Diversität im deutschen Film – Part II: Was tun! oder: »Rise of the Cinephiles« |
Von Sedat Aslan
Der Wunsch nach Diversität (bezogen v. a. auf die Repräsentanz von Minderheiten) speist sich nicht nur aus dem Grundgedanken unserer Demokratie und dem aus unserer Verfassung hervorgehenden Menschenbild, sondern – wie im ersten Teil dieses Textes verdeutlicht – daraus, dass Filme unser Weltbild formen, in Diversität ein ungehobenes wirtschaftliches Potenzial liegt und all dies in einer Wechselwirkung mit dem sozialen Frieden steht. Was hindert uns also daran, die Probleme anzugehen und warum dauert es so lange, bis sich was tut?
Auf der Tagung ließ sich ein zentrales Handlungsmuster wohlerprobter bundesdeutscher Denkweisen verschmitzt beobachten: Das Problem existiert nicht, bis es jemand in Zahlen ausgedrückt hat. Jahrzehntelange Erfahrungsberichte betroffener Menschen dringen nicht durch, Zahlen schon. Erst durch sie schafft man eine Argumentationsgrundlage und einen Diskussionsansatz, auch wenn der Befund augenscheinlich ist. Bis dahin scheint der Grundsatz zu gelten: »Why fix it if it ain’t broken?«
In der Novellierung des Filmförderungsgesetzes taucht erstmals die Erweiterung des Aufgabenbereichs der Filmförderanstalt auf, faire Arbeitsbedingungen sowie »Menschen mit Behinderung und Diversität« zu berücksichtigen. So weit, so gut, denn ohne Verordnungen von oben bewegt sich in diesem Lande ja nichts, das ist wie mit Dosenpfand und Mindestlohn. Selbstverpflichtungen werden immer nur als Angebot gesehen. Warum die FFA ihre Aufgabe bis dato rein in der wirtschaftlichen Beobachtung des deutschen Kinos gesehen hat, will um so weniger einleuchten. Sie müsste es als ureigenen Auftrag ansehen, sich soziopolitischen Fragen zu widmen, damit man nicht von Impulsen aus privaten bzw. externen Studien abhängig ist. Die FFA weiß alles über den Kinozuschauer, selbst wieviel Popcorn er durchschnittlich pro Besuch mampft, über die Protagonist*innen im deutschen Film macht sie sich aber keine weiterführenden Gedanken, dabei ist sie die Stelle im deutschen Film, die qua gesetzlichem Auftrag forscht. Mit der Neufassung des FFG müsste sich auch dieses Feld erweitern, und die FFA, ähnlich wie das British Film Institute, ständig den Status Quo der Diversität analytisch betrachten.
Ähnliches gilt für die FFA in ihrer Funktion als Förderinstitution und auch alle anderen Filmförderanstalten: »You shouldn’t need to hope that the commissioner will 'get' that kind of stories«, wie es Melanie Hoyes vom BFI auf den Punkt bringt. Es braucht verbindliche Richtlinien und Checklisten, wie sie bereits die MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein eingeführt hat. Auch hier kann man sich an der Vorarbeit des BFI orientieren. Darüber hinaus sollten die Diversitätsbeauftragten dieser Institutionen eine Geschlechter- und Diversitätsquote der Antragsstellung und -bewilligung erstellen. Nicht nur mich würde brennend interessieren, wie viele Projekte z. B. von Menschen mit Migrationshintergrund in Drehbuch und Regie eingehen, und wie viel davon letztlich gefördert wird. Wie bei den in der sehr empfehlenswerten Umfrage unter Filmschaffenden der Initiativgruppe »Vielfalt im Film« geforderten Maßnahmen wie einer zentralen Antidiskriminierungsstelle, ginge es dabei nicht um Fingerzeige und Regulierungswut, sondern vor allem um Erkenntnisgewinn und Selbstreflexion, und in Folge dessen um eine längst überfällige Umsetzung gesellschaftlicher Prinzipien mit den Mitteln des Rechts.
Konrad Adenauer hat einmal gesagt: Man muss die Dinge so tief sehen, dass sie einfach sind. Memo Jeftic, einer der Protagonisten der Tagung, stellt in seiner aufschlussreichen Dokumentation »Kino Kanak« einen einfachen und zugleich vielsagenden Zusammenhang zwischen der Führungsstruktur des deutschen Films und der mangelnden Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund her: Die wichtigsten Entscheiderpositionen für Filme und Serien lägen bei den deutschen Filmförderanstalten und öffentlich-rechtlichen Sendern. Zusammengezählt seien das etwa 350 Redakteur*innen, Vorstandsmitglieder und Fördermitglieder, von diesen 350 Menschen hätten gerade einmal zehn einen Migrationshintergrund, das sind nicht einmal 3 % – im Gegensatz zu den 26 % innerhalb der Gesamtgesellschaft. Um ein anderes geflügeltes Wort zu verwenden: Der Fisch stinkt vom Kopfe her.
Es ist kein pauschaler Generalverdacht und auch kein Angriff auf die freiheitlichen Errungenschaften dieses Landes, wenn man solcherlei Missstände anspricht. Man kann ebenso niemandem vorwerfen, zugleich kompetent und ohne Migrationsgeschichte zu sein. Dr. Özkan Ezli schreibt: »Es ist unumgänglich, statt Diskriminierungen aufgrund von Sensibilitäten auszuschließen, sie vielmehr sichtbar zu machen, ihren Mechanismus darzustellen« – diese Diskriminierungen und systemischen Ungleichstellungen müssen von allen gemeinsam angegangen werden, Betroffenen wie Nicht-Betroffenen. Mehr noch: hier kann es eine solche Unterscheidung nicht geben.
Wenn wir unter Freunden und Bekannten über Geschlechtergerechtigkeit sprechen, kristallisiert sich schnell immer derselbe Punkt heraus: Männer müssen schon alleine aus purem Eigennutz Feministen sein. Die Befreiung der Frau ist auch die Befreiung des Mannes – ob aus pragmatischer, politischer oder philosophischer Sicht. Dasselbe lässt sich über Diversität sagen. Anders formuliert: Unsere Probleme sind eure Probleme. Im Prinzip müssen wir der Mehrheitsgesellschaft helfen und Aufbauarbeit leisten. Denn möchten sie wirklich in einem Land leben, wo es eine verfassungsrechtlich zugesicherte Gleichstellung de facto nicht gibt? Möchten sie, dass künstlerisch begabte Menschen in die Heimat ihrer Eltern auswandern, weil sie hier nicht weiterkommen? Möchten sie, dass der deutsche Film weiterhin immer die gleichen Geschichten erzählt?
Das Bild des »alten weißen Mannes« finde ich in der Diskussion nicht hilfreich, weil es dasselbe macht, was man kritisiert, nämlich jemanden auszugrenzen für etwas, für das er nichts kann, nämlich Alter, Geschlecht und Hautfarbe. Selbst, wenn das nur bildlich für ein bestimmtes Prinzip westlicher Klassen- und Herrschaftsstrukturen steht, steckt dahinter ein tribalistisches Framing, dem man sich nicht unterwerfen sollte. Schwarze, Weiße und alles dazwischen müssen in dieser Frage zusammenarbeiten, Leute in Entscheiderpositionen müssen verstehen, dass von einer solchen Strukturreform die größten Erneuerungskräfte fürs deutsche Kino seit Oberhausen ausgehen könnten. Sie müssen zunächst einmal den fälschlicherweise angenommenen Normalzuschauer aus ihrem Denken verdrängen und es daraufhin als ihre Verantwortung begreifen, diverse Menschen zu ermächtigen. Diese wiederum würden ganz andere Narrative ermöglichen, neue Menschen in das System holen. Damit ermächtigten sie die Mehrheitsgesellschaft und das deutsche Kino gleich mit.
Denn durch diverse Geschichten wird ein Gegenspiegel geschaffen, mittels dessen man nicht nur die immergleichen Befindlichkeiten sieht, sondern die eigene Position in konstruktiver Weise hinterfragen und zu einem erweiterten Selbstverständnis kommen kann. Seherfahrungen verschieben sich, damit einhergehend auch der Anspruch des Zuschauers. Die verschiedenen Ansätze würden Teil eines vielschichtigen Narrativs, das in Bewegung geraten und sich dabei stärker ausdifferenzieren würde als bisher. Wir alle würden voneinander lernen, ohne uns ständig gegenseitig auszugrenzen, weil sich Stereotypen nicht mehr so leicht manifestieren könnten und es somit selbstverständlich werden würde, dass eine weiße Frau mit der notwendigen Kompetenz von einem schwarzen Mann erzählen kann und umgekehrt. Positiver Nebeneffekt wäre ein größerer internationaler Appeal, der den nie ganz verwirklichten Traum einer internationalen Strahlwirkung des deutschen Kinos einlösen könnte, denn diverse Geschichten haben im Kern immer auch einen universellen Anspruch, wie es in der Tagung deutlich wurde und es uns die Streaming-Dienste zur Genüge vormachen.
Braucht es tatsächlich Diversitätsverpflichtungen und -studien, um das zu begreifen? Ist Gleichstellung ohne Quote überhaupt zu erreichen? Und ab wann hört man eigentlich endlich auf, Mensch mit Migrationshintergrund zu sein? Das Thema muss weiter in der Diskussion bleiben, ob auf solchen Veranstaltungen oder in Arbeitskreisen, und da bleibt zu hoffen, dass das Filmfest München in Person von Julia Weigl und Christoph Gröner weiter vorangeht. Irgendwann sprechen wir dann hoffentlich auch über den Elefanten im Raum: Ist das Thema Diversität tatsächlich nur auf bestimmte, v. a. äußerliche Merkmale bezogen? Oder sollte uns allen nicht mindestens genauso stark daran gelegen sein, dass es eine größere Vielfalt in Form und Inhalt gibt?
Ja, die Ermächtigung diverser Menschen fördert auch vielfältige Stoffe, Themen und ästhetische Zugänge, wie oben bereits angedeutet. Dennoch darf man hier nicht nur von dieser Flanke aus das System zu erschüttern versuchen, auf dass es sich in diesem Prozess erneuert und reif für die Zukunft zeigt. Das Oberhausener Manifest war eine cinephile Bewegung, die die öffentliche Filmfinanzierung erst ermöglicht hat, zur Unterstützung des filmischen Nachwuchses und zum Schutze des Kulturgutes Film. Bei der Geldervergabe finden heute aber spekulative politische und wirtschaftliche Kriterien wie der stets geforderte, oft schöngerechnete »Regionaleffekt« eine viel größere Beachtung als künstlerische Kriterien – auch deswegen erzählt der deutsche Film die immergleichen Geschichten.
Soviel diverse Menschen kann man gar nicht hinter die Kamera lassen, als dass sich das in naher Zukunft ändern würde, und natürlich gibt es auch genug Menschen, die nicht divers gelesen werden, aber gerne mal einen Genre- oder Experimentalfilm machen möchten, eine ergebnisoffene Langzeitdokumentation, ein Musical, einen Body-Horror-Thriller. Diese Künstler*innen rennen gegen verschlossene Türen aus Unverständnis und widmen sich irgendwann notgedrungen der Flut an Fernsehkrimis und -schnulzen, weil viele der Entscheider*innen keinen cinephilen Hintergrund haben und die bundesdurchschnittlichen zwei Male im Jahr ins Kino gehen, um sich die gerade angesagte deutsche Komödie sowie den neuen Bond anzusehen. Wie viele Jurist*innen letztendlich die Geschicke des deutschen Films bestimmen, ist bezeichnend und ein Bogenschlag zu der eingangs angesprochenen Verordnungs- und Zahlenmentalität.
Müssen in den Fördergremien überhaupt Politiker und Sender-Vertreter sitzen – oder kann man die Kompetenz, wie es das BKM vormacht, nicht in die Hände von Menschen legen, die einen cinephilen Hintergrund haben? Stattdessen sitzen die einzahlenden Träger, etwa die Rundfunkanstalten beim FFF Bayern, mit jeweils einer Stimme im Vergabeausschuss, und verteilen ihre eigenen Gelder, die noch dazu größtenteils aus der öffentlichen Hand stammen, selber weiter. Auch das erscheint doch wie ein Fehler im System, wie falsche Prioritäten. Nichts gegen Jurist*innen, aber wie soll ein studierter Jurist besser beurteilen können, was gut und recht fürs deutsche Kino ist, als ein Filmkritiker, Filmwissenschaftler oder Mitglied eines Regie-, Drehbuch- oder Cinephilie-Verbandes? Sich einen Film und dessen ästhetische Erfahrung alleine aufgrund eines Treatments bildlich vorstellen können? Filmhistorische Bezüge und Anspielungen erkennen? Aktuelle Entwicklungen des jeweiligen Genres mitberücksichtigen? Gerade in einem Land, in der die filmische Bildung meilenweit hinter der des Nachbarlandes Frankreich hinterherhinkt, in der Film und Medienkompetenz auch im 21. Jahrhundert nicht flächendeckend auf den Lehrplänen stehen, in der das Kino sowohl vom Fördervolumen als auch dem staatlichen Schutz immer noch nicht gleichberechtigt neben der Hochkultur wie Literatur und Theater steht, ist das wohl zuviel verlangt.
Das Gegenteil von Diversität ist nicht Rassismus, sondern Gleichförmigkeit. Das ist nicht nur morphologisch ein kleiner Schritt zur Gleichgültigkeit, was man sowohl in der Diskussionskultur der Gremien als auch am Publikumsinteresse ablesen kann. Diversität ist auch, aber nicht nur ein schwarzes Gesicht gleichberechtigt neben einem weißen. Es geht um Mut, Aufregung, Spannung, Irritationen, Innovationen, Vielfalt, Kompetenz. Alles Attribute, die einem nicht als erstes
einfallen, wenn es um den deutschen Film geht.
Gleichförmigkeit ist langweilig – sie hat aber auch eine bedrohliche Qualität, weil sie einen normativen Effekt haben kann. Jenseits aller berechtigter Fragen der Chancengleichheit muss also klar sein, dass die Diversitäts-Medaille noch eine andere, viel tiefer greifende Seite hat, die eine noch größere Anstrengung und Aufbauarbeit erfordert.
Go back for »Part I: Wo wir sind« in der letzten Ausgabe!
Disclaimer: Unser Autor arbeitet ab dem 11. April befristet fürs Filmfest München.