Mein türkisches Leben |
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Dirk Schäfer (li.) mit Freunden | ||
(Foto: Dirk Schäfer) |
Von Dirk Schäfer
Auf den Universalgelehrten Alexander von Humboldt geht wohl der Satz zurück: »Alles hängt mit allem zusammen.« Wie wunderbar klar und klug das klingt. Man könnte stattdessen auch sagen, dass wir uns selbst in allerlei Umstände und Zusammenhänge verstricken, die erst in der Rückschau ihre eigenwillige Pracht entfalten. Mein Leben ist ein gutes Beispiel dafür.
Als ich am fünften März 1961 zur Welt kam, waren meine Eltern kurz davor, in einer Kleinstadt in Hessen ihre eigene Apotheke zu eröffnen. So wie es vor ihnen schon mein Großvater getan hatte. Sie ahnten nicht, dass ich später einen ganz anderen, künstlerischen Beruf ergreifen und für viele Jahre in die Türkei auswandern würde. Und das hatte auf schicksalhafte Weise mit einem besonderen Ereignis zu tun, das ebenfalls im Jahr meiner Geburt stattfand. Denn als im August 1961 die Regierung der DDR begonnen hatte, West-Berlin einzumauern und die Grenzen für ihr Volk zu schließen, fehlten plötzlich jene Arbeitskräfte, die zum Geld-Verdienen in den Westen gependelt waren. Also gab die deutsche Regierung dem Druck der US-Amerikaner nach und unterzeichnete ein Abkommen mit dem eher ungeliebten NATO-Verbündeten Türkei: von nun an durften sich offiziell vorübergehend Menschen aus Anatolien in Deutschland als »Gastarbeiter« verdingen. Obwohl sie hier von den meisten Einheimischen lange quasi ignoriert oder gar diskriminiert wurden, bahnte sich für mich damals schon an, was ich mein zweites, »türkisches« Leben nennen möchte. Doch zunächst musste ich das Tal der donnernden Hufe durchqueren, die Pubertät.
Mit zwölf Jahren wechselte ich auf das Karl-Rehbein-Gymnasium in Hanau, wo mir zum ersten Mal ein türkeistämmiger Schulkamerad begegnete: Yalçin war von seinen Eltern aus Izmir nach Deutschland geholt worden, weil sein Großvater den Jungen dort nicht mehr bändigen konnte. Er war zwei Jahre älter als ich und hatte bereits einen beachtlichen, schwarz schimmernden Schnurrbart. Seine Eltern waren in Hanau bei der Firma Dunlop beschäftigt, wo ihre Arbeitskraft bei der Herstellung von Reifen und Tennisbällen zum Einsatz kam.
Kurz zuvor hatte ich im Fernsehen etwas gesehen, das in mir ein heilsames Beben auslöste: Acht Stunden sind kein Tag, die fünfteilige Serie von Rainer Werner Fassbinder, mit einem unwiderstehlichen Figurenensemble, zu dem auch Charaktere wie Yalçins Eltern gepasst hätten. Tatsächlich drehte Fassbinder ein Jahr später das erste Melodram über das Zusammenleben von Deutschen und Migranten: Angst essen Seele auf (Arbeitstitel ALLE TÜRKEN HEISSEN ALI), von ihm selbst als sein schönster Film bezeichnet, wurde am fünften März 1974, also am Tag meines dreizehnten Geburtstags, in München uraufgeführt.
Am gleichen Tag feierte noch ein anderer Rebell und Poet des Kinos Geburtstag: Pier Paolo Pasolini, der damals 52 wurde und nur noch anderthalb Jahre zu leben hatte, bevor man ihn brutal ermordete. Seine Filme, die ich später voller Bewunderung und beinahe andächtig anschaute, trafen mich mit voller Wucht. Einer davon war die Verfilmung des antiken Stoffes Medea. Ohne es zu wissen, sah ich darin zum ersten Mal Bilder aus dem Land, in dem ich später leben würde. Denn Pasolini hatte im westanatolischen Kappadokien das geeignete Licht und die Landschaft für die Schlüsselszenen der mythologischen Sage gefunden. In seinem Tagebuch schrieb er: Es gibt hier wilde Obstbäume, mit viel Grün, und so klein und unverfälscht, dass einem die Tränen kommen.
Zwanzig Jahre später begleitete mich ein Schafhirte durch dieselbe, bizarre Landschaft mit ihren haushohen, ausgehöhlten Tuffstein-kegeln, die man auf Türkisch »Peri Bacaları« nennt, Feenkamine. Es war der Frühling 1989, unmittelbar nach dem errechneten Ende des Fastenmonats Ramadan, und das letzte Ziel meiner ersten Türkeireise. Zuvor hatte ich das östliche Schwarze Meer, dann die Region um den Berg Ararat und schließlich den Van-See, das Meer in den Bergen, auf eigene Faust erkundet. In der Provinz Van entstand später mein Film Eine Art Liebe, die dokumentarische Erzählung vom fremd-bestimmten Leben des jungen Kurden Nevzat, der im Alter von 15 Jahren zwangsverheiratet wurde.
Meine erste Reise in die Türkei hatte mit einem Bustransfer von West- nach Ost-Berlin begonnen, denn damals war die Stadt noch durch die Mauer getrennt, und die Boeing 727 der Turkish Airlines konnte nur von Schönefeld aus starten. Nachdem ich einen Monat später aus Ankara in meine Wohnung am Hermann-Platz zurückgekehrt war, lag ich meinen Freundinnen und Freunden hemmungslos in den Ohren – mit Schilderungen aus jener bäuerlich geprägten, mutmaßlich verloren gegangenen Welt, wie ich sie bislang nur aus Filmen von Pasolini oder Regisseuren des italienischen Neorealismus kannte.
Erste Konsequenz war, dass ich mich auf die Zeitungsannonce von Ali Levent meldete, einem Jurastudenten aus Charlottenburg, der privaten Türkischunterricht anbot. Gleich in der ersten Stunde bekam ich einen Vorgeschmack auf die folgenden Monate, in denen ich mir vor allem die Grammatik dieser übermächtigen Sprache aneignete. Einer der Übungssätze aus der ersten Stunde, der sich auf das Anfügen von Affixen bezog, lautete wie folgt: Otobüslerimiz garajlarımızdadır! – Unsere Autobusse befinden sich in unseren Garagen! Das habe ich nie vergessen.
Nach sechs Monaten hatte ich dank des strengen Ali Levent die Basis für mein Türkisch gelegt. Zur gleichen Zeit wurde die Berliner Mauer, die man im Jahre meiner Geburt hochgezogen hatte, Stein für Stein wieder abgerissen. Das machte auch das Reisen in die Türkei leichter, und von nun an begab ich mich jedes Jahr für einige Wochen in meine zweite Heimat.
Die Übergänge waren sanft, lebte ich doch in Berlin-Kreuzberg, wo ich mehr und mehr in die türkisch geprägte Kulturszene eintauchte. Hier traf ich eines Tages auch auf einen Schauspieler, der wie ich 1961 zur Welt gekommen war und bereits aufgrund seiner Kompromisslosigkeit unter uns Filmemachern gerühmt wurde: Birol Ünel.
Birol war als Angst einflößender Antagonist in der Verfilmung einer hochdramatischen Geschichte aus dem Kosmos türkeistämmiger Jugendlicher vorgesehen, dem ersten langen Spielfilm von Neco Çelik. Sein Drehbuch mit dem wunderbar subversiven, irreführenden Titel ALLTAG war das Beste, das ich seit Jahren gelesen hatte. Also entschloss ich mich, meine Karriere als Regisseur vorübergehend auf Eis zu legen, und widmete mich als Produzent der Verwirklichung von Necos
Film. Es war die Zeit kurz vor dem Millennium und Deutschland hatte gerade seinen ersten türkeistämmigen Regisseur hervorgebracht: Fatih Akin, dessen Debütfilm Kurz und schmerzlos unter die Haut ging. Es stellte sich allerdings heraus, dass für Neco neben Fatih kein Platz mehr vorgesehen war. Zumindest nicht mit der Urfassung seines Drehbuches. Die Geschichte war wohl zu türkisch, oder wie kann man
es sich sonst erklären, dass der Bayerische Rundfunk erst bereit war, den Film zu finanzieren, nachdem Neco aus der zutiefst berührenden Hauptfigur mit Namen Osama (2 Jahre vor 9/11) einen deutschen Jungen gemacht hatte? Auch Birol tauchte in der eingedeutschten, gemäßigten Version nicht mehr auf. Und ich kündigte meine Wohnung in Berlin und reiste zum ersten Mal mit allen Konsequenzen ohne Rückflugticket nach Istanbul.
Die Zeit, die darauf folgte, gehört zu dem Beglückendsten in
meinem Leben. Aber nicht, weil sie so rosig oder komfortabel war. Ich habe sicher nie mehr und intensiver gearbeitet und häufiger schlaflose Nächte verbracht – ob als Lehrer an einer privaten Universität, in meiner Rolle als interaktiver Stadtführer durch Istanbul oder als Dokumentarist für den Fernsehsender Arte.
Aber ich war auch mehr verliebt, wurde wiedergeliebt und verlangte Herz und Verstand alles ab. Und als eines Tages aus meinem Munde zum ersten Mal das Wort Estağfurullah erklang – als besänftigende Reaktion auf einen Freund, der mich um Verzeihung bat, weil er mich nicht habe zu Wort kommen lassen, obwohl ich doch einen langen Weg durch die Stadt auf mich genommen hatte – da war das Glück vollkommen. Denn mit diesem Wort aus dem Arabischen, das die Scham eines anderen mildern soll, indem man die eigene Scham zum Ausdruck bringt, war ich für einen Augenblick Teil dieser rätselhaften Bruder- und Schwesternschaft, die sich hier, vor den Toren Europas, auf magische Weise entfalten konnte.
Das bittersüße Gefühl schicksalhafter Verbundenheit ergriff mich auch beim Betrachten eines Schwarzweißfotos, das einen jüngeren Mann aus der Türkei zeigt, der wohl in den 60er Jahren nach Deutschland eingewandert war. Das Bild wirft die Frage auf, warum er sich mit einem anderen Originalfoto aufnehmen ließ, das er sich vorne in den Ausschnitt seines Pullovers steckte. Darauf ist offensichtlich seine eigene, von ihm weit entfernte Familie zu sehen. Womöglich hatte man bedauert, nicht auf dem Bild vereint zu sein. Aber er hat es nachträglich auf einfache und geniale Weise gelöst – eben alla turka!
Dort, wo sich am asiatischen Ufer Istanbuls die Mühürdar und die Yasa Straße kreuzen, stieß ich eines Tages auf Worte, die in eine Marmorbordüre in den Boden eingelassen sind. Sie geben die Bedeutung wieder, die im ursprünglich griechischen Namen Anatolien aufgegangen ist: Işık doğudan yükselir – das Licht (die Sonne) steigt im Osten empor. Diese Stelle auf einem kleinen Platz in Kadıköy wurde fortan zu meinem Treffpunkt, wenn ich mit Damla, Erkan, Ümit oder einem der anderen, von mir Geliebten, verabredet war.
Nun sind also gut 60 Jahre vergangen, seitdem ich auf der Welt bin. Und genauso lange ist es her, dass erstmals Menschen aus der Türkei offiziell zu uns nach Deutschland einwandern durften. Und auch wenn bisweilen vor Ort ein Klima der Rachsucht meine naiven Liebesbezeugungen zu ersticken droht, ist es Zeit für mich, diesen Menschen zu danken. Denn hätte es sie nicht gegeben, wäre ich weniger tief verwurzelt, in unserem wundersamen Dasein – in dem alles mit allem zusammenhängt.
Dirk Schäfer ist ein deutscher Regisseur von Dokumentar- und Spielfilmen.
Sein Gastbeitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung.