Squid Game: Parasitenkiller |
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Sechs Spiele von dystopischer Düsternis und kindlicher Kabbelei | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
»Was sind wir eigentlich? Menschen? Oder Tiere? Oder Wilde?«
– William Golding, Herr der Fliegen
Bei Netflix‘ Verlautbarungen über den Erfolg seiner Eigenproduktionen kann man sich schon regelmäßig die Haare raufen und ausnahmsweise mal mit Goethe skandieren: »Ursprünglich eignen Sinn // Laß dir nicht rauben! // Woran die Menge glaubt, // Ist leicht zu glauben.« Wie etwa beim letzten großen Scoup, als der eskapistische Barbieland-Schwachsinn Bridgerton zur bis dahin erfolgreichsten Serie ausgelobt wurde.
Deshalb sind natürlich auch bei den inzwischen weltweit publizierten Hymnen auf den größten Netflix-Serienerfolg aller Zeiten Zweifel angebracht, der dieser Tage mit 111 Millionen Views die 82 Millionen von Bridgerton locker hinter sich gelassen hat, auch wenn, und das sollte niemand vergessen, bei Netflix zwei Minuten „View“ einer Staffel schon ausreichen, um sie als gesehen zu werten und man vielleicht besser einmal die Drehbuchautoren der Serien fragen sollte, wie es um die Wahrheit bestellt ist, werden die doch akkurat nach den tatsächlich gesehenen Minuten bezahlt. Die Minuten, die die Weltgemeinschaft im Moment allerdings die südkoreanische Serie Squid Game streamt, scheinen dann doch so erheblich auszufallen, dass die in 90 Ländern auf Platz 1 der Netflix-Charts positionierte Serie die Backbone-Branche des Internets nervös macht, wie netzpolitik.org berichtet: »Mit den steigen Zuschauerzahlen steigt auch die Rechnung der lokalen Breitbandanbieter. Schließlich müssen sie für den enormen Datenverkehr ausreichend Infrastruktur bieten. Damit entflammt die Debatte erneut, wer für die Datenkosten des Streaming-Booms zahlen soll. Netflix zahlt in Südkorea, ähnlich wie in der EU, keine Netznutzungsgebühren. Nun leitet der südkoreanische Breitbandanbieter SK Broadband rechtliche Schritte ein.«
Andrerseits ist es mit Vergleichen und Sehvorlieben und all der Medienrummelei natürlich grundsätzlich so eine Sache, Netflix’ geschicktes Positionieren von Hwang Dong-hyuks Squid Game im Landes-Tages-Ranking allerdings eine faszinierende Tatsache. Die umso eindrücklicher ausfiel, als die Masken tragenden Protagonisten einerseits an den spanischen Heist-Serienerfolg Haus des Geldes erinnerten, gleichzeitig kongenial dystopische Düsternis mit kindlicher Kabbelei kombiniert wurde. Was dann möglicherweise auch der ganz simple Grund dafür ist, dass die bereits im Dezember 2020 gelaunchte japanische Death-Game-Serie Alice in Borderland erst jetzt im Fahrwasser von Squid Game in den Netflix-Top Ten aufzutauchen beginnt.
Doch letztendlich sind diese Mutmaßungen eigentlich für die Katz, denn schon ein Blick auf die Filmografie von Showrunner Hwang Dong-hyuk, der für Drehbuch und Regie verantwortlich ist und mit seiner Serienidee jahrelang erfolglos hausieren gegangen war, reichen eigentlich schon aus, um von Squid Game mehr als nur eine Marketingblase erwarten zu dürfen, hat Hwang Dong-hyuk doch einige der soziakritischsten und erfolgreichsten südkoreanischen Kinofilme der letzten Jahren gedreht, vom Adoptions- (My Father) über das Missbrauchs- (Silenced) bis zum Historiendrama (The Fortress) und zur Komödie (Miss Granny) war so ziemlich alles mit dabei, was sich ein leidenschaftlicher Cineast nur wünschen kann.
Bei diesem Portfolio ist es deshalb kaum überraschend, dass Hwang Dong-hyuk für seine erste Serie aus dem Vollen geschöpft und gewissermaßen ein Amalgam aus seiner bisherigen Filmografie geschaffen hat – und mit dementsprechend breit gestreuter Referenzialität arbeitet: berühmte Survival-Mangas wie Tobaku Mokushiroku Kaiji, Liar Game und Battle Royale fundieren den Plot, werden jedoch in den koreanischen Kulturraum transformiert, um vom Armutsdilemma in Südkorea zu erzählen, das hier gewissermaßen auf die schärfste nur mögliche Diskursspitze gespießt wird: Um ihrer Verschuldung zu entkommen, werden Menschen aus allen Gesellschaftsschichten dazu eingeladen an einem Spiele-Kanon teilzunehmen, dessen Sieger ein derartig großes Preisgeld erhält, dass von Armut am Ende keine Rede mehr sein soll. Dass es bei diesen Spielen um Leben und Tod geht, wird den Teilnehmern allerdings erst nach der ersten Runde klar, in der eine überdimensionale Kinderfigur ebenso auf das Korea der 1970er und 1980er Jahre referenziert wie auch die anderen „Kinderspiele“, deren Nostalgiefaktor durch ihre tödliche Neuinterpretation fast schon postmodern gebrochen werden.
Gleichzeitig wird Hwang Dong-hyu damit gesellschaftskritisch sehr explizit und erzählt nicht nur einen gnadenlosen Brot-und-Spiele-Plot aus, sondern auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte seines Landes (und der Welt), das seine Unschuld verloren hat. Aus der spielerischen Hoffnung auf Wohlstand und Sicherheit ist ein tödliches System geworden, das zwar mit bunten Farben und spielerischen Illusionsflächen verführt, aber am Ende für alle Beteiligten tödlich ist, ein System – kaputter Kapitalismus at its best – das erst im Handeln demaskiert werden kann und den bereits heillos darin verstrickten, hilflosen Menschen seiner Unschuld beraubt, nicht anders als William Golding das ähnlich perfide in seinem Herr der Fliegen durchexerziert hat.
Das wirkt am Anfang, nach einer rudimentären Einführung zweier Hauptcharaktere, noch wie eine vorhersehbare Versuchsanordnung, doch spätestens mit der zweiten Folge macht Hwang Dong-hyu deutlich, dass er seine Geschichte so gebaut hat, wie das in allen Folgen auftauchende, M. C. Escher nachempfundene Treppenlabyrinth, in dem nichts so ist, wie es scheint, und sogar das Spiel noch einmal auf Start zurückgeht.
Damit wird auch deutlich, dass der Zuschauer mit den köderhaft ausgelegten Referenzen vorsichtig sein sollte. Natürlich ist auch in Squid Game alles wie in Bong Joon-hos Parasite, aber dann doch wie auf Eschers Treppen ist alles verkehrt, wird Arm/Reich hier genau andersherum gegeneinander ausgespielt, ist im Grunde auch der Betrachter vor seinem Netflix-Account gieriger Täter. Was dann aber noch lange nicht bedeutet, dass wir uns hier in einem moralischen und faktischen Szenario der Tribute von Panem wiederfinden, denn schon einen Moment später ist auch diese Assoziation so beleg- wie widerlegbar.
So komplex und zugleich simplex die Spiel- und Plotidee ist, so überraschend ist es, wie viele Subplots und moralische Hindernisse Hwang Dong-hyu in seiner Geschichte unterbringt und damit die charakterlichen Profile des weit gefächerten Personals zunehmend verdichtet: Organhandel, der Kampf der Geschlechter, Rassismus gegenüber Nordkoreanern und dunkelhäutigen Einwandern, der Verlust des Respekts vor alten Menschen und immer wieder die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Liebe und was ein Leben überhaupt wert ist und was wir bereit sind dafür zu opfern. Damit verläßt Squid Game immer wieder souverän seine versuchsähnliche Anordnung und wird pures menschliches Drama, dem das vielleicht wichtigste eines jeden Dramas gelingt: ganz gleich, wie weit der Gegenüber einem auch in Denken und Fühlen entfernt sein mag – sein Schicksal berührt.
Bei all den hier skizzierten Stärken von Squid Game, das sich auch ganz generell durch seine reduzierte Ästhetik, die universelle Kapitalismuskritik, den spielerischen Charakter und die tarantinoeske Grausamkeit weltweit zur Identifizierung anbietet und einen systemimmanenten und sehr zentralen, wunden Punkt unserer globalisierten Welt getroffen zu haben scheint, ist Squid Game dennoch kein Meisterwerk. Denn immer wieder gibt es erzählerische „Löcher“ und „Hänger“, wünscht man sich doch ein oder zwei Folgen weniger oder kürzere Einheiten als die tendenziell mit knapp einer Stunde eher langen Folgen. Ein zumindest kleiner Writers Room Hwang Dong-hyu wäre dafür möglicherweise die Lösung gewesen, auch um das Konstrukt der Handlung besser zu kaschieren und den etwas zu langen Anlauf und Auslauf seiner Erzählung zu verkürzen und gleichzeitig nicht in klassische Falle zu laufen, die essentiellen Handlungsmuster der Protagonisten nicht nur zu behaupten, sondern auch zu erklären, was selbst in Hwang Dong-hyus jetziger »Langfassung« nicht immer gelingt.
Am schwierigsten bzw. „unrundesten“ in Hwang Dong-hyus Plot- und Dialoggefüge ist jedoch die eigentliche Hauptfigur der Serie, Seong Gi-hun (Lee Jung-jae). Wie auch in anderen südkoreanischen Serien – man denke etwa an die Ausnahmeserie Move to Heaven – wird hier ein Charakter platziert, der komische, groteske, ja fast clowneske Züge trägt, ein Charakter, der mit seinem Over-Acting vermutlich einen wichtigen koreanischen Archetypen bedient, aber zumindest aus westlicher Perspektive so deplatziert wirkt, dass mitunter die Glaubwürdigkeit der tragenden Handlung verloren geht.
Doch mit der sich schließlich ab dem überragenden Mittelteil der neun Folgen stark verdichtenden, charakterlichen Entwicklung des Personals wird auch der Clown zum ernsten Menschen, wird das Kind zum Erwachsenen und immer mehr zu dem Helden, zu dem er im Kern auch angelegt ist. Ein Held der vor allem das lernt, was uns allen immer mehr verloren gegangen ist: Nein zu sagen.