Carte Blanche für das Kino |
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Aus Bolivien meldet sich mit El Gran Movimiento das lateinamerikanische Dritte Kino eindrucksvoll zurück | ||
(Foto: IFF Mannheim) |
Schon das Programm des letzten Jahres, das pandemiebedingt nur online stattfinden konnte, ließ die neue Handschrift von Festivalleiter Sascha Keilholz und dem organisatorischen Programmleiter Frédéric Jaeger deutlich erkennen. Nun konnte das IFFMH zum 70. Jubiläum dieses Jahr auch wirklich im physischen Raum des Kinos geschehen, und da zeigte sich auf der konkreten Leinwand umso mehr die tatsächliche Präsenz und Strahlkraft der programmierten Filme: eine reiche Auswahl aus
dem Weltkino mit Filmen, die Grenzen aller Art ausloten (»Pushing the Boundaries«, wie die entsprechende Reihe heißt) oder aufstrebende, vielversprechende Talente präsentieren (»On the rise«, so die andere Kernreihe des Festivals). Als hätte das Team des Festivals dem Kino selbst eine Carte blanche eingeräumt, so überkommt einen das dicht gewebte Programm, das die von Film zu Film Taumelnden in einen regelrechten Trancezustand versetzt, der das trüber Novemberwetter im Außenraum
vollends hinter einer Cinétrance verschwinden lässt.
Aus der Fülle des Angebots seien hier stellvertretend einige Highlights aus dem spanischsprachigen Bereich herausgegriffen.
Ainhoa Rodríguez bringt mit ihrem ersten Langfilm Destello bravío eine Art Sittenbild aus der spanischen Provinz, der Region der Extremadura, und zwar aus einem Dorf, das unter den Folgen der Landflucht vor allem der Jüngeren zu veröden droht. Nur bürstet die Regisseurin das in Spanien seit der Romantik wohlbekannte Genre des ländlichen Sittenbildes des »cuadro de costumbres«, das Land und Leute in folkloristischer Verbrämung zeigt, ordentlich gegen den Strich. Nicht dass der Film auf Lokalkolorit ganz verzichten würde, er bietet sogar wunderschöne Aufnahmen von der abgelegenen ländlichen Region. Doch es erfolgt eine signifikante Verschiebung der Perspektive, eine sanft-abstruse Ver-Rückung der Koordinaten, die den extrem patriarchalen Verhältnissen hier widerfährt. Es ist die Perspektive gerade der nicht mehr jungen und der alten Frauen im Dorf, die in der Reihe der sorgfältig kadrierten Tableaus mit manchmal auch aggressivem Humor entschieden zur Geltung gebracht wird. Einiges erinnert an Buñuels transgressive Phantasien, nur dass sie hier eine dezidiert feministische Umpolung erfahren, wenn etwa die spät nachhause kommende Frau den bereits zur Nachtehe gebetteten Gatten noch einmal aufstehen und auf eine Leiter steigen lässt, damit er an der Zimmerdecke lecken und herausfinden kann, ob diese noch genauso wie immer schmeckt: Einerseits eine leicht erkennbare Freud'sche Traumverschiebung, anderseits als konkretes Bild in seiner schrägen Absurdität unschlagbar komisch. Auch ein zunächst wohl gesittet wirkendes Damenkränzchen gerät bald aus den Fugen, wenn die immer lasziver werdenden Gesten in Posen mystischer Verzückung übergehen.
Die eine oder andere Befremdlichkeit, die eine übersinnliche und phantastische Dimension einfließen lässt, mag entbehrlich erscheinen, doch bekommen Tableaus dadurch durchaus einen weiteren Drall ins Abgefahren-Aberwitzige, der letztlich gut spürbar macht, wie durch diesen ländlichen Kosmos ein Sturm fegt, oder besser, wie darin der titelgebende heftige Blitz einschlägt. Ein Blitz, der alles schmerzhaft erhellt und überscharf in seinen Eigenarten ausstellt. Kein zerstörerischer Blitz, sondern einer, der das Ungeheuerliche als Entgrenzung und Erweiterung der vertrauten Welt begrüßt. Ein Film, der auch als Liebeserklärung an eine Heimat zu lesen ist, die keinesfalls verloren gegeben wird.
Ein anderes Sittenbild, El Fulgor von Martín Farina aus Argentinien, setzt ebenfalls eigenwillige Akzente. Auch in Lateinamerika diente die aus dem kolonialen Mutterland Spanien bezogene kostumbristische Tradition zur Charakterisierung regionaler Besonderheiten, allerdings mit dem Hintergedanken, den sich emanzipierenden Nationen im Ablösungsprozess der Entkolonialisierung ein eigenes Identifikationsprofil zu bieten. Das Genrebild verkleidet sich hier bei Martín Farina in mit dokumentarischem Gestus erfassten Aufnahmen als delirierendes Trugbild, das dem Nachmittag eines schwulen Fauns zu entspringen scheint. Nackt inmitten des Grüns erblickt oder imaginiert er die Handgriffe und die Tätigkeiten der Männer auf einer Rinder- und Pferderanch in der Pampa, der argentinischen Nationallandschaft schlechthin, die seit dem 19. Jahrhundert in Gaucho-Epen und Gaucho-Romanen als Resonanzraum für die Staatsbildung dient. Der Kamerablick transportiert schwules Begehren vor allem dann, wenn er die Vorbereitungen der Männerkörper für den Karneval beobachtet, wie sie sich schminken, die Haut mit Flitter bestäuben, sich in ihre knappen Kostüme zwängen, wie sie schließlich beim Karnevalsumzug in Ekstase geraten. Das alles wird nicht in einer kontinuierlichen zeitlichen Abfolge entwickelt, sondern als suggestive Montage von Fragmenten und Impressionen, von Aufnahmen in Farbe und in Schwarz-Weiß dargeboten. Krude Fleischteile, in die geschlachtete Tiere zerlegt werden, auf Zäunen aufgespießt, von Vögeln zerpickt, Gerätschaften wie Messer und Jagdgewehre, Insignien der Gaucho-Maskulinität, nackte Haut, Tätowierungen, Karnevalsglamour mit Elementen von Camp-Ästhetik, bukolische Szenerien: Imaginäres und Sinnliches vermählen sich hier auf betörende Weise. Die materialorientierte Arbeitsweise dieses Films zeigt sich auch daran, dass einige der Einstellungen parallel in einem dokumentarischen Werk über den Karneval in Buenos Aires Verwendung fanden, in einem Film von Marco Berger, mit dem Martín Farina im Übrigen öfter zusammenarbeitet, um schwule Sujets aus Argentinien zu gestalten.
Aus einem Land in Lateinamerika, das selten mit Filmen aufwartet, stammt schließlich eines der beeindruckendsten Werke dieses Festivals, das im Jubiläumsprogramm »Film Experience 2021« als einer der besonders herausragenden Höhepunkte des Jahres präsentiert wurde. El gran movimiento, der zweite Film von Kiro Russo, kommt aus Bolivien. Wie Jorge Sanjinés, der große Filmemacher Boliviens, der in den 60er Jahren jenseits von Hollywood und dem
europäischen Autorenfilm das sogenannte »Dritte Kino« in Lateinamerika mitbegründete, setzt er mit ästhetischer Radikalität vor allem sozial prekäre Verhältnisse ins Bild.
Minenarbeiter, zu Protestkundgebungen in die Hauptstadt La Paz gekommen, dort gestrandet, verdingen sich als Tagelöhner. Elder, einer von ihnen, trägt eine kräftezehrende Krankheit in den Lungen. Eine der Frauen vom Markt glaubt in ihm ihren Patensohn zu erkennen; Max, ein Bekannter von ihr, eine Art
Schamane, den immer wieder Visionen heimsuchen, versucht mit magischen Tränken und Zeremonien, die Krankheit zu heilen.
Diese narrativen Linien werden nur schemenhaft skizziert, der Film stellt mehr ein quasi-dokumentarisches Portrait der Stadt La Paz dar, vor allem des Milieus der Marginalisierten und Armen. Es entstehen dabei eindrucksvolle Bilder voller Friktionen und Reibungen, in denen immer wieder die Straßen und Transportmittel in der hoch in den Anden gelegenen
Stadt eine Rolle spielen. Die »große Bewegung« des Filmtitels nimmt einmal Bezug auf die von den Figuren zurückgelegten Wege in den engen Gassen, auf den Märkten, in der grandiose Blicke eröffnenden Seilbahn. Die andere Bewegung ist eine politische, die Protestbewegung, die die Arbeiter in die Hauptstadt führte. Die dritte Bewegung ist eine spirituelle Bewegung, die immer wieder Weitungen des Blickes in einen geistigen Gegenraum schafft, eine innere Reise, die dem fieberkranken
Elder Visionen eingibt. Die andere, die eigentlich große Bewegung ist eine des filmischen Mediums selbst. Neben den choreographierten Bewegungen der Kamera entwickelt das filmische 16mm-Material eine rauhe Eigenbewegung, sowohl bei der körnigen Reibung in den Bildern als auch bei der schroffen Montage, die es immer wieder schafft, die Aufnahmen über eine bloße dokumentarische Abbildlichkeit hinauszukatapultieren. Der visionäre Raum des Schamanen, des Fieberkranken oder der
Kokablätter kauenden Minenarbeiter erschließt eine neue Dimension und Qualität der Filmmaterials. Das gipfelt etwa in einem großartigen Tableau der Marktfrauen oder in einer videoclipartigen Tanzeinlage auf dem Markt, Sequenzen, die die Tristesse der Verhältnisse auf wundersame Weise aufheben, ohne sie auszustreichen.
Die Verzauberung und Trance, die Kiro Russos »große Bewegung« erzeugt, ist eben genau von der Beschaffenheit, die einen beim IFFMH von Film zu Film
trägt.