31.03.2022

Kein Ausweg, nirgends

Atlantis
Halten wir uns fest, bevor es zu spät ist: Atlantis
(Foto: Walentyn Wassjanowytsch)

Das internationale Filmfestival von Vilnius erzählt in seinem Sonderprogramm #StayWithUkraine vom umkämpften Rand von Europa

Von Dunja Bialas

Der Schuster näht das Leder per Hand auf die Sohle, nagelt den Absatz fest. Wir sind in der Werks­tätte des Theaters von Mariupol, es wird ein Stück zum Jahrestag des Sieges am 9. Mai einstu­diert. Wenn sich die jungen Tänze­rinnen mit hohem Dutt und die gestan­denen Männer mit den breiten Schultern an den Händen fassen und ein einmü­tiger Tanz anhebt, unter dem die Bühnen­bretter vibrieren: dann ist man auf unmit­tel­bare Weise angefasst. Die großen Augen der Mädchen, die unsicher in die Kamera blicken, sie gibt es so nicht mehr in Mariupol. Dann Bauern auf dem Acker und Fischer im Asowschen Meer, Kühe im Stall, das einfache Leben. Dann aber auch: Eine Repor­terin, die von bewaff­neten Kämpfen in den Straßen der Hafen­stadt berichtet. Schließ­lich: Eine zerbombte Bäckerei.

Das sind Impres­sionen aus einer umkämpften Stadt, die der preis­ge­krönte litaui­sche Regisseur Mantas Kvedara­vicius für seinen Doku­men­tar­film Mariu­polis zusam­men­ge­tragen hat. Bereits 2016 wurde der Film auf der Berlinale urauf­ge­führt, Kvedara­vicius wurde mit ihm auf dem Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival Vilnius als »Bester Doku­men­tar­film­re­gis­seur« ausge­zeichnet. Jetzt hat das Festival in einem soli­da­ri­schen Sonder­pro­gramm den Film noch einmal hervor­ge­holt: #StayWi­thU­kraine zeigt fünf inter­na­tio­nale Produk­tionen, die vor Augen führten, dass die Menschen in der Ost-Ukraine schon seit Jahren im Krieg und mit dem Krieg leben.

Krieg und Frieden: Mariu­polis

Viel­leicht ist es der vermeint­li­chen, coro­nabe­dingten Atempause in der Welt­po­litik geschuldet, dass man – zumindest in West­eu­ropa unter den nicht qua Beruf politisch Versierten – vergessen hat, dass in Mariupol seit 2014 Krieg herrscht. Kein Angriffs­krieg der Übermacht Russlands gegen die Ukraine wie heute, sondern ein perfider Regional-Kampf zwischen prorus­si­schen Volks­mi­lizen und ukrai­ni­schen Kräften; bereits im Sommer vor acht Jahren kämpften sie um Mariupol. Im Januar 2015 kam es zu einem Rake­ten­an­griff durch die Milizen, daraufhin eine Gegen­of­fen­sive durch die ultra­na­tio­na­lis­ti­schen ukrai­ni­schen Para­mi­li­tärs »Regiment Asow«, ein Frei­wil­li­gen­ba­taillon, das vorgibt, vom ukrai­ni­schen Geheim­dienst unter­s­tützt zu werden.

Kvedara­vicius arbeitet in seinem unauf­ge­regten, dabei sehr ergrei­fenden Doku­men­tar­film mit beob­ach­tender Teilnahme den zeris­senen Zustand dieser umkämpften Stadt heraus. Die Para­mi­li­tärs – die Putin den Vorwand der »Entna­zi­fi­zie­rung« gegeben haben mögen – domi­nieren in Kampf­montur die großen Einfalls­straßen der Stadt, verschanzen sich in der Biblio­thek hinter Kühl­schränken, laden Munition nach, während von der Straße Kampf­hand­lungen zu hören sind. Zur gleichen Zeit sorgen sich die Bewohner um den sozialen Zusam­men­halt der Stadt, um die Kana­ri­en­vögel, um die Tiere im Zoo, um ein aufge­las­senes Jugend­zen­trum, das keine Sozi­al­ar­beit mehr anbieten kann. Ein Paar feiert Hochzeit. Dann eine Autofahrt durch ein zerstörtes Wohn­ge­biet. Noch hängen Satel­li­ten­schüs­seln in den zerfled­derten Balkonen, die kaputten Fens­ter­läden quiet­schen im Wind, wie in einer Geis­ter­stadt. Will­kommen im Wilden Osten. Im Hinter­grund sieht man blau das Meer glitzern. Unauf­fällig macht sich Wehmut breit. Das letzte Bild des Films gehört Rake­ten­ein­schlägen.

Mariu­polis ist ein impres­sio­nis­tisch-poeti­sches Portrait, für das Dounia Sichov eine intuitive Montage geschaffen hat. Die inter­na­tio­nale Editorin und Schau­spie­lerin hat zuletzt Denis Côtés Un été comme ça (Berlinale 2022) und Damien Manivels Isadoras Kinder (2019) montiert, der Wechsel und die Balance zwischen den Szenen, in diesem zeris­senen Leben gelingt ihr auf ergrei­fende Weise.

Post-Apoka­lypse im Donbass: Atlantis

Härter, obgleich fiktional, wird es mit Atlantis (2019). Der post-apoka­lyp­ti­sche Science-Fiction-Film des Ukrainers Walentyn Wass­ja­no­wytsch spielt in einer nahen Zukunft, 2025, »ein Jahr nach Been­di­gung des ukrai­nisch-russi­schen Kriegs«, wie es im Vorspann heißt. Atlantis, die unter­ge­gan­gene Insel, ist hier die reale ATO-Zone (Anti-Terrorist-Operation-Zone) im östlichen Donbass, die im Film wegen Wasser­man­gels zur menschen­leeren toxischen Gegend mutiert ist. Alles mutet post­in­dus­triell an: die Hochöfen, die schwer schuf­tenden Arbeiter, die alten Fabrik­gelände mit den verros­teten Maschinen. Auch das hat einen realen Anker­punkt: Der Donbass war einmal wegen des Kohle­ab­baus die reichste Region der Ukraine, heute sind die Minen weit­ge­hend still­ge­legt und werden geflutet, was giftige Substanzen ausschwemmt. Der Donbass, berichtet Anfang Februar 2022 der »Deutsch­land­funk«, könnte deswegen in Zukunft tatsäch­lich unbe­wohnbar werden.

Die ebenfalls reale, huma­ni­täre Orga­ni­sa­tion »Black Tulip« sucht auch in Atlantis nach im Krieg Vermissten, birgt Leichen, obduziert und iden­ti­fi­ziert sie. Eine lange, schwer auszu­hal­tenden Szene schält einen verknöcherten Leichnam aus seinen Kleidern. Die präzise gesetzte Kamera geht unan­ge­nehm unter die Haut: Regisseur Walentyn Wass­ja­no­wytsch hatte bereits als Kame­ra­mann für Myroslaw Slabosch­pyz­kyjs The Tribe (2014) gear­beitet und knüpft an dessen atmo­sphäri­sche, langsame Genre­er­zäh­lung und die düstere Tonlage an. Die Zukunft liegt hier ganz nahe an dem Heute. »Let’s celebrate the new future«, sagt der ameri­ka­ni­sche Investor vom Multi­me­dia­bild­schirm zu den ukrai­ni­schen Arbeitern und verspricht ihnen neue Tech­no­lo­gien. »Was für neue Tech­no­lo­gien?«, fragen die Arbeiter, »hier wird keiner inves­tieren.«

Die Kinder des Krieges: A Distant Barking of Dogs

Wie Kinder in der Nähe von Mariupol mit dem Krieg aufwachsen, zeigt der Doku­men­tar­film A Distant Barking of Dogs (2017) des dänischen Regis­seurs Simon Lereng Wilmont. Im Schul­un­ter­richt benennen sie unter­schied­liche Granaten, in der Freizeit schießen sie mit Stein­schleu­dern auf Glas­fla­schen und finden abge­schos­sene Patro­nen­hülsen auf der Wiese. Am Horizont ist der Front­ver­lauf zu sehen. Oleg wächst bei seiner Oma Alexandra auf, seine Mutter wurde im Krieg getötet. Aus dem Wiegen­lied, das die Oma für den nicht mehr ganz so jungen Enkel singt, geht unver­mit­telt ein Erin­ne­rungs­bild hervor. Häuser-Skelette im Nebel, deren verkohlte Dachs­tühle gespens­tisch heraus­ragen. Alexandra erzählt aus dem Off, wie der Nachbar von einer Granate getötet wurde, als er gerade beim Abend­essen war. Als sie ein unheil­volles Grollen in der Ferne hören, disku­tieren die Kinder, ob das Schüsse sind oder Donner, reden über Blut und getötete Menschen: Der Krieg gehört zu ihrem ganz normalen Leben. Sechs Jahre hat Simon Lereng Wilmont zwischen Dänemark und dem ukrai­ni­schen Kriegs­ge­biet verbracht, dieses Jahr hat er in Sundance einen weiteren Film der Öffent­lich­keit vorge­stellt, der in drei Wochen auch auf dem Schweizer Festival Visions du Réel in Nyon zu sehen sein wird: Für A House of Splinters filmte er im Norden der Oblast Luhansk Kinder, die im Krieg ihre Eltern verloren haben. Kinder, die ultimativ Leid­tra­genden des Krieges.

Das Ende der Humanität

Es ist erschüt­ternd, diese drei Filme in geballter Form zu sehen. Aber ein Gefühl von Verstehen und Erkenntnis keimt auf. Der russisch-ukrai­ni­sche Konflikt wirkt schon lange als Krieg in der Region. Es geht um Iden­ti­täten und Natio­na­li­täten, um Extre­misten und Sepa­ra­tisten, um Armut und Überleben und um einen erbit­terten Streit, der sich tief in die schwarze Erde einge­graben hat. Die Region dient sowohl Russland als auch der Ukraine vor allem als poli­ti­scher Puffer, viel­leicht sogar als Geisel entge­gen­ge­setzter und sich wider­spre­chender poli­ti­scher und natio­naler Kräfte.

Der vor kurzem aus der Ukrai­ni­schen Film­aka­demie ausge­schlos­sene Sergei Loznitsa sieht gegenüber dem briti­schen »Guardian« in eben­diesem Natio­nal­denken das grund­le­gende Problem des Konflikts. »Nicht eine zivile Haltung, nicht der Wunsch, alle vernünf­tigen und frei­heits­lie­benden Menschen im Kampf gegen die russi­schen Aggres­sion zu vereinen«, kann er als Motiv für den Kampf gegen Putin fest­stellen, auch keine »inter­na­tio­nale Anst­reg­nung aller demo­kra­ti­schen Länder, diesen Krieg zu gewinnen – sondern 'nationale Identität'.« Und brand­markt die »nationale Rhetorik« als »Nazismus«.

Die Kinder, die in und mit diesem Krieg aufwachsen, die Menschen auf der Flucht, die ukrai­ni­schen Kombat­tanten und die russi­schen Aggres­soren bekommen in der Begrün­dungs­linie des Natio­nal­den­kens keine neuen Werte zur Hand. Perp­etu­iert wird nur ein seit über acht Jahren bestehendes Denken. In dieser sich selbst über­las­senen Region am östlichen Rand der Ukraine inves­tiert niemand, nicht in wirt­schaft­liche Unter­nehmen, nicht in Bildung, nicht in huma­ni­täre Werte. Gekämpft wird um das nationale Prinzip. Was kommt und was bleibt, das sind Waffen. Was geht, das sind die Menschen.

Das Aufklärung verschaf­fende Programm von #StayWi­thU­kraine des litaui­schen Festivals zeigt die brisante Wich­tig­keit, jetzt den Fokus auf das Film­schaffen zu legen, das den lang­jäh­rigen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine viel­schichtig reflek­tiert. Was dennoch fehlt, sind Licht­blicke, Imagi­na­tionen, wie die Region und die Nationen aus ihrer Katatonie heraus­finden könnten. Noch nicht einmal die Spiel­filme haben hier eine Antwort parat.