan über ihre traumatische Flucht in einem mit sechzig Personen überfüllten Schlauchboot, das auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland von einer Welle überrollt wird, beeindruckte schon auf dem Kinder Medien Festival »Goldener Spatz« in Erfurt (siehe unser Bericht) und erhielt dort den Preis der Kinderjury in der Sektion Information / Dokumentation. Über diesen bedrückenden, letztlich aber Mut machenden Film, weil Hanan inzwischen schwimmen gelernt hat und jetzt ihren kleinen Bruder im Schwimmunterricht begleitet, wurde auch in Duisburg lebhaft diskutiert.
Im weitesten Sinne von Flucht handelt auch Genosse Tito, Ich Erbe (DE / AT 2021, R: Olga Kosanović, 27 Min.). Hier geht es um Serbien und um Olga, die vor dem Krieg nach Wien geflüchtet ist, ihre Familie wieder besucht und ihren Bruder fragt, ob Serbien jemals seine Heimat wird, worüber er sich nicht sicher ist. Während die Großeltern das kleine Haus mit Garten, in dem Pflaumenbäume stehen, und einer großen Wiese, die auch gepflegt werden muss, zur Übergabe an die Enkel herrichten. Die Konflikte lassen sich im Moment nicht lösen, eine leise Bitterkeit liegt in der Aussage des Großvaters: »Ein Haus wird nicht von denen verkauft, die es erbaut haben, sondern von denen, die es erben.« Eine Erkenntnis, die auch auf Erben im Westen zutrifft, besonders in geschätzten Wohnlagen attraktiver Städte.
In einer ganz anderen Umgebung sind Aya und Ibrahim, zwei junge Marokkaner, aufgewachsen. Desert Dogs (CH 2020, R: Samuel Morris, 20 Min.) beginnt mit Ibrahims Statement aus dem Off: »Wir alle sind Produkte und Opfer unserer eigenen Erziehung, bis wir reflektieren, ablehnen und rebellieren.« Sie sind Teil einer Skate-Bewegung, sind aber in verschiedenen Orten – Ibrahim lebt in der Hauptstadt Rabat, die Aya in Richtung Taghazou am Atlantik verlässt. Dort gibt es eine große Skateboard-Anlage und überhaupt ist das Leben für junge Leute dort freier. Ibrahim in Rabat macht sich Gedanken übers Skaten: »Die Leute denken, dass Skaten ein Spiel für Kinder ist, nichts Ernstes. Skateboarding ist kein Spiel. Es ist eine Lebensart. Wir kämpften für unsere Interessen und jetzt treffen wir eigene Entscheidungen. Es gibt neue Möglichkeiten und niemand schreibt uns was vor. Wir sind die neue Generation von Marokko.« Der Film strahlt Selbstbewusstsein und eine positive Kraft aus und das Skaten ist ein Symbol dafür.
Susanne Questers jüngster Film Chao’s Transition, der zusammen mit Co-Regisseurin Mieko Azuma entstanden ist, beruht auf der Bekanntschaft mit Chao, geboren in Japan, die seit ihrer Kindheit in der Schweiz lebt. Nachdem sich Chao, 25 J., als Junge geboren, schon immer als Mädchen fühlte, hat sie sich nun zu einer Transition entschlossen. Sie beschäftigt sich unbefangen und entschlossen mit der bevorstehenden OP, bis durch Corona erst mal alles warten muss. Mit der ihr eigenen Frohnatur widmet sie sich jetzt ihrem Designstudium, der Mode und ihren Freunden, die OP hat sie noch fest im Auge. Susanne Questers Film ist dank der starken positiven Präsenz seiner Protagonistin geeignet, mit jungen Kinogängern (der Film hat eine Altersempfehlung ab 16 Jahren) über ein oft noch tabuisiertes Thema zu sprechen.
Den Preis, die GROSSE KLAPPE, vergab die Jugendjury an Dans Le Silence D’une Mer Abyssale / In Der Stille eines abgrundtiefen Meeres von Juliette Klinke, Belgien 2021, 20 Min. – Die Entscheidung für diesen Film, der »durch bemerkenswert aufwendig zusammengestelltes Archivmaterial in Kombination mit einer poetischen, aber klar strukturierten Erzählweise überzeugt«, ist so erstaunlich wie erfreulich und zeigt das Interesse der jungen Generation auch ganz allgemein an Filmgeschichte. Die junge Filmemacherin entdeckt in ihrem formal wie inhaltlich intensiven Werk den Anteil von Frauen in der frühen Zeit des Films und belegt das mit Filmen, die zwischen 1896 und 1940 entstanden sind. Seinerzeit wirkten Frauen als Regisseurin und Autorin, wie Dorothy Arzner, Alice Guy, Lois Weber, oder hatten in anderen wichtigen Funktionen wesentlichen Anteil an der künstlerischen Arbeit. Doch deren Namen wie so viele andere gerieten in einer von Männern dominierten Geschichte vollständig in Vergessenheit. Am Anfang ihrer filmhistorischen Schatzsuche steht Juliettes Frage »Wer entscheidet, was erinnerungswürdig ist?« Sie hat sich auf die Suche begeben und eine Fülle an filmischen Belegen zu Tage befördert. Gudrun Sommer: »Die Entscheidung der Jury steht für einen gesellschaftspolitischen Anspruch, der zugleich einen Generationswechsel zum Ausdruck bringt. Der Film von Juliette Klinke ist ein historisch kluges Plädoyer, ästhetisch anspruchsvoll argumentiert. Beides macht neugierig auf das junge Kino der nächsten Jahre.«
Mit der Preisverleihung ging doxs! in Duisburg zu Ende, und die Duisburger Filmwoche begann. Auf der offiziellen Eröffnungsfeier wurde Gudrun Sommer, die doxs! vor zwanzig Jahren ins Leben gerufen und seither engagiert und ideenreich geleitet und erweitert hat, nun verabschiedet, was wohl nur für auswärtige Gäste überraschend war, aber es ist zu hoffen und zu wünschen, dass sie ihre Gründung »doxs! ruhr« übernimmt und in die spannende Region hineinwirken kann.