02.12.2021

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

The Dance of Ali and Zin
Generationsübergreifender Widerstand mit einem Meer aus Schweigen in Mehmet Ali Konars The Dance of Ali and Zin
(Foto: Mehmet Ali Konar)

In einem an sich schon starken Jahrgang der kurdischen Sektion des 8. Duhok International Filmfestival in der Autonomen Region Kurdistan (Nordirak) ragt vor allem ein Film heraus, der so poetisch wie politisch ist

Von Axel Timo Purr

Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. – Ludwig Witt­gen­stein, Tractatus Logico-Philo­so­phicus

Die Autonome Region Kurdistan im Nordirak ist in den letzten Wochen vor allem durch ihre Flücht­linge in das Zentrum der medialen Aufmerk­sam­keit geraten. Seien es die Kurden, die versuchten, über Belarus nach Polen zu gelangen, oder das erste nament­lich iden­ti­fi­zierte Opfer der Kata­strophe Ertrin­kender auf dem Ärmel­kanal – es sind junge, meist gut ausge­bil­dete Kurden, die durch sinkende Ölpreise und die COVID-Pandemie nicht mehr wie bisher von Struk­tur­an­pas­sungs­maß­nahmen der Regierung aufge­fangen werden und das kurdische Dilemma, ein Volk ohne Staat zu sein, nun in einem wirt­schafts­po­li­ti­schen Kontext repro­du­zieren.

Wie so oft in krisen­ge­schüt­telten Regionen gibt es aber auch in Kurdistan eine gut funk­tio­nie­rende Paral­lel­welt, mehr noch auf einem Film­fes­tival wie dem DuhokIFF, das sich seit seinem Beginn als Tor zur Welt verstanden hat, und mehr noch vor allem dazu dienen soll, über die kultu­relle Schiene kurdische Iden­ti­täts­bil­dung zu fördern. Zwar scheint auch in der perfekten Insze­nie­rung dieses Festivals die Realität durch, gibt es trotz der stadtweit verteilten, ständig brum­menden Diesel­ge­ne­ra­toren sekun­den­lange, kurze Blackouts, und fallen auch hier Kommen­tare zur wirt­schaft­li­chen Misere, berichten Prak­ti­kanten des Filmfests von schweren Zeiten, gibt es aber auch jene, die von fehlender Krea­ti­vität der jungen Gene­ra­tion reden und sich dagegen wehren, einen Staat zu fordern, der wie in Ägypten staat­liche »Abstell­jobs« schafft, die der Staat im Grunde nicht braucht, aber die junge Gene­ra­tion in Sicher­heit wiegt und zum Schweigen verdammt.

Einen der poten­ti­ellen Jobge­ne­ra­toren stellt immerhin die eigene Film­in­dus­trie dar, die seit Jahren über­re­gional Erfolge auf Festivals feiert, aber ange­sichts der volatilen Sicher­heits­lage der Region bislang noch keine wirklich tragende Struktur entwi­ckeln konnte, eine Film­wirt­schafts­ar­chi­tektur, die etwa auch auslän­di­schen Film­pro­duk­tionen konstruk­tive Angebote machen könnte, damit im Ausland populäre Film­themen wie der Krieg gegen ISIS oder das Schicksal der jesi­di­schen Minder­heit nicht etwa in Georgien reali­siert werden, sondern vor Ort.

Ein erster Schritt für eine neue Strategie für den kurdi­schen Film könnte die auf einem Panel im Kongress­zen­trum Duhoks während des 8. DuhokIFF (15.–23. November 2021) formu­lierte Forderung nach einer gere­gelten staat­li­chen Film­för­de­rung gewesen sein, die zumindest vom anwe­senden Kultur­mi­nister und Festi­val­leiter Amir Ali trotz der prekären wirt­schaft­li­chen Lage als realis­tisch einge­schätzt worden ist und ein wenig Hoffnung für die Zukunft macht, auch wenn das poli­ti­sche Blabla und die verzwei­felten Wort­bei­träge der Film­schaf­fenden einen Kontrast bildeten, der auch in Deutsch­land nur allzu oft Alltag ist. Doch gerade in Kurdistan wäre zumindest eine Mini­mal­rea­li­sie­rung der anvi­sierten Ziele tatsäch­lich ein Segen, denn was in diesem Festival-Jahrgang an über­ra­schend viel­fäl­tiger und atem­be­rau­bender Qualität in der Sektion »Kurdi­scher Spielfilm« gezeigt wurde, deutet an, welch erstaun­li­ches Potential dieser Kultur­raum allein schon ohne große Förde­rungen frei­ge­legt hat und was noch alles möglich sein könnte.

Denn nicht nur Filme wie die kurdische Taxi Driver-Version Dirty Lands mit einem groß­ar­tigen Hallo Ramshty in der Haupt­rolle, die so unter­schied­li­chen Flücht­lings­dramen Little Refugee und Landless mit ihrem iden­ti­täts­bil­denden und natio­nal­trau­mata-bewäl­ti­genden Anspruch beein­druckten, sondern auch eine erzäh­le­ri­sche Perle wie Okul Tirasis Brother’s Keeper mit seiner visuellen Kraft, inhalt­li­chem Nihi­lismus und subtilem Humor, der einen ähnlich vers­tö­renden Kinder­heim-Mikro­kosmos entfaltet wie 2014 Myroslaw Slabosch­pyz­kyjs großes Jugend­drama The Tribe. Aber auch stilis­ti­sche Grat­wan­de­rungen waren zu sehen. So wie etwa die poli­ti­sche Horror-Groteske Zalava und die semi­do­ku­men­ta­ri­sche Vater­lands­suche Sidik And The Panther, die den kurdi­schen Refe­renz­raum nicht nur um Vergan­gen­heit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft erweitert – ohne sich davor zu scheuen, auch auf roman­ti­sche Ideale und Bilder wie jene Caspar David Fried­richs zu verweisen und sie in den kurdi­schen Iden­ti­täts­dis­kurs einzu­binden.

Diese unge­wöhn­liche Komple­xität findet sich auch in dem wohl stärksten Film der Sektion, dem mit dem FIPRESCI-Preis ausge­zeich­neten The Dance of Ali and Zin von Mehmet Ali Konar. Der mit einem Budget von 20.000 Dollar reali­sierte zweite Film Konars erzählt die Geschichte einer kurdi­schen Familie in der Türkei. Nachdem ein Sohn in türki­scher Haft stirbt, entscheidet sich die Mutter gegen den Willen ihres erst­ge­bo­renen Sohnes und der übrigen Familie, ihrem jüngeren Sohn zumindest noch eine Hochzeit auszu­richten, um sein Leben nicht »unvoll­endet« verblühen zu lassen.

Der Konflikt nicht nur mit der Familie, sondern auch den türki­schen Behörden wird über das über­ra­gende Ensemble um Suat Usta, Korkmaz Arslan, Maryam Boubani und Diman Zandi in eindrück­li­chen, immer wieder wortlosen, aber blick­in­ten­siven und gestik-betonten Dialogen darge­stellt und über ein fili­granes Sound­de­sign (Toke Borson Odin, Xebat Asmi) und eine eindrück­liche Cine­ma­to­gra­phie (Deniz Enyüksek) noch einmal verstärkt. Konar lässt sich dabei immer wieder ausrei­chend Zeit, um seine Charak­tere zu vertiefen, erzählt von Alltags­ri­tualen wie Einkäufen in der Provinz­haupt­stadt, den Auto­fahrten übers Land, dem gemein­samen Essen und dem Ernten von Honig, um fast nebenbei ein zu Anfang noch undurch­schau­bares Bezie­hungs- und Hier­ar­chie­netz­werk mehr und mehr zu entblät­tern und damit zu erklären.

Dabei hat Konar nicht nur den Mut, etwa über eine während der Hoch­zeits­musik wehende Jacke im Wind oder die finale Einstel­lung der unter­ge­henden Sonne mit poeti­schen Mitteln nicht nur familiäre Prozesse zu erklären. Denn mehr noch gelingt es Konar über eine im kleinen und privaten, auf der Mikro­ebene der Gesell­schaft erzählte Geschichte, die tief­lie­genden Konflikte und Probleme des türkisch-kurdi­schen Konflikts zu präsen­tieren – so archaisch wie poetisch als auch eindrück­lich realis­tisch und nicht zuletzt zutiefst politisch. Und in eine Sprache, bzw. ein Schweigen einge­bunden, das zum einen subtil-komplexes Kommu­ni­ka­ti­ons­mittel, zum anderen das letzte verblie­bende Mittel des Wider­stands ist.

Da Konar diesen Konflikt jedoch nie ganz ins erzäh­le­ri­sche Zentrum stellt, gelingt es ihm gleich­zeitig, eine univer­selle, fast schon biblische Geschichte über verlorene Liebe, verlorene Fami­li­en­bande und eine verlorene Heimat zu erzählen, die gerade in unserer von Migra­ti­ons­pro­zessen geprägten Gegenwart einen dankbaren Reso­nanz­raum finden sollte.