»The Underground Railroad«: Hell's Gate |
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Kurzer Blick zum langen Abschied - Thuso Mbedu als Cora | ||
(Foto: Amazon) |
Von Axel Timo Purr
How I got over
How did I make it over?
You know my soul look back and wonder
How did I make it over?
– How I Got Over, Mahalia Jackson
Am Anfang ist alles noch so, wie wir es aus Filmen wie Steve McQueens 12 Years a Slave kennen. Wir sehen den Alltag auf einer Baumwollplantage in Georgia, im Süden der USA. Wir sehen schwarze Menschen unter unwürdigen Bedingungen leben und wir sehen sie unter unvorstellbar grausamen Bedingungen sterben. Zum Glück, und das hat auch Barry Jenkins in einem Interview empfohlen, ist das eine Serie, kann und darf 10, 20 oder 30 oder sogar 60 Sekunden vorgespult werden, wenn das Leiden nicht mehr zu ertragen ist. Denn auch weil es eine Serie ist, nimmt sich Jenkins die Zeit, die Grausamkeit und das Leiden so glaubwürdig wie nur möglich zu inszenieren. Aber Jenkins' The Underground Railroad ist auch die Verfilmung des 2016 erschienenen Romans von Colson Whitehead, der so ziemlich alle Literaturpreise der USA gewann und wochenlang ganz oben auf den Bestsellerlisten des Landes stand.
Das liegt nicht nur an der Grausamkeit, die auch in Whiteheads Buch ihren Raum einnimmt, sondern daran, was Whitehead aus der legendären Underground Railroad gemacht hat, einem aus Gegnern der Sklaverei – darunter auch Weiße – bestehendem informellen Schleusernetzwerk, das für dunkelhäutige Sklaven die Flucht aus den Südstaaten der USA in die sichereren Nordstaaten oder in die Provinz Kanada organisierte. Kasi Lemmons hat diesem Netzwerk und ihrer vielleicht berühmtesten »Passagierin« und »Aktivistin«, Harriet Tubman, vor zwei Jahren ein Denkmal gesetzt.
Bis auf die Schilderung des Lebensalltags hat ihr Film Harriet jedoch weder mit Whiteheads Roman noch mit Jenkins' Serie viel zu tun. Denn Whitehead nahm für den Kern seines Romans ein Gedankenspiel auf, das auch Jenkins als Kind nicht losließ – die Vorstellung, dass es sich bei der »Underground Railroad« um eine wirkliche Eisenbahn im Untergrund handelte, die die Sklaven mit Dampflokomotiven in Sicherheit fuhr. Dieses vor allem in der Science-Fiction-Literatur als Alternativwelt bekannte Genre ist in den letzten Jahren durch die Serien-Adaption von Philip K. Dicks The Man In The High Castle, in der die Nazis den Krieg gewonnen haben, auch einem größeren Publikum bekannt geworden, Jenkins' Serie dürfte die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeiten dieser doppelbödigen Form geschichtlicher Aufarbeitung noch einmal erhöhen.
Jenkins zeichnet sehr genau und mit gewaltigen, faszinierend geflochtenen erzählerischen Bögen die Flucht aus der Sklaverei der zentralen Gestalt Cora (Thuso Mbedu) und ihres Geliebten Caesar (Aaron Pierre) nach, so wie sie auch bei Whitehead zu finden ist. Erst in der zehnten und letzten Folge löst sich etwa das Geheimnis um die Flucht von Coras Mutter Mabel (Sheila Atim) auf, versteht der Betrachter erst an diesen Stellen Coras somnambules, déjà-vu-artiges Zögern beim Durchschreiten einer Sumpflandschaft am Ende der ersten Folge, werden Geschichten, auch die kleinsten, selbst eine Liebesszene, erzählerisch gebrochen, das synchrone Erzählen aufgegeben, eine Leerstelle eingefügt, um an einer anderen Stelle wieder aufgefüllt bzw. zusammengefügt zu werden, lösen Träume die Realität auf und gibt es auch über die Eisenbahn hinaus dezent eingestreute Momente von magischem Realismus, der in diesem Kontext vor allem eines vermag: das Grauen zu »verzaubern« und damit diese massive Vergangenheitsbewältigung etwas zu erleichtern.
Diese Methoden – den magischen Realismus ausgenommen – erinnern natürlich an Jenkins' ebenfalls in verflochtenen Kapiteln erzähltes Meisterwerk Moonlight (2016), dessen visuelle und auch musikalische Intensität sich in The Underground Railroad wiederfindet, denn sowohl Jenkins Colorist Alex Bickel, sein Kameramann James Laxton als auch Nicholas Britell (Musik) sind wie auch in Jenkins' letztem Film If Beale Street Could Talk (2018) mit an Bord dieser Produktion. Und die Bilder und wieder die Farben, die Laxton und Bickel in kongenialer Zusammenarbeit schaffen, die eingesetzt werden, um dieses qualvolle Coming-of-Age zu illuminieren und zu illustrieren, sind große Kunst.
Etwa Coras Traumbild am Anfang der sechsten Folge, die im Freeze stehenden Pflücker und Pflückerinnen, die durch die sich in wie in Trance bewegende Kamera wirken wie auf Lisa Reihanas Mehrkanal-Videoarbeit In Pursuit of Venus (infected), oder die Farben des rostigen Dachs gegen den orangenen Überwurf von Cora in der achten Folge, mal verblassendes, dann weder aufblitzendes Licht, das alte Fotografien aus der Sklavenzeit genauso zitiert wie die delikate Essenszene im Freien (Folge 9), in der bei der Musik von Debussy alle Beteiligten erstarren und die Kamera ein gewaltiges Gemälde, eine überwältigende Fotografie auslöst.
Allerdings zeigen sich hier genauso wie in den Momenten endloser Gespräche in fast totaler Dunkelheit und ebenso überlangen Momenten, in denen die Kamera im Gegenlicht ihr Personal verliert (das sich dafür selbst findet), dass Jenkins sich dann und wann an seinen eigenen Ansprüchen an farbliche und kompositionelle Symbolik und erzählerische Dichte, Perfektionismus und Pathos überhebt, ist alles das, was bei Moonlight nur eine Minute in Anspruch nahm, in The Underground Railroad fünf Minuten lang und noch länger und dann auch wirklich zu lang: das Grauen genauso wie das Schöne oder das Banale.
Das erinnert vor allem in seinem manischen Perfektionismus an Michael Cimino und Heaven’s Gate, ein Film, der ebenfalls die Grenzen sprengte (und heute wohl eine Serie wäre) und mit dem amerikanischen Traum oder besser dem »American Imperative« eines besseren Menschen in einer besseren Welt abrechnete, in dem die Weißen jedoch unter sich blieben, anders als bei Whitehead und Jenkins, wo der Sklavenjäger Ridgeway (Joel Edgerton) an einer Stelle zu seinem ihm widersprechenden Vater sagt: »If you meant to be free you are free. And if you’re meant to be in chains, then you’re a nigger.«
Vor allem in dieser Person, des Sklavenjägers aus gutem Haus, erweitert Jenkins die Romanvorlage, wird über Ridgeways Vater (Peter Mullan) eine strapaziöse Vater-Sohn-Beziehung hinzugefügt, die zum einen den bis heute gültigen Riss der weißen, amerikanischen Gesellschaft symbolisiert, zum anderen der Person des besessenen Sklavenjägers die Tiefe verleiht, die ihn noch einmal mehr zu dem Captain Ahab aus Melvilles Moby Dick werden lässt, den die Literaturkritikerin Kathryn Schulz im New Yorker nicht nur durch Ridgeways symbiotische Beziehung zu dem 10-jährigen Homer (bei Melville ist es der Schiffsjunge Pip) in ihm gesehen hat.
Auch andere Andeutungen Whiteheads erhalten durch Jenkins' visuelle und erzählerische Wucht neue Akzente. So entdecken Cora und Caesar auf ihrer ersten Etappe im futuristischen South Carolina wie bei Whitehead unter dem Deckmantel eines Racial Uplift vollzogene eugenische Experimente, aber auch eine ironische Doppelmoral und Szenen, wie sie so auch in Jordan Peeles Get Out zu finden sind. Ähnlich doppelbödig inszeniert Jenkins North Carolina, wo ein brutales, segregationistisches und nationalsozialistisches Regime regiert, es Bücherverbrennungen gibt, und Jenkins mit Bildern arbeitet, die Anne Frank und den Holocaust ebenso zitieren wie die Stellen von an Bäumen einer Allee aufgehängten Sklaven, die nicht nur in Whiteheads Roman auftauchen, sondern ihren grausamen Vorläufer im Spartacus-Aufstand haben, den Arthur Koestler in seinem Roman »Die Gladiatoren« beschreibt.
Doch nicht nur in die Vergangenheit führt Jenkins, sondern auch dediziert in die Zukunft, unsere Gegenwart, wenn er über die ernüchternde Darstellung der evangelikalen Gemeinde einen Bogen in die heutige Bible-Belt-Realität zieht.
Auch das Ende erinnert wieder an Heaven’s Gate und Cimino, ist es allerdings nicht eine Wagenburg, auf die geschossen wird, sondern eine Kirche, in der so wie in der Wagenburg eben noch die Vision eines besseren Amerika, eines des Zusammenlebens, eines des Zusammenwachsens und der radikalen Offenheit formuliert wurde, mit deutlichen Anspielungen an Martin Luther Kings Reden.
Das ist nicht nur das Ende eines langen Abschieds, der bis auf die amerikanischen Straßen unserer Gegenwart reicht, auf die über transgenerationale Traumata ewig verfluchte Beziehung zwischen den Two Distant Strangers, die Travon Free und Martin Desmond Roe in ihrem Kurzfilm auf den Punkt bringen.
Es ist auch ein Abschied von den großartigen schauspielerischen Leistungen in Jenkins' Epos, die hier noch einmal zusammenlaufen und kulminieren. Allein dem Gesicht und der Körpersprache der südafrikanischen Darstellerin von Cora, Thuso Mbedu, zu folgen, mal devot, dann wütend, kindlich, dann wieder uralt, aber immer schwer traumatisiert, ist so umwerfend wie dem übrigen Cast zuzuschauen, der so eindrücklichen Darstellerin von Coras Mutter Mabel etwa, der in Uganda geborenen Sheila Atim oder den von Aaron Pierre verkörperten Caesar ein letztes Mal tanzen zu sehen.
Trösten tut da, wie am Ende jeder Folge (und übrigens auch in Steve McQueens ähnlich motivierter Miniserie Small Axe), eigentlich nur die Musik afro-amerikanischer Interpreten, mal ist es Rap, dann wieder Soul oder Gospel, und ganz am Ende, nach der zehnten Folge und gut zehn Stunden Barry Jenkins XXL, ist es Mahalia Jackson, die in How I got over auch von ihrem Leben singt. Und folgt man diesem Leben und denkt etwa an ihren Auftritt mit Martin Luther King, dann lebt die Hoffnung wieder, wenn auch nur für diesen einen, für diesen kurzen Moment.