Panikattacke |
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In sich ruhender liebster Film: Haruhara-San’s Recorder | ||
(Foto: IFFMH 2021) |
Von Dunja Bialas
Sorgfältig nimmt die Frau die Maske ab, legt sie streichelnd zusammen. Wenn die Gäste in dem Café, in dem sie arbeitet, Tee trinken, blicken sie aus dem Fenster, wie hypnotisiert durch den Bach, der in der Ferne rauscht, und von dem Baum, der einfach nur ruhig dasteht, seine Knospen Blüten treiben und die Blätter abfallen lässt, je nach Jahreszeit. Haruhara-San’s Recorder des Regisseurs Kyoshi Sugita ist eine Lehrstunde in Entschleunigung und Achtsamkeit. Er wendet sich den kleinen, übersehenen Momenten des allzu flüchtigen Alltags vor dem Hintergrund einer unüberwindbaren Trauer zu. Die Blockflöte im Titel hebt aber auch auf eine der wenigen Slapstickszenen dieses in sich ruhenden und atemberuhigenden Films an.
Der berückende Film erhielt beim 70. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg, kurz IFFMH, eine lobende Erwähnung. Zu wenig eigentlich für eine der schönsten Entdeckungen, die man auf dem wiedergeborenen Festival für den »Newcomer«-Film, wie es früher hieß, machen konnte. Der Film ist emblematisch für das seit letztem Jahr mit Sascha Keilholz neu aufgestellte, traditionsreiche Festival (siehe unser Interview), das in diesem Jahr sein 70. Jubiläum feierte. Im ersten Jahr der Präsenzveranstaltungen offenbarte sich ganz unmittelbar, was letztes Corona-Jahr mit einer reinen Online-Ausgabe noch abstraktes Statement bleiben musste, weil sich die architekturalen Programmzusammenhänge als Deleuze'sche Fluchtlinien im unendlichen Hyperraum des World Wide Web verloren.
»Keilholz und sein Team«, wie es etwas despektierlich für die anderen Festival-Mitwirkenden bei der Eröffnung hieß, hatten zum ersten Mal ein zehntägiges Festival in zwei ihm bis dato unerprobten Städten vorbereitet – Festivalleiter Sascha Keilholz wurde aus Regensburg »berufen«, sein Programmchef Frédéric Jaeger leitete vormals die Woche der Kritik Berlin, andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind ebenfalls neu in Mannheim. Wie Haruhara-San’s Recorder ist ihnen die Sorgfalt und die Achtsamkeit in der Auswahl zu eigen. Jeder Film scheint handverlesen, mit Bedacht auf die kinematographische Besonderheit programmiert, das Neue jedoch nicht unvermittelt als »Newcomer« in den Kinoraum gebeamt, sondern in die Zusammenhänge von Tradition und Filmgeschichte gestellt. Dabei ließ sich eine große Leidenschaft der Programmer für das Kino vermerken. Die Kinos in Mannheim und Heidelberg – und nicht nur vor allem das Stadthaus als typischerweise unpersönliches Kulturzentrum – waren in das Festival integriert, und das IFFMH wirkte als Plädoyer für den dunklen Kinosaal und einen in Bedrängnis geratenen Kulturort.
Unter dem Eindruck der sich gerade auftürmenden vierten Corona-Welle geriet so auch jede Filmvorführung zum vielsagenden Statement, umso mehr als die Filme geradezu auf die Leinwand drängten und sich in einem kinematographischen Tsunami über das Publikum ergossen, das sich euphorisiert von dieser Welle mitreißen ließ: Es erlebte die Nouvelle Vague Mannheim.
Das siebzigjährige Mannheimer Erbe wurde auch im zweiten Keilholz-Jahr gepflegt. Werke »alter Meister« – die ja schließlich auch einmal jung gewesen waren und die Filmsprache neu gedacht hatten, ergänzten die ersten, zweiten oder dritten Filme einer neu aufstrebenden Generation. In einer Hommage wurde der 84-jährige Claude Lelouch mit vier Filmen geehrt, darunter der heute kanonisierte Ein Mann und eine Frau, in dem Lelouch erstmals seiner Leidenschaft für rasante Autos und musikvideohafte Sequenzen nachgab.
Die Urgesteine des filmischen Aufbruchs zu ehren, war in Mannheim-Heidelberg bis auf die letzten Jahre immer Tradition. Ihnen junges Filmschaffen gegenüberzustellen, zeugt von einem unverrückbaren Glauben an die Zukunft des Kinofilms, der sich nur in Kenntnis der Tradition – und nicht etwa durch neue Technologien oder medienkonforme Anpassungen – erneuern lassen wird.
Im Wettbewerb »On the Rise« waren sechzehn Werke zu sehen, die zumeist auf internationalen A-Festivals Premiere gefeiert hatten. Allesamt Filme mit einem »Punctum«, von dem Roland Barthes bei der Fotografie gesprochen hatte, ein Punkt, der sich im Auge festsetzt und auf andere Art zu berühren weiß als über das Dargestellte. Nennen wir es das Kinematographische. Im Grunde waren die Filme des Wettbewerbs, und das soll jetzt nicht hochtrabend klingen, selbst- und metareflexive Filme, die auf letzter Bedeutungsebene immer das Kino selbst meinten.
Der Gewinner des International Newcomer Award Il Buco des italienischen Regisseurs Michelangelo Frammartino (Le quattro volte) konnte das historisch Dokumentarische durch Reenactment wiederbeleben – und gab eigentlich einer Hassidee des Dokumentarischen eine Bühne. Frei von falscher Patina und Vergangenheitskitsch reinszenierte der Film den Abstieg in eine vertikale Höhle, fast 700 Meter unter der Erde. Die Expedition fand im Piemont im Jahr 1961 statt und wurde für den Film nach den Originaldokumenten nachgestellt, unter Verzicht auf emotionsreiche Dramatisierung und den für Abenteuerfilme üblichen romantischen und pseudo-existentiellen Plot. Weit und breit kein Spielfilmeinfall, um künstlich für Aufbauschung und Aufregung zu sorgen, wo doch das Leben und die in Heidegger’schem Gleichmut daseiende Natur schon spannend genug sind.
Antoinette Boulat ist nach langen Jahren der Caster-Tätigkeit für Regisseurinnen wie Mia Hansen-Løve (zuletzt bei Bergman Island) eine Quereinsteigerin ins Regiefach. Ihr Debüt Ma Nuit (Ecumenical Award) erzählt die Trauerarbeit einer Jugendlichen als Driftergeschichte und klingt als entferntes Echo der Jugendbewegung »Nuit debout« noch lange nach. Der Amerikaner Skinner Meyers wiederum greift die Diskurse der Jugend in The Sleeping Negro als erodierende Dauerdiskussion auf. Sein Film ist ein Statement der privaten Unsicherheiten und Diskursverwirrungen in Zeiten von »Black Live Matters« und wurde mit dem Preis der Fipresci ausgezeichnet.
Insgesamt war das Programm von Mannheim-Heidelberg eine cineastische Offenbarung, bei der auch schwächere Filme immer noch interessanter waren als der gängige Festivaldurchschnitt. Rien à foutre (Zero Fucks Given) von Julie Lecoustre und Emmanuel Marre (Rainer Werner Fassbinder-Award für das beste Drehbuch) zeigte eine Stewardess (Adèle Exarchopoulos) auf sehr einfühlsame Weise am Rande des Nervenzusammenbruchs (Erinnerungen an Pia Marais’ großartigen Im Alter von Ellen drängten sich auf); der argentinisch-urguayische El emplado y el patrón (The Employer and the Employee) von Maneul Nieto Zas zeigte die Vergeblichkeit der Rebellion (mit dem Rancho-Gestus eines Carlos Reygadas). Das Jubiläumsprogramm zum Siebzigsten hatte internationale Festivals mit einer Carte Blanche eingeladen, Sitges spielte mit dem norwegischen The Innocents die Horror-Fantasy-Karte, während das Montreal World Film Festival mit La bruit des moteurs des Québec-Kanadiers Philippe Grégoire eine fantastische Groteske mit lauten Motoren und strengen Zollkommissarinnen zückte.
Man wird sich das Festival von Mannheim-Heidelberg in Zukunft fest in den Jahreskalender eintragen müssen. Dumm nur, dass dieses Jahr auch andere lohnenswerte Festival in den Zeitraum drängten, besonders mit der Duisburger Filmwoche sollte doch in Zukunft die terminliche Kollision vermieden werden. Das führt unweigerlich zur Panikattacke, mit der verstärkten »Fear of missing out«, die Angst etwas zu verpassen – kurzzeitig wurde deshalb sogar darüber nachgedacht, für das zweite Wochenende noch einmal nach Mannheim zurückzukehren, trotz des Online-Angebots dieser hybriden Ausgabe.
Mit einem hochkarätigen Filmprogramm, einem klaren Bekenntnis zum Kinosaal und einer Diskursfreudigkeit, mit der Mannheim bisweilen noch fremdelte, hat diese zweite Ausgabe unter neuer Leitung die deutsche Festivallandschaft neu kartographiert. An Mannheim-Heidelberg führt jetzt kein Weg mehr vorbei.