Nicht locker lassen |
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Im Arbeitskäfig neuer Dienstleistung: Sorry We Missed You | ||
(Foto: NFP/Filmwelt) |
Von Dunja Bialas
»Sorry, we missed you« – so persönlich heißt es in England, wenn einen der Paketbote nicht angetroffen hat. Der Lockdown des Einzelhandels hat in den Corona-Jahren die Internet-Bestellungen explodieren lassen. So meldet der Handelsverband Deutschland im »Online-Monitor 2021« einen »sprunghaften Zuwachs« von 13,6 Milliarden Euro (23 Prozent) gegenüber dem Vorjahr und einen Umsatz des Onlinehandels in Deutschland von 73 Milliarden Euro. Davon fallen allein 53 Prozent auf Amazon.
Jeder kennt die unscheinbaren weißen Vans des Versand-Riesen, mit dem eine neue Dienstbotengeneration unabhängig vom sozialen Status einem die Ware direkt ins Haus liefert – oder eben beim Nachbarn abgibt. Ken Loach, das soziale Gewissen der Filmemacher, hat schon vor dem Boom die Zeichen der Zeit erkannt und mit Sorry We Missed You einen seiner besten Film der jüngeren Zeit hingelegt. Auf Filmmaterial gedreht, verströmt seine Erzählung über den Paketboten Ricky aus jedem einzelnen Bildkorn echte Verzweiflung und aufrichtige Anklage. Ricky verschuldet sich, um mit einem Van sein eigenes Produktionsmittel in der Hand zu halten, das er wiederum als Kapitaleinlage in die abhängige Beschäftigung bei einem Versandlogistiker einbringt. Zustellungsstress, unfreundliche Paketempfänger, sprichwörtliche Hunde und zuhause eine sorgenvolle Familie, weil das Geld hinten und vorne nicht langt, setzen ihm zu, bis es zur Katastrophe kommt.
Ken Loachs Sorry We Missed You ist ein wichtiger Film, der jeden unmittelbar etwas angeht. Erstens bestellen wir so viel wie noch nie, siehe oben, zweitens steht es im Vermögen eines jeden Einzelnen, netter zum Lieferanten zu sein. Drittens kommen vielleicht auch hier bald die Notwendigkeit für höhere Löhne und die Einsicht, das eigene Verhalten wieder umzustellen und die Geschäfte der Innenstädte zu retten. Entsprechende Berichte über Essenslieferanten haben schon Wirkung gezeigt.
Ken Loachs spätes Meisterwerk ist im Filmmuseum München im Rahmen von »FilmWeltWirtschaft« zu sehen (Samstag, 22.01.22, 19 Uhr), eine Reihe, die Filme mit fachkundigen Diskussionen verbindet. Letztes Jahr fiel die Reihe wegen der Corona-Schließungen der Kinos aus, dieses Jahr kann sie wieder stattfinden, wenn auch eingeschränkt. »Nicht locker lassen«, hat die stellvertretende Filmmuseumsleiterin Claudia Engelhardt so auch sehr treffend diesmal ihre Reihe genannt – ein Spruch, der auch auf die Kultur insgesamt zutrifft.
Im Blick stehen fünf Filme, die auf unterschiedliche Weise demonstrieren, wie sanfter Widerstand gegen die Verhältnisse geht. Ruth Bader Ginsburg, ranghöchste Richterin der USA, verstarb im September 2020 im Alter von 87 Jahren, kurz vor Donald Trumps Amtsende, was ihm ermöglichte, die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Exekutive zugunsten der Republikaner zu verändern (die Waffenbefürworterin und Abtreibungsgegnerin Amy Coney Barrett folgte im Oktober 2020). Welcher Verlust das Ableben von Ruth Bader Ginsburg oder RBG, wie ihre Anhänger sie kurz nannten, bedeutet, zeigt sich im faszinierenden Portrait der Regisseurinnen Julie Cohen und Betsie West RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit (2018). Ginsburg war eine der ersten Jura-Studentinnen der Geschichte und lange Zeit einzige Jura-Professorin. Aus ihrer spezifischen Erfahrungswelt als Frau kam sie zu einer humanistisch-feministischen Gesetzgebung, die konsequenterweise auch den Männern in traditionell femininen Bereichen mehr Rechte zugestand. Im Grunde eine Post-Gender-Gesetzgebung, die den Weg zu wahrer Gleichberechtigung ebnet, da sie auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit fußt. Ein Weg, der nun in einer konservativ-reaktionären Sackgasse gelandet ist. (Donnerstag 20.01.22, 19 Uhr, Diskussion mit der Amerikanistin Charlotte Lerg)
Die junge Generation ergreift in Dear Future Children nicht nur das Wort, sondern auch die Kamera. Der 1999 geborene Franz Böhm hat Aktivist*innen in Hongkong, Uganda und Chile in ihrem Protest gegen die verheerenden Folgen des Klimawandels, die Erosion der Demokratie und den Abbau des Sozialsystems gefilmt. Der Film entstand durch Crowdfunding und ist selbst ein Ausdruck für die Demokratisierung der Produktionsmittel – weg von den hierarchischen Abhängigkeiten, hin zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Filmen, was eine neue Zukunft des Kinos sein könnte. (Sonntag, 23.01.22, 17 Uhr)
Darío Aguirres Im Land meiner Kinder (2018) wartet mit einer Überraschung auf. Zu sehen ist der damalige Erste Bürgermeister von Hamburg im Gespräch mit sogenannten Neubürgern: Migranten bzw. Ausländern wurde in einer beispiellosen Aktion die deutsche Staatsangehörigkeit angeboten, eine Initiative von: Olaf Scholz. Zum Abschluss seiner Einbürgerung sieht man den ehemals ecuadorianischen Aguirre im Gespräch mit dem zukünftigen Bundeskanzler Scholz, ein Schulterschluss der Geschichte, der einer Reihe von Menschen das Ende ihres unsicheren Status gebracht hat. (Samstag, 22.01.22, 17 Uhr, Diskussion mit Migrationsforscherin und Kammerspiel-Autorin Tunay Önder)
Schließlich bringt Oeconomia (2020) der Dokumentarfilmerin Carmen Losmann (Work Hard – Play Hard, 2011) versierte Ökonomen um den Sachverstand. Sie möchte genau wissen, wie das mit dem Gewinn und dem Wirtschaftswachstum eigentlich geht – oder wird hier am Ende doch nur im sprichwörtlichen Sinne Geld gedruckt, um Kredite zu finanzieren, die durch Mehrausgaben Wachstum bringen sollen? Der Zirkelschluss unseres Kapitalismus wird augenfällig, einleuchtend aber ist das Regelwerk der Ökonomie deshalb noch lange nicht. (Freitag, 21.01.22, 19 Uhr, Diskussion mit Ökonom Martin Schmidt-Bredow)
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FilmWeltWirtschaft
20.–23. Januar 2022
Filmmuseum München
St.-Jakobs-Platz 1
80331 München