Kein Ausweg, nirgends |
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Halten wir uns fest, bevor es zu spät ist: Atlantis | ||
(Foto: Walentyn Wassjanowytsch) |
Von Dunja Bialas
Der Schuster näht das Leder per Hand auf die Sohle, nagelt den Absatz fest. Wir sind in der Werkstätte des Theaters von Mariupol, es wird ein Stück zum Jahrestag des Sieges am 9. Mai einstudiert. Wenn sich die jungen Tänzerinnen mit hohem Dutt und die gestandenen Männer mit den breiten Schultern an den Händen fassen und ein einmütiger Tanz anhebt, unter dem die Bühnenbretter vibrieren: dann ist man auf unmittelbare Weise angefasst. Die großen Augen der Mädchen, die unsicher in die Kamera blicken, sie gibt es so nicht mehr in Mariupol. Dann Bauern auf dem Acker und Fischer im Asowschen Meer, Kühe im Stall, das einfache Leben. Dann aber auch: Eine Reporterin, die von bewaffneten Kämpfen in den Straßen der Hafenstadt berichtet. Schließlich: Eine zerbombte Bäckerei.
Das sind Impressionen aus einer umkämpften Stadt, die der preisgekrönte litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius für seinen Dokumentarfilm Mariupolis zusammengetragen hat. Bereits 2016 wurde der Film auf der Berlinale uraufgeführt, Kvedaravicius wurde mit ihm auf dem Internationalen Filmfestival Vilnius als »Bester Dokumentarfilmregisseur« ausgezeichnet. Jetzt hat das Festival in einem solidarischen Sonderprogramm den Film noch einmal hervorgeholt: #StayWithUkraine zeigt fünf internationale Produktionen, die vor Augen führten, dass die Menschen in der Ost-Ukraine schon seit Jahren im Krieg und mit dem Krieg leben.
Vielleicht ist es der vermeintlichen, coronabedingten Atempause in der Weltpolitik geschuldet, dass man – zumindest in Westeuropa unter den nicht qua Beruf politisch Versierten – vergessen hat, dass in Mariupol seit 2014 Krieg herrscht. Kein Angriffskrieg der Übermacht Russlands gegen die Ukraine wie heute, sondern ein perfider Regional-Kampf zwischen prorussischen Volksmilizen und ukrainischen Kräften; bereits im Sommer vor acht Jahren kämpften sie um Mariupol. Im Januar 2015 kam es zu einem Raketenangriff durch die Milizen, daraufhin eine Gegenoffensive durch die ultranationalistischen ukrainischen Paramilitärs »Regiment Asow«, ein Freiwilligenbataillon, das vorgibt, vom ukrainischen Geheimdienst unterstützt zu werden.
Kvedaravicius arbeitet in seinem unaufgeregten, dabei sehr ergreifenden Dokumentarfilm mit beobachtender Teilnahme den zerissenen Zustand dieser umkämpften Stadt heraus. Die Paramilitärs – die Putin den Vorwand der »Entnazifizierung« gegeben haben mögen – dominieren in Kampfmontur die großen Einfallsstraßen der Stadt, verschanzen sich in der Bibliothek hinter Kühlschränken, laden Munition nach, während von der Straße Kampfhandlungen zu hören sind. Zur gleichen Zeit sorgen sich die Bewohner um den sozialen Zusammenhalt der Stadt, um die Kanarienvögel, um die Tiere im Zoo, um ein aufgelassenes Jugendzentrum, das keine Sozialarbeit mehr anbieten kann. Ein Paar feiert Hochzeit. Dann eine Autofahrt durch ein zerstörtes Wohngebiet. Noch hängen Satellitenschüsseln in den zerfledderten Balkonen, die kaputten Fensterläden quietschen im Wind, wie in einer Geisterstadt. Willkommen im Wilden Osten. Im Hintergrund sieht man blau das Meer glitzern. Unauffällig macht sich Wehmut breit. Das letzte Bild des Films gehört Raketeneinschlägen.
Mariupolis ist ein impressionistisch-poetisches Portrait, für das Dounia Sichov eine intuitive Montage geschaffen hat. Die internationale Editorin und Schauspielerin hat zuletzt Denis Côtés Un été comme ça (Berlinale 2022) und Damien Manivels Isadoras Kinder (2019) montiert, der Wechsel und die Balance zwischen den Szenen, in diesem zerissenen Leben gelingt ihr auf ergreifende Weise.
Härter, obgleich fiktional, wird es mit Atlantis (2019). Der post-apokalyptische Science-Fiction-Film des Ukrainers Walentyn Wassjanowytsch spielt in einer nahen Zukunft, 2025, »ein Jahr nach Beendigung des ukrainisch-russischen Kriegs«, wie es im Vorspann heißt. Atlantis, die untergegangene Insel, ist hier die reale ATO-Zone (Anti-Terrorist-Operation-Zone) im östlichen Donbass, die im Film wegen Wassermangels zur menschenleeren toxischen Gegend mutiert ist. Alles mutet postindustriell an: die Hochöfen, die schwer schuftenden Arbeiter, die alten Fabrikgelände mit den verrosteten Maschinen. Auch das hat einen realen Ankerpunkt: Der Donbass war einmal wegen des Kohleabbaus die reichste Region der Ukraine, heute sind die Minen weitgehend stillgelegt und werden geflutet, was giftige Substanzen ausschwemmt. Der Donbass, berichtet Anfang Februar 2022 der »Deutschlandfunk«, könnte deswegen in Zukunft tatsächlich unbewohnbar werden.
Die ebenfalls reale, humanitäre Organisation »Black Tulip« sucht auch in Atlantis nach im Krieg Vermissten, birgt Leichen, obduziert und identifiziert sie. Eine lange, schwer auszuhaltenden Szene schält einen verknöcherten Leichnam aus seinen Kleidern. Die präzise gesetzte Kamera geht unangenehm unter die Haut: Regisseur Walentyn Wassjanowytsch hatte bereits als Kameramann für Myroslaw Slaboschpyzkyjs The Tribe (2014) gearbeitet und knüpft an dessen atmosphärische, langsame Genreerzählung und die düstere Tonlage an. Die Zukunft liegt hier ganz nahe an dem Heute. »Let’s celebrate the new future«, sagt der amerikanische Investor vom Multimediabildschirm zu den ukrainischen Arbeitern und verspricht ihnen neue Technologien. »Was für neue Technologien?«, fragen die Arbeiter, »hier wird keiner investieren.«
Wie Kinder in der Nähe von Mariupol mit dem Krieg aufwachsen, zeigt der Dokumentarfilm A Distant Barking of Dogs (2017) des dänischen Regisseurs Simon Lereng Wilmont. Im Schulunterricht benennen sie unterschiedliche Granaten, in der Freizeit schießen sie mit Steinschleudern auf Glasflaschen und finden abgeschossene Patronenhülsen auf der Wiese. Am Horizont ist der Frontverlauf zu sehen. Oleg wächst bei seiner Oma Alexandra auf, seine Mutter wurde im Krieg getötet. Aus dem Wiegenlied, das die Oma für den nicht mehr ganz so jungen Enkel singt, geht unvermittelt ein Erinnerungsbild hervor. Häuser-Skelette im Nebel, deren verkohlte Dachstühle gespenstisch herausragen. Alexandra erzählt aus dem Off, wie der Nachbar von einer Granate getötet wurde, als er gerade beim Abendessen war. Als sie ein unheilvolles Grollen in der Ferne hören, diskutieren die Kinder, ob das Schüsse sind oder Donner, reden über Blut und getötete Menschen: Der Krieg gehört zu ihrem ganz normalen Leben. Sechs Jahre hat Simon Lereng Wilmont zwischen Dänemark und dem ukrainischen Kriegsgebiet verbracht, dieses Jahr hat er in Sundance einen weiteren Film der Öffentlichkeit vorgestellt, der in drei Wochen auch auf dem Schweizer Festival Visions du Réel in Nyon zu sehen sein wird: Für A House of Splinters filmte er im Norden der Oblast Luhansk Kinder, die im Krieg ihre Eltern verloren haben. Kinder, die ultimativ Leidtragenden des Krieges.
Es ist erschütternd, diese drei Filme in geballter Form zu sehen. Aber ein Gefühl von Verstehen und Erkenntnis keimt auf. Der russisch-ukrainische Konflikt wirkt schon lange als Krieg in der Region. Es geht um Identitäten und Nationalitäten, um Extremisten und Separatisten, um Armut und Überleben und um einen erbitterten Streit, der sich tief in die schwarze Erde eingegraben hat. Die Region dient sowohl Russland als auch der Ukraine vor allem als politischer Puffer, vielleicht sogar als Geisel entgegengesetzter und sich widersprechender politischer und nationaler Kräfte.
Der vor kurzem aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossene Sergei Loznitsa sieht gegenüber dem britischen »Guardian« in ebendiesem Nationaldenken das grundlegende Problem des Konflikts. »Nicht eine zivile Haltung, nicht der Wunsch, alle vernünftigen und freiheitsliebenden Menschen im Kampf gegen die russischen Aggression zu vereinen«, kann er als Motiv für den Kampf gegen Putin feststellen, auch keine »internationale Anstregnung aller demokratischen Länder, diesen Krieg zu gewinnen – sondern 'nationale Identität'.« Und brandmarkt die »nationale Rhetorik« als »Nazismus«.
Die Kinder, die in und mit diesem Krieg aufwachsen, die Menschen auf der Flucht, die ukrainischen Kombattanten und die russischen Aggressoren bekommen in der Begründungslinie des Nationaldenkens keine neuen Werte zur Hand. Perpetuiert wird nur ein seit über acht Jahren bestehendes Denken. In dieser sich selbst überlassenen Region am östlichen Rand der Ukraine investiert niemand, nicht in wirtschaftliche Unternehmen, nicht in Bildung, nicht in humanitäre Werte. Gekämpft wird um das nationale Prinzip. Was kommt und was bleibt, das sind Waffen. Was geht, das sind die Menschen.
Das Aufklärung verschaffende Programm von #StayWithUkraine des litauischen Festivals zeigt die brisante Wichtigkeit, jetzt den Fokus auf das Filmschaffen zu legen, das den langjährigen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vielschichtig reflektiert. Was dennoch fehlt, sind Lichtblicke, Imaginationen, wie die Region und die Nationen aus ihrer Katatonie herausfinden könnten. Noch nicht einmal die Spielfilme haben hier eine Antwort parat.