Spoiler-Phobie: Die kurze Geschichte eines neuen Phänomens |
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Achtung Spoiler! Auch in der südkoreanischen Netflix-Serie Squid Game. | ||
(Foto: Netflix) |
Von Simon Spiegel
Angeblich leben wir in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung, von Bubbles und weit auseinanderklaffenden Vorstellungen, was man öffentlich (noch) sagen darf oder sollte. In einem Punkt scheint aber über alle politischen Lager und sozialen Gruppen hinweg Konsens zu herrschen: Das Ende eines Films oder einer Serie zu verraten, ist einer der schlimmsten gesellschaftlichen Fauxpas. Sei es in der Kaffeepause, beim gemeinsamen Feierabendbier, in einer Abendgesellschaft, auf Social Media oder in einer Zeitungsrezension – wer verrät, dass James Bond am Ende von No Time to Die stirbt oder dass der vermeintlich senile alte Mann in Squid Game in Wirklichkeit der Drahtzieher des tödlichen Wettkampfes ist, kann sich sofortiger allgemeiner Ächtung sicher sein. Spoilern, wie das Ausplaudern entscheidender Wendungen gemeinhin genannt wird, gilt als Erz-Unsitte, ja, als geradezu aggressiver Akt, dem man entschieden entgegentreten muss.
Die Angst vor dem Spoilern ist zu einem derart grundlegenden Element des Redens und Schreibens über fiktionale Inhalte geworden, dass leicht vergessen geht, dass wir es mit einem jungen Phänomen zu tun haben. Natürlich war es schon immer möglich, das Ende eines Buches zu verraten, aber die heute allseits grassierende Spoiler-Phobie ist eine neue Erscheinung, die viel darüber aussagt, wie sich unser Umgang mit Filmen und Serien seit der Jahrtausendwende verändert hat.
Schon der Begriff „Spoiler“ selbst ist relativ jung. Als frühester Fundort gilt ein Post aus dem Jahre 1982 in einer Newsgroup-Diskussion. Thema ist der zweite Star-Trek-Film The Wrath of Khan. Zwar dauerte es noch rund zwei Jahrzehnte, bis der Terminus in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, dass aber ausgerechnet in einem Online-Medium und in Zusammenhang mit einem Science-Fiction-Film zum ersten Mal vor einem Spoiler gewarnt wird, ist kein Zufall. Denn Spoiler, wie wir sie heute kennen und fürchten, sind eng mit der Verbreitung des Internets und dem Siegeszug bestimmter erzählerischer Formen verknüpft.
Dass das Verraten wichtiger Plotwendungen erst mit Twitter und Konsorten zum Problem wird, ist nicht weiter erstaunlich. Flächendeckendes Spoilern setzt Medien mit großer Reichweite voraus wie Blogs und vor allem soziale Medien. Mittels Twitter und Facebook kann ich Tausende von Menschen ohne Verzögerung erreichen. Vor allem ist es all jenen, die an meinen Enthüllungen nicht interessiert sein sollten, praktisch unmöglich, sich ihnen zu entziehen. Eine Rezension in einem klassischen Printmedium kann ich allenfalls überblättern. Bis ich aber gemerkt habe, dass ich den Inhalt eines bestimmten Tweets lieber nicht wissen will, habe ich diesen bereits gelesen.
Die veränderten medialen Bedingungen sind nur die eine Seite. Ebenso wichtig ist, dass sich die Art und Weise, wie Hollywood – und in der Folge auch zahlreiche andere Filmindustrien – Geschichten erzählt, fundamental verändert hat. Seit rund einem Vierteljahrhundert boomen sogenannt komplexe Erzählformen; damit werden in der Filmwissenschaft Filme und Serien bezeichnet, deren Plots mit unerwarteten Wendungen aufwarten, bei denen sich am Ende herausstellt, dass alles ganz anders war, als es zu Beginn den Anschein machte.
Zwar lebt auch der klassische Krimi in der Tradition von Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie davon, dass just jene Figur als Mörder entlarvt wird, von der man es am wenigsten vermutete. Letztlich bleiben die Überraschungen hier in engen Grenzen, das Arsenal an möglichen Auflösungen ist beschränkt. Wenn es nicht der Gärtner war, war es eben jemand aus der Verwandtschaft oder der vermeintlich blinde Milchmann. Was nie zur Debatte steht, ist, dass gar kein Mord stattgefunden hat und dass das herrschaftliche Anwesen in Wirklichkeit nur ein Traumgebilde ist. Genau dies wird Ende der 1990er Jahre jedoch zum erzählerischen Normalfall. In Bryan Singers The Usual Suspects (1995) entpuppt sich ein Großteil der Filmhandlung als Erfindung des vermeintlichen Simpels Verbal Kint, in The Sixth Sense (1999) von M. Night Shyamalan wird erst zum Schluss enthüllt, dass der von Bruce Willis gespielte Protagonist eigentlich tot ist, während sich in Fight Club (1999) der geheimnisvolle Tyler Durden als mentale Projektion der Hauptfigur erweist und in The Matrix – ebenfalls 1999 erschienen – die ganze Welt eine große Computersimulation ist.
Die Plots und vor allem die Weltenkonstruktionen werden auf einmal deutlich komplexer. Oder vielmehr: Die beiden Ebenen lassen sich immer weniger klar voneinander trennen. In einem Film wie The Matrix oder einer Serie wie Game of Thrones ist die Handlungswelt nicht mehr nur bloßer Hintergrund, sondern bestimmt maßgeblich den Plot; um zu verstehen, was es in Game of Thrones mit den White Walkers auf sich hat, welche die Westeros zu überrennen drohen, muss man die Geschichte dieses Universums kennen. Das Freilegen der Regeln der erzählten Welt wird zusehends zum Motor der Handlung, und wenn einmal klar ist, wie diese funktionieren, ist auch das zentrale Rätsel gelöst.
Das Ende eines Films konnte man immer schon verraten, doch das klassische Hollywoodkino zeichnet sich nur sehr bedingt durch überraschende Enden aus. Dass John Wayne am Ende des Westerns siegreich in die Weite der Prärie reiten wird, wissen wir eigentlich schon von Anfang an, dass Julia Roberts und Richard Gere nach vielen Komplikationen doch noch zusammenfinden, ebenfalls. In vielen traditionellen Genres gibt es nichts zu spoilern, das wirklich von Belang wäre, da das Ende ohnehin feststeht. Hierin unterscheidet sich der Film nicht vom klassischen Drama. Dass es für Ödipus und Hamlet kein Happyend geben kann, ist nur dann eine Überraschung, wenn man nicht weiß, was die Gattungsbezeichnung „Tragödie“ bedeutet.
Lange Zeit bleiben im Kino Überraschungen wie jene am Ende von The Empire Strikes Back, als Luke Skywalker erfahren muss, dass Darth Vader sein Vater ist, die Ausnahme. Mittlerweile stellen sie den Normalfall dar. Kein James-Bond- oder Mission: Impossible-Film, in dem nicht mindestens ein Maulwurf auf hoher Ebene entlarvt wird, und in den jüngsten Star Wars-Filmen kommt man kaum noch nach vor lauter unerwarteten Verwandtschaftsbeziehungen und Wiederauferstehungen vermeintlich verstorbener Figuren. Filmemacher wie M. Night Shyamalan und Christopher Nolan haben den mehr oder weniger raffinierten Twist sogar zu ihren Markenzeichen gemacht.
Dass komplexes Erzählen just in den 1990er-Jahren populär wird, hängt ebenfalls mit veränderten medialen Rahmenbedingungen zusammen. Lange Zeit waren Filme auf einmaliges Sehen hin ausgerichtet. Im Normalfall sah man einen Film einmal im Kino und allenfalls Jahre später im Fernsehen. Freilich konnte man sich im Kino einen Film mehrmals zu Gemüte führen, aber alles in allem war dies doch eher die Ausnahme. Drehbuchautorinnen und Regisseure hatten entsprechend einer Zuschauerin vor Augen, die sich einen Film nicht beliebig oft anschauen konnte, die nicht in der Lage war, an die entscheidende Stelle zurückzuspringen, um ganz genau hinzuhören, was der Held im Drogendelirium murmelt, oder um geduldig zu entziffern, welche Ziffernfolge auf dem zerknitterten Zettel steht.
Mit dem Siegeszug digitaler Medien – zuerst der DVD, später Streaming-Angeboten – änderte sich dies grundlegend. Nun stand der Film jederzeit zur Verfügung, konnten Szenen und einzelne Einstellungen in aller Gründlichkeit seziert und analysiert werden. Parallel dazu entstanden mit Newsgroups, Online-Foren und Social Media neue Orte, an denen Gleichgesinnte miteinander fachsimpeln konnten. Auch das Diskutieren über Filme ist nichts Neues, aber die Chance, in der Kaffeepause auf jemanden zu treffen, der mit gleicher Begeisterung Überlegungen dazu anstellt, wer Laura Palmer ermordet hat, ist doch ziemlich klein. Online findet sich dagegen rasch eine Community, mit der man die esoterischsten Details in aller Ausführlichkeit diskutieren kann.
Einer der Urtexte komplexen seriellen Erzählens ist Twin Peaks, David Lynchs und Mark Frosts Anfang der 1990er Jahre erschienene Serie um den Mord an eben jener Laura Palmer in einem amerikanisch-kanadischen Grenzstädtchen. Vieles, was heute bei Serien Allgemeingut ist – die Selbstironie, das Mischen von Genres und vor allem die verschachtelte Handlung, die mit immer neuen Überraschungen aufwartet –, war erst in Twin Peaks in einer für ein Massenpublikum konzipierten Form zu sehen. Neu war auch, dass sich im Usenet Diskussionsgruppen bildeten, in denen begeisterte Fans die Serie diskutierten, Theorien zur Identität des Mörders entwickelten und Rezepte für Kirschkuchen austauschten.
Was bei Twin Peaks noch spontan, ohne jedes Zutun von Produktionsseite her entstand, war bei Lost, der großen Erfolgsserie Mitte der Nullerjahre, längst integraler Teil des Gesamtkonzepts. Heute gibt es kaum eine Serie oder Großproduktion, um die sich nicht eine eingeschworene Community schart, deren Mitglieder jede Folge analysieren und auf einen tieferen Sinn hin abklopfen. Diese Gemeinden gilt es bei der Stange zu halten. Die Industrie tut dies auch nach Leibeskräften, seit sie erkannt hat, dass Fans einen perfekten Multiplikator darstellen. Denn Fans tragen die Begeisterung für einen Film nach draußen, sie können überzeugender dafür werben als jedes Plakat und nehmen der Werbeabteilung damit einen wichtigen Teil ihrer Arbeit ab.
So omnipräsent die Angst vor Spoilern scheint, sie betrifft effektiv nur einen bestimmten Teil des populären Kinos. So ist beispielsweise im Zusammenhang mit Dokumentarfilmen selten von Spoilern die Rede, obwohl auch in dieser Gattung das Ende keineswegs immer absehbar ist. Im Arthouse-Bereich spricht man ebenfalls deutlich seltener von Spoilern. Die Vorstellung, dass man einen Film von Agnès Varda, Wim Wenders oder Jim Jarmusch spoilern kann, scheint regelrecht absurd.
Dass in Hollywood komplexe Erzählformen so beliebt sind und damit auch die Spoilergefahr stets akut ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Twist-Filme einen anderen großen Trend der Filmindustrie ideal ergänzen. Denn in den Chefetagen der großen Studios denkt man längst nicht mehr nur in einzelnen Filmen, sondern vorrangig in Mega-Franchises, also in crossmedialen erzählerischen Universen. Das große Vorbild, dem alle nacheifern, ist das Marvel Cinematic Universe, bei dem die Comicschmiede Marvel respektive Disney das Kunststück vollbracht hat, über anderthalb Jahrzehnte hinweg ein ganzes Geflecht von Filmen, Serien, Comics und Games rund um die Figuren Iron Man, Hulk, Thor, Black Widow, und wie sie alle heißen, zu errichten. Alles ist hier mit allem verknüpft, jeder Film verweist bereits auf den nächsten und kein Ende ist wirklich endgültig. Nicht einmal, als der Bösewicht Thanos in Avengers: Infinity War die Bevölkerung des gesamten Universums halbiert.
Dass diese Art der Endlosgeschichte kommerziell äußerst interessant ist, dass ein Studio viel lieber eine erfolgreiche Reihe fortsetzt, anstatt mit einem neuen Stoff eine Bruchlandung zu riskieren, liegt auf der Hand. Und was eignet sich hierfür besser als eine Form des Erzählens, bei der eine unerwartete Wendung jederzeit alles wieder ändern kann? Bei der – wie eben in Avengers: Infinity War – selbst der totale Triumph des Bösewichts nicht endgültig ist und im Folgefilm wieder rückgängig gemacht werden kann?
Die Perfektionierung dieses Modells führt dazu, dass der Druck permanent hoch bleibt. Der neue Blockbuster mag zwar noch überraschendere Enthüllungen bringen und endlich erklären, warum Figur x im vorangegangenen Film so und nicht anders gehandelt hat und was es wirklich mit Bösewicht y auf sich hat. Während dem Publikum fortlaufend suggeriert wird, dass nun wirklich und endlich der Höhepunkt inklusive großer Auflösung ansteht, ist der einzelne Film in der wirtschaftlichen Logik der Studios wenig mehr als ein überlanger Trailer für das nächste Sequel, das bereits vor der Tür steht und noch umstürzendere Überraschungen verspricht. Es droht eine ständige Überhitzung, und es ist nicht vollkommen verkehrt, wenn man in den gehässigen Reaktionen auf Spoiler auch eine Folge dieses konstant heißlaufenden narrativen Perpetuum mobiles sieht.
Simon Spiegel ist Senior Researcher am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt für zahlreiche Publikationen über Film und verwandte Themen. Er veröffentlicht regelmässig auf simifilm.ch und utopia2016.ch.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Geschichte der Gegenwart, wo Simon Spiegels Text am 3. November 2021 zuerst erschienen ist.