Das Leben der Toten oder Tatortreiniger trifft Traumaspezialist |
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Empathisches Rütteln an den Grundfesten der Gesellschaft | ||
(Foto: Netflix) |
Von Axel Timo Purr
Take care of all your memories
Said my friend, Mick
For you cannot relive them
– Bob Dylan, Open the door, Homer
Geht das, darf man das? Eine Serie über den selbstverständlichsten und unmissverständlichsten, aber auch tabuisiertesten Moment eines jeden von uns, das Sterben, und das, was von uns dann übrigbleibt? Es geht. Und es geht auch noch sehr gut. Es ist spannend, es ist schön, es ist traurig, es ist grausam und es ist banal. Es ist eigentlich, um eines gerade ganz großen Verstorbenen zu gedenken, des großartigen Kinderbuchautors Eric Carle († 23. Mai 2021), wie in Carles Die kleine Raupe Nimmersatt. Wir sehen in zehn Folgen dabei zu, wie sich eine Geschichte durch gesellschaftliche Trümmer und Totengeschichten frisst, und stehen am Ende vor einem wunderschönen Schmetterling, einem vollendeten erzählerischen Korpus, der zwar von Toten erzählt, sie aber durch den Prozess des Erinnerns zu Leben erweckt hat.
Das mag ein wenig verquast klingen. Ist es aber ganz und gar nicht. Denn Drehbuchautor Yoon Ji-ryeon und Regisseur Kim Sung-ho haben sich von dem Essay »Things Left Behind« des »Trauma Cleaners« Kim Sae-byu inspirieren lassen. Dort beschreibt Sae-byu seine ernüchternde Arbeit als »Nachlassverwalter« von einsam oder gewalttätig gestorbenen Menschen, deren Zimmer oder Wohnungen er ausräumt. Er beschreibt vor allem eine durch zunehmende Individualisierung, Hierarchisierung und soziale Verwahrlosung geprägte Gegenwart und die Scheu der Hinterbliebenen, sich dem Tod und seinen Folgen zu stellen.
Drehbuchautor Yoon Ji-ryeon erweitert dieses gesellschaftliche Analyse-Destillat allerdings signifikant. Er erzählt nicht nur Geschichten über vereinsamte Gestorbene, sondern auch über sozial aufgefangene Menschen, Menschen, die erfolgreich waren. Eingebettet werden diese Erzählungen jedoch in ein anderes Drama, das des 20-jährigen Han Geu-ru (Tang Joon-sang), der mit seinem Vater Jeong-woo (Ji Jin-hee) als »Trauma Cleaner« bzw. Nachlassverwalter arbeitet, jedoch selbst in ein tiefes »Trauma« gestoßen wird, als sein Vater plötzlich stirbt.
Das ist umso schwieriger, als Geu-ru durch eine Form des Autismus, das Asperger-Syndrom, gehandicaped ist, normale soziale Interaktionen für ihn schwierig und manchmal unmöglich sind. Deshalb hat ihm sein Vater testamentarisch seinen Onkel Cho Sang-gu (Lee Je-hoon) als Vormund bestimmt. Doch Sang-gu, ein auf illegalen Wettveranstaltungen auftretender Mixed Martial Arts-Kämpfer, der wegen einer schweren Verletzung seines letzten Gegners und ehemaligen Schülers eine Haftstrafe absitzen musste und gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist alles andere als begeistert über dieses Vermächtnis seines verhassten Halbbruders. Mehr noch, als er sich verpflichten muss, Geu-ru bei der Abwicklung neuer Nachlassverwaltungs-Aufträge zu unterstützen und dabei von Geu-rus Nachbarschaftsfreundin Yoon Na-mu (Yoon Na-mu) kontrolliert wird. Seine abwehrende Haltung nicht nur gegenüber Geu-rus Alltagsticks, sondern auch gegenüber den Toten und ihren Geschichten, mit denen er konfrontiert wird, bewirken jedoch nicht nur bei ihm ein langsames, spätes Coming-of-Age.
Vor allem die Aufräumarbeiten in den Wohnungen und Zimmern der Verstorbenen geraten dabei zu investigativen, im Ansatz an das Bjarne Mädel-Serien-Format Tatortreiniger erinnernde Gesellschaftsanalysen, allerdings ohne den im Tatortreiniger alles beherrschenden schwarzen Humor. Stattdessen wird in Move to Heaven eine zärtliche, empathische und durch die Asperger-Besonderheiten und die polarisierenden Persönlichkeiten am »Tatort« entstehende Dynamik forciert, die wie selbstverständlich und fast nebenbei die Unzulänglichkeiten moderner Gesellschaften bloßlegt und mit jedem Auftrag den gesellschaftlichen Querschnitt noch einmal erweitert und ein leidenschaftliches Bekenntnis zu einer diversen Gesellschaft abbildet. Denn Geu-ru, sein Onkel und seine beste Freundin müssen nicht nur lernen, ihre eigenen Besonderheiten und Beschränkungen zu akzeptieren, sondern vor allem auch die der Toten und ihrer Angehörigen: mit einem sich überloyal zu Tode arbeitenden Angestellten, einer aus Eifersucht von ihrem Freund getöteten Kindergärtnerin, einer von ihren Kindern verlassenen alten Frau, einem jungen Opfer des koreanischen Export-Booms von Adoptivkindern und einem jungen Arzt aus wohlhabenden Haus, der wegen seiner Homosexualität von seinen Eltern diskriminiert wird.
Und dann ist da noch die vielleicht intensivste, poetischste und grausamste Geschichte, die in Folge 6 erzählte Lebenslinie eines alten Hausmeisters (Jung Dong-hwan), der mit seiner Frau gemeinsam Selbstmord begeht. Hier wird nicht nur über lange Liebe und einen entfesselten, kaputten Kapitalismus erzählt, der die Grundfesten der Gesellschaft, das gemeinschaftliche Leben, erschüttert, sondern hier werden, einer geschälten Zwiebel gleich, erzählerisch immer neue Schichten freigelegt, um zum Kern vorzudringen, ein Prozess, der wie beim Zwiebelschälen zwar unweigerlich Tränen zur Folge hat, aber ohne jeglichen Romcom-Kitsch analytisch seziert, was seziert werden muss. Dass dann auch noch Raum für ein von Jung Dong-hwan überragend rezitiertes koreanisches Gedicht ist (unbedingt das untertitelte Original wählen), kann kaum höher eingeschätzt werden. Ein Gedicht, das im Übrigen den Herbstgedanken von Barthold Hinrich Brockes fast schon gespenstisch gleicht:
Bleiche Blätter, bunte Büsche,
Gelbe Stauden, röthlichs Rohr,
Euer flüsterndes Gezische
Kommt mir, wie ein Sterb-Lied, vor.
Aber da ihr, wenn ihr sterbet,
(Wie in einer hellern Gluht
Ein verlöschend Fünckchen thut)
Euch am allerschönsten färbet;
Wird, durch euer buntes Kleid,
Nicht nur Aug und Hertz erfreut,
Und zu Gottes Ruhm geführet,
Sondern, auf besondre Weise,
Durch so holden Schmuck gerühret,
Wünscht mein Hertz, nicht minder schön,
Zu des Allerhöchsten Preise,
Wann ich sterbe, zu vergehn!
Dass auch diese Folge mit einer gelben Pappkiste besiegelt wird, in der die wichtigsten Erinnerungsstücke bzw. Alltagsgegenstände des Verstorbenen, das Leben der Toten, gesammelt wurden, verstärkt nicht nur die poetische Wucht, sondern führt mit dieser Folge auch in ein großes Serienfinale, in dem es nun an den Hauptprotagonisten ist, den Dämonen und Hoffnungen ihres Lebens zu begegnen und in immer neue, so überraschende wie kongenial verwobene erzählerische Tiefen vorzudringen. Doch anders als in koreanischen Großserien wie Crash Landing On You mit ihren 16 über 90 Minuten langen Folgen bleibt Move to heaven immer am Punkt, erlaubt keinerlei Starallüren der überragenden Schauspieler, sondern spielt bis zum Ende mit Leerstellen und Momenten, die in ihrer Ambiguität großes Kino sind, etwa als die Feuerwehrmänner vom Schnee überrascht werden und sich wie kleine Kinder zu freuen beginnen.
Gleichzeitig gelingt es Move to heaven, neben der komplexen gesellschaftlichen und thematischen Grundfokussierung sich noch genug Zeit für die eigentliche Hauptperson zu nehmen, und Geu-rus Autismus so weit weg wie möglich vom Rain Man-Klischee und der heutzutage beliebten, aber nicht korrekten Modediagnose des »hochbegabten« Asperger-Kindes zu positionieren und nuancenreich immer wieder auch vom verwirrenden Leid dieses Alltags zu erzählen, der gerade durch die polarisierende Onkel-Rolle in ungeahnte Richtungen getriggert wird.
Gerade in dieser Beziehung entfernt sich die Serie überraschend von bekannten (westlichen) Beziehungsstereotypen wie sie etwa in Olivier Nakache' und Éric Toledanos Alles außer gewöhnlich gezeigt werden. Das passiert nicht nur über Onkel Sang-gu und einen in koreanischen Serien gängigen (und etwas befremdlichen) linkischen Humor, sondern vor allem über lang gespielte, charakterliche Entwicklungsszenen, wie etwa Sang-gu und Geu-rus Besuch eines Freizeitparks.
Dass erst am Ende der Anfang erzählt wird, nicht anders als kürzlich in Barry Jenkins' The Underground Railroad, mag nichts Neues am Serienhimmel mehr sein, doch wie das Ende hier mit dem Himmel korrespondiert, wie Tod und Leben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und bewältigte Traumata noch einmal miteinander verwoben werde, ist nichts anderes als: ein wunderschöner Schmetterling!