72. Berlinale 2022
Die beiden Seiten der Rasierklinge |
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Im Garten der Lüste: Un été comme ça | ||
(Foto: © Lou Scamble / Metafilms) |
Von Dunja Bialas
»Wir leben in einer männerfeindlichen Zeit.« So ernüchtert fällt das Fazit eines der Männer aus, die in Ruth Beckermanns Mutzenbacher zum Casting vorsprechen. Die versierte österreichische Dokumentarfilmerin hat sich den erotischen Roman »Josefine Mutzenbacher« vorgenommen, dem sie sich in einer Versuchsanordnung annähert. Geschrieben hat den Skandalroman Felix Salten, auch bekannt für seine »Bambi«-Phantasie. Und da es sich bei den Sex-Abenteuern, die die minderjährige Josefine im Keller ihres Wohnhauses initiiert, zweifelsohne um eine Männerphantasie handelt, die heute so nicht mehr veröffentlicht werden könnte, ist das Vorgehen von Beckermann auch sehr behutsam und sehr vorsichtig, und auch ein klein wenig therapeutisch. Sie lässt die Männer den schlüpfrigen Text verlesen, detailreich in den Erotismen und deftig in seinem anzüglichen Wienerisch. Ob er sich vorstellen könnte, in dem zu drehenden Film auch einen Sexpart zu spielen?, fragt sie einen der Männer. Ja, könnte er. Ein anderer nur, weil er sich der verantwortungsvollen Regisseurin anvertrauen würde. Mutzenbacher ist ein Reigen von unterschiedlichen männlichen Typen, die einen mit dunklen Tränensäcken unter lichten, wasserblauen Augen, andere noch ganz weich im Gesicht, viele wirken vulnerabel, verletzbar, sind getroffen in ihrer Männlichkeit.
Ist das der female gaze auf die Männer, die auf der Besetzungscouch Platz nehmen? Ruth Beckermann gibt ihnen den Raum, eine Innerlichkeit freizugeben, die man nur selten erfährt und noch viel seltener im Kino zu sehen bekommt. Dafür hat sie den Preis für den Besten Film in der immer noch neuen Reihe »Encounters« gewonnen. Ein wenig therapeutisch ist das, wirkt aber auch sehr ehrlich und nicht didaktisch. Divers ist das aber nicht, wie N. anmerkt, homosexuelle Fantasien haben in diesem Cis-Reigen keinen Platz – könnten aber vielleicht auch mit der extremen Heterofantasie von Mutzenbacher / Salten nur wenig anfangen.
Denis Côté, der im Wettbewerb in Un été comme ça wiederum provozierend frei einen Film über die weibliche Sexualität gemacht hat, würde jetzt sagen: Who cares? Ihm wurde vereinzelt ein male gaze zugeschrieben, mit dem er auf junge sexsüchtige Frauen in einem Retreat während des kanadischen Winters blickt. Hier geht es ausdrücklich um Anti-Therapie. Weder sollen die Sexbesessenen geheilt noch bestraft werden. Es geht um einen geschützten Raum, in dem außer Sex mit anderen alles erlaubt ist: Champagnertrinken, Bootfahren, Tanzen, Reiten, alles könnten Aphrodisiaken sein für eine erfüllte Sexualität, die aber ins Leere fährt, denn man sieht die Frauen immer wieder – manchmal auch ein wenig verzweifelt – masturbieren.
Dass dies kein schlüpfriger »Schulmädchen in Uniform« geworden ist, verdankt sich aber der Grundperspektive: Wir sehen hier insgesamt die Fantasien von jungen Frauen, die eine Sexologin zum Drehbuch beigesteuert hat. Vor allem aber die behutsame Kadrierung des 35mm-Materials, dessen Filmkorn mit den Hautporen in vielen extremen Close-ups zur Kernschmelze geführt werden, nimmt dem Film jeglichen vulgären Anstrich, den er als Potential natürlich auch in sich trägt – als trashiges Retreat à la »Love Island«. Dann wieder hält die Kamera von François Messier-Rheault Abstand, kommt den Frauen nicht zu nahe, lässt sie bei sich. Montiert hat Dounia Sichov, die unter anderem auch Damien Manivels Tanzfilm Les enfants d’Isadora geschnitten und schon oft mit Côté gearbeitet hat. Sie weiß, dass es Zeit braucht, damit die Körper sich im Raum entfalten können. Der Film nimmt sich Zeit für die Szenen. In einer Bondage-Szene – die Frauen haben 24 Stunden Freigang, während dem sie ihre Fantasien wieder körperlich ausleben – darf der Fesseler das Seil noch um den kleinen Zeh führen, bevor die Frau als Körperkunstwerk in der Luft schwebt.
Dass Côté hier nicht ausrutscht, und weder paternalistisch noch voyeuristisch von der Triebgetriebenheit weiblicher Sexualität erzählt, hat wohl auch damit zu tun, dass die Frauen bis auf eine Backstory Wound, die von einer Kindheit unter Missbrauch erzählt, das Objektschema umdrehen und ihre Sexualität ganz und gar aktiv ausagieren. Die Schauspielerinnen – unter anderem Anne Ratte Polle als Leiterin des Retreats – wirken teilweise verträumt, ja, aber auch sehr aufrecht in ihrem Verlangen, und Côté vermeidet auch tunlichst alle Plotdramatisierungen, die sich durchaus anbieten. So wird weder der Freigang der Frauen zur Katastrophe noch lässt sich die einzige männliche Figur, der Sozialarbeiter Samir, von den übersexualisierten Frauen provozieren. Un été comme ça ist ein heute eigentlich unmöglicher Film, bei dem aber vor allem auch das warme Licht seiner Aufnahmen nachwirkt.
Viele Frauen hätten einen male gaze, ohne dass das so genannt wurde, meint Denis Côté am Rande seiner Filmvorführung. Eine von ihnen könnte Claire Denis sein, die mit Avec amour et acharnement den Silbernen Bären für die Beste Regie gewann. Juliette Binoche darf hier zum dritten Mal nach Un beau soleil intérieur (2017) und High Life (2018) ihre körperliche Lust ausspielen. Während aber der utopische Weltraumfilm noch eine Entfesselungsphantasie war, die ihresgleichen sucht, und Un beau soleil intérieur als »Drehbuchvorlage« Roland Barthes' philosophische »Fragments d’un discours amoureux« hatte und mit viel Humor und Selbstironie garniert war, nimmt sich Avec armour et acharnement doch deutlich ernst. Co-Autorin des Drehbuchs ist Christine Angot, die ihren eigenen Roman »Un tournant dans la vie« (2018) adaptiert hat. Der Film handelt von einer erwachsenen Frau, die ihren Verflossenen wiedersieht und um die es von da an geschehen ist. Im Roman heißt das so: »Ich überquerte die Straße ... Vincent ging auf dem Bürgersteig gegenüber vorbei. Ich blieb in der Mitte der Kreuzung stehen. Ich stand da wie erstarrt. Mit klopfendem Herzen. Ich beobachtete seinen Rücken, der sich entfernte. Breiter Oberkörper, schmale Hüften, er hatte eine beeindruckende Statur. Ich hätte rennen und ihn einholen können. Er bog um die Ecke. Ich blieb mit angezogenen Beinen stehen. Die Augen starrten auf die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Ich zitterte. Ich konnte nicht mehr atmen.«
Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, wenn Frauen unvermutet wieder zu kopflosen Teenagern werden, noch dazu, wenn sie von Juliette Binoche gespielt werden, der das ausgesprochen gut steht. Das hatte sie schon in Safy Nebbous Celle que vous croyez unter Beweis gestellt. Forciert wirkt es trotzdem, zumal wenn ihr Partner Jean soeben aus einem längeren Gefängnisaufenthalt zurück in ihr Leben gekommen ist – er war unerreichbar, nicht der andere, François. Gut, aber Plausiblität kann kein Kritierium sein, wenn es um Filme geht. Das Problem ist eher das Drehbuch, auch, dass Binoche so schwach sein muss in diesem Film, neben dem starken und zärtlichen – und auch besser erzählten – Vincent Lindon, um den sich eine Parallelhandlung spinnt, die mit der Binoche-Sphäre kaum Berührungspunkte findet. Hier kommt eher der Denis-Plot zum Tragen, denn Lindon hat aus einer früheren Beziehung einen halbwüchsigen Sohn, der als Farbiger mit Identitätsproblemen zu kämpfen hat, weil er ohne Mutter bei der Oma (Bulle Ogier) aufgewachsen ist. Lindons Figur gibt ihm beeindruckenden Halt. Er ist der sich sorgende Vater, der fürsorgliche Vater gar, er übernimmt den Care Part. Mit seinem Körper, der sich seit Titane auf wunderbare Weise zu einem Zwischenzustand von Verletzung und Stärke transformiert hat, verankert er den Film mit großer Ruhe und Selbstgewissheit. Während Binoche sich wiederum auf der leichtgewichtigen Seite des Films (der internationale Titel heißt so auch: Both Sides Of The Blade) mit dem jüngeren Ex-Geliebten (Grégoire Colin) vergnügt, sich dabei aber unsicher ist und alles als ein Spiel ohne Konsequenzen nehmen will. Das ist eine ein bisschen sehr kindliche Auffassung über den Gemütszustand einer erwachsenen Frau, selbst wenn sie sich in einer leidenschaftlichen Liebe »verlieren« mag, die aber bei Denis / Angot eben auch immer das sein soll: Liebe. Und nicht nur Sex, wie bei Côtés sexsüchtigen jungen Damen.
Eine Actor’s Explosion im letzten Drittel des Films aber kann über dieses Ungleichgewicht hinwegtrösten. Als Jean hinter Saras Affäre mit François kommt, entfaltet sich mit voller Wucht eine Streitszene, die in ihrer Verve an Who’s Afraid of Virginia Woolf? (1966) mit Elizabeth Taylor und Richard Burton zu erinnern vermag. Binoche und Lindon sind wie sie ein Traum-Leinwandpaar, das viele Gegensätze ausspielen kann: das Weibliche und das Männliche, das Mädchenhafte und das Männergroße, das Egoistische und das Verletzbare. Quer über die Gender-Grenzen hinweg. Mit einem anderen Drehbuch hätte das einer der besten Filme der Berlinale werden können.