10.06.2021

Das Leben der Toten oder Tatortreiniger trifft Traumaspezialist

Move to heaven
Empathisches Rütteln an den Grundfesten der Gesellschaft
(Foto: Netflix)

Die koreanische Ausnahme-Serie Move to Heaven ist eine so zärtlich wie intelligente Meditation über das Sterben und das, was vom Leben übrigbleibt. Aber auch ein leidenschaftliches Statement für mehr Diversität.

Von Axel Timo Purr

Take care of all your memories
Said my friend, Mick
For you cannot relive them

– Bob Dylan, Open the door, Homer

Geht das, darf man das? Eine Serie über den selbst­ver­ständ­lichsten und unmiss­ver­ständ­lichsten, aber auch tabui­sier­testen Moment eines jeden von uns, das Sterben, und das, was von uns dann übrig­bleibt? Es geht. Und es geht auch noch sehr gut. Es ist spannend, es ist schön, es ist traurig, es ist grausam und es ist banal. Es ist eigent­lich, um eines gerade ganz großen Verstor­benen zu gedenken, des großar­tigen Kinder­buch­au­tors Eric Carle († 23. Mai 2021), wie in Carles Die kleine Raupe Nimmer­satt. Wir sehen in zehn Folgen dabei zu, wie sich eine Geschichte durch gesell­schaft­liche Trümmer und Toten­ge­schichten frisst, und stehen am Ende vor einem wunder­schönen Schmet­ter­ling, einem voll­endeten erzäh­le­ri­schen Korpus, der zwar von Toten erzählt, sie aber durch den Prozess des Erinnerns zu Leben erweckt hat.

Das mag ein wenig verquast klingen. Ist es aber ganz und gar nicht. Denn Dreh­buch­autor Yoon Ji-ryeon und Regisseur Kim Sung-ho haben sich von dem Essay »Things Left Behind« des »Trauma Cleaners« Kim Sae-byu inspi­rieren lassen. Dort beschreibt Sae-byu seine ernüch­ternde Arbeit als »Nach­lass­ver­walter« von einsam oder gewalt­tätig gestor­benen Menschen, deren Zimmer oder Wohnungen er ausräumt. Er beschreibt vor allem eine durch zuneh­mende Indi­vi­dua­li­sie­rung, Hier­ar­chi­sie­rung und soziale Verwahr­lo­sung geprägte Gegenwart und die Scheu der Hinter­blie­benen, sich dem Tod und seinen Folgen zu stellen.

Dreh­buch­autor Yoon Ji-ryeon erweitert dieses gesell­schaft­liche Analyse-Destillat aller­dings signi­fi­kant. Er erzählt nicht nur Geschichten über verein­samte Gestor­bene, sondern auch über sozial aufge­fan­gene Menschen, Menschen, die erfolg­reich waren. Einge­bettet werden diese Erzäh­lungen jedoch in ein anderes Drama, das des 20-jährigen Han Geu-ru (Tang Joon-sang), der mit seinem Vater Jeong-woo (Ji Jin-hee) als »Trauma Cleaner« bzw. Nach­lass­ver­walter arbeitet, jedoch selbst in ein tiefes »Trauma« gestoßen wird, als sein Vater plötzlich stirbt.

Das ist umso schwie­riger, als Geu-ru durch eine Form des Autismus, das Asperger-Syndrom, gehan­di­caped ist, normale soziale Inter­ak­tionen für ihn schwierig und manchmal unmöglich sind. Deshalb hat ihm sein Vater testa­men­ta­risch seinen Onkel Cho Sang-gu (Lee Je-hoon) als Vormund bestimmt. Doch Sang-gu, ein auf illegalen Wett­ver­an­stal­tungen auftre­tender Mixed Martial Arts-Kämpfer, der wegen einer schweren Verlet­zung seines letzten Gegners und ehema­ligen Schülers eine Haft­strafe absitzen musste und gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist alles andere als begeis­tert über dieses Vermächtnis seines verhassten Halb­bru­ders. Mehr noch, als er sich verpflichten muss, Geu-ru bei der Abwick­lung neuer Nach­lass­ver­wal­tungs-Aufträge zu unter­stützen und dabei von Geu-rus Nach­bar­schafts­freundin Yoon Na-mu (Yoon Na-mu) kontrol­liert wird. Seine abweh­rende Haltung nicht nur gegenüber Geu-rus Alltagsticks, sondern auch gegenüber den Toten und ihren Geschichten, mit denen er konfron­tiert wird, bewirken jedoch nicht nur bei ihm ein langsames, spätes Coming-of-Age.

Vor allem die Aufräum­ar­beiten in den Wohnungen und Zimmern der Verstor­benen geraten dabei zu inves­ti­ga­tiven, im Ansatz an das Bjarne Mädel-Serien-Format Tatort­rei­niger erin­nernde Gesell­schafts­ana­lysen, aller­dings ohne den im Tatort­rei­niger alles beherr­schenden schwarzen Humor. Statt­dessen wird in Move to Heaven eine zärtliche, empa­thi­sche und durch die Asperger-Beson­der­heiten und die pola­ri­sie­renden Persön­lich­keiten am »Tatort« entste­hende Dynamik forciert, die wie selbst­ver­ständ­lich und fast nebenbei die Unzu­läng­lich­keiten moderner Gesell­schaften bloßlegt und mit jedem Auftrag den gesell­schaft­li­chen Quer­schnitt noch einmal erweitert und ein leiden­schaft­li­ches Bekenntnis zu einer diversen Gesell­schaft abbildet. Denn Geu-ru, sein Onkel und seine beste Freundin müssen nicht nur lernen, ihre eigenen Beson­der­heiten und Beschrän­kungen zu akzep­tieren, sondern vor allem auch die der Toten und ihrer Angehö­rigen: mit einem sich überloyal zu Tode arbei­tenden Ange­stellten, einer aus Eifer­sucht von ihrem Freund getöteten Kinder­gärt­nerin, einer von ihren Kindern verlas­senen alten Frau, einem jungen Opfer des korea­ni­schen Export-Booms von Adop­tiv­kin­dern und einem jungen Arzt aus wohl­ha­benden Haus, der wegen seiner Homo­se­xua­lität von seinen Eltern diskri­mi­niert wird.

Und dann ist da noch die viel­leicht inten­sivste, poetischste und grau­samste Geschichte, die in Folge 6 erzählte Lebens­linie eines alten Haus­meis­ters (Jung Dong-hwan), der mit seiner Frau gemeinsam Selbst­mord begeht. Hier wird nicht nur über lange Liebe und einen entfes­selten, kaputten Kapi­ta­lismus erzählt, der die Grund­festen der Gesell­schaft, das gemein­schaft­liche Leben, erschüt­tert, sondern hier werden, einer geschälten Zwiebel gleich, erzäh­le­risch immer neue Schichten frei­ge­legt, um zum Kern vorzu­dringen, ein Prozess, der wie beim Zwie­bel­schälen zwar unwei­ger­lich Tränen zur Folge hat, aber ohne jeglichen Romcom-Kitsch analy­tisch seziert, was seziert werden muss. Dass dann auch noch Raum für ein von Jung Dong-hwan über­ra­gend rezi­tiertes korea­ni­sches Gedicht ist (unbedingt das unter­ti­telte Original wählen), kann kaum höher einge­schätzt werden. Ein Gedicht, das im Übrigen den Herbst­ge­danken von Barthold Hinrich Brockes fast schon gespens­tisch gleicht:

Bleiche Blätter, bunte Büsche,
Gelbe Stauden, röthlichs Rohr,
Euer flüs­terndes Gezische
Kommt mir, wie ein Sterb-Lied, vor.
Aber da ihr, wenn ihr sterbet,
(Wie in einer hellern Gluht
Ein verlö­schend Fünckchen thut)
Euch am aller­schönsten färbet;
Wird, durch euer buntes Kleid,
Nicht nur Aug und Hertz erfreut,
Und zu Gottes Ruhm geführet,
Sondern, auf besondre Weise,
Durch so holden Schmuck gerühret,
Wünscht mein Hertz, nicht minder schön,
Zu des Aller­höchsten Preise,
Wann ich sterbe, zu vergehn!

Dass auch diese Folge mit einer gelben Pappkiste besiegelt wird, in der die wich­tigsten Erin­ne­rungs­stücke bzw. Alltags­ge­gen­stände des Verstor­benen, das Leben der Toten, gesammelt wurden, verstärkt nicht nur die poetische Wucht, sondern führt mit dieser Folge auch in ein großes Seri­en­fi­nale, in dem es nun an den Haupt­prot­ago­nisten ist, den Dämonen und Hoff­nungen ihres Lebens zu begegnen und in immer neue, so über­ra­schende wie kongenial verwobene erzäh­le­ri­sche Tiefen vorzu­dringen. Doch anders als in korea­ni­schen Groß­se­rien wie Crash Landing On You mit ihren 16 über 90 Minuten langen Folgen bleibt Move to heaven immer am Punkt, erlaubt keinerlei Star­al­lüren der über­ra­genden Schau­spieler, sondern spielt bis zum Ende mit Leer­stellen und Momenten, die in ihrer Ambi­guität großes Kino sind, etwa als die Feuer­wehr­männer vom Schnee über­rascht werden und sich wie kleine Kinder zu freuen beginnen.

Gleich­zeitig gelingt es Move to heaven, neben der komplexen gesell­schaft­li­chen und thema­ti­schen Grund­fo­kus­sie­rung sich noch genug Zeit für die eigent­liche Haupt­person zu nehmen, und Geu-rus Autismus so weit weg wie möglich vom Rain Man-Klischee und der heut­zu­tage beliebten, aber nicht korrekten Mode­dia­gnose des »hoch­be­gabten« Asperger-Kindes zu posi­tio­nieren und nuan­cen­reich immer wieder auch vom verwir­renden Leid dieses Alltags zu erzählen, der gerade durch die pola­ri­sie­rende Onkel-Rolle in ungeahnte Rich­tungen getrig­gert wird.

Gerade in dieser Beziehung entfernt sich die Serie über­ra­schend von bekannten (west­li­chen) Bezie­hungs­ste­reo­typen wie sie etwa in Olivier Nakache' und Éric Toledanos Alles außer gewöhn­lich gezeigt werden. Das passiert nicht nur über Onkel Sang-gu und einen in korea­ni­schen Serien gängigen (und etwas befremd­li­chen) linki­schen Humor, sondern vor allem über lang gespielte, charak­ter­liche Entwick­lungs­szenen, wie etwa Sang-gu und Geu-rus Besuch eines Frei­zeit­parks.

Dass erst am Ende der Anfang erzählt wird, nicht anders als kürzlich in Barry Jenkins' The Under­ground Railroad, mag nichts Neues am Seri­en­himmel mehr sein, doch wie das Ende hier mit dem Himmel korre­spon­diert, wie Tod und Leben, Vergan­gen­heit, Gegenwart und Zukunft und bewäl­tigte Traumata noch einmal mitein­ander verwoben werde, ist nichts anderes als: ein wunder­schöner Schmet­ter­ling!